Die Lebenden und die Toten
Die Transplantationsmedizin beginnt sich von der "Tote-Spender-Regel" zu verabschieden
Linus S. Geisler
Die
"Tote-Spender-Regel" (Dead Donor Rule), die seit rund 40 Jahren in der
Transplantationsmedizin akzeptiert ist, formuliert zwei ethische
Normen, die die Praxis der Organentnahme betreffen: Lebenswichtige
Organe dürfen nur von toten Patienten entnommen werden; lebende
Patienten dürfen nicht für oder durch eine Organentnahme getötet
werden. Derzeit gibt es Bestrebungen, das Konzept des Hirntodes oder
des Herztodes auszuhöhlen und die Entnahme lebenswichtiger Organe zur
Organspende bereits bei Lebenden zu legitimieren. Linus S. Geisler
warnt vor einem fundamentalen Tabubruch.
Eine alltägliche Szene in der
Transplantationsmedizin: Ein junger Mann, äußerlich unverletzt, liegt
auf einer Intensivstation und ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen.
Er scheint zu schlafen. Sein Herz schlägt, sein Kreislauf ist stabil,
seine Nieren funktionieren, ebenso sein Stoffwechsel; gelegentlich
macht er, wenn man ihn berührt, bestimmte Bewegungen: Er hebt beide
Arme, als wolle er jemanden umarmen (so genanntes Lazarus-Zeichen).
Eigentlich sieht er gesünder aus als manche Mitpatienten auf der
Intensivstation.
Es könnte sich ebenso um
eine junge schwangere Frau handeln. Nicht nur theoretisch, sondern auch
praktisch wäre es möglich, sie so lange auf der Intensivstation zu
versorgen, bis man sie durch einen Kaiserschnitt von einem gesunden
Kind entbindet: Eine Tote, die in der Lage ist, einem Kind das Leben zu
schenken. Solche erfolgreichen Verläufe bei schwangeren hirntoten
Frauen sind in der Literatur mehrfach beschrieben worden.
Aber die junge Frau oder der
junge Mann gelten, entgegen allem Anschein, nicht als Lebende, sondern
als Tote. Sie wurden für tot erklärt, weil bei ihnen der Hirntod
diagnostiziert wurde. Die klassischen Zeichen des Todes, wie sie seit
Menschengedenken bekannt sind, lassen sich aber bei ihnen nicht
feststellen: Blässe, Kälte, Körperstarre und Bewegungslosigkeit.
Hirntote sind Menschen, bei
denen 97 Prozent ihres Körpers leben, nur drei Prozent – ihr Gehirn –
ist tot, "hirntot". Hirntot bedeutet, ihr Gehirn ist irreversibel so
schwer geschädigt, dass sie ohne intensivmedizinische Maßnahmen, wie
zum Beispiel künstliche Beatmung, in kurzer Zeit sterben würden. Nach
den Kriterien einer 1968 in Harvard tagenden Ethik-Kommission
(Harvard-Commission) sind sie als Tote anzusehen und können als solche
behandelt werden: Lebenserhaltende Maßnahmen dürfen beendet, vor allem
aber können ihre Organe für Transplantationszwecke entnommen werden.
Behandelt man Hirntote über
längere Zeit, Tage bis Wochen, so lassen sich einige von ihnen mit
relativ geringem intensivmedizinischen Aufwand in einem stabilen
Zustand halten. Herz-Kreislauf, Nieren, Verdauung und Stoffwechsel
funktionieren. Sie lassen nicht die geringsten Zeichen einer Verwesung
erkennen. Der amerikanische Neurologe Alan Shewmon hat 57 derartige
gesichtete Fälle von "chronischem Hirntod" beschrieben.
Für die meisten Angehörigen
sind Hirntote nicht tot, sondern noch am Leben. Die Aussage der
Mediziner, es handle sich nur scheinbar um Lebende, in Wirklichkeit
seien es Tote ("Scheinlebende"), widerspricht zutiefst jeder
herkömmlichen Vorstellung vom Tod. Dieser massive Verstoß gegen die
menschliche Intuition ist eine der wesentlichen Ursachen für Zweifel an
der Rechtmäßigkeit der Organentnahme bei hirntoten Menschen.
Seit rund 40 Jahren wird die
"Tote-Spender-Regel" praktisch weltweit von der Transplantationsmedizin
akzeptiert, auch wenn es eine Vielzahl unterschiedlicher diagnostischer
Hirntodkriterien gibt. Die "Tote-Spender-Regel" hat es ermöglicht, dass
zehntausende Menschen ihr Weiterleben lebenswichtigen, von Hirntoten
entnommenen Organen wie Herz, Leber oder Lungen zu verdanken haben.
Aber das Hirntodkonzept ist
von Anfang an weder von der Allgemeinheit noch von der Gesamtheit der
Wissenschaft widerspruchslos akzeptiert worden. Zahlreiche Ärzte,
Philosophen, Ethiker, Theologen und Laien führen eine uferlose Debatte
über die Frage, ob Hirntote wirklich tot sind. Ob ihr Tod nicht nur
eine manipulative Vereinbarung der Transplantationsmedizin darstellt,
um ihr das Handwerk zu erleichtern und welche konkreten Auswirkungen
diese Zweifel für die Praxis der Organspende haben müssten.
Das Hirntodkonzept begleitet
wie ein düsterer Schatten die Transplantationsmedizin, ein Schatten,
den sie liebend gern loswerden möchte, aber nicht loswerden kann. Sie
ist sich bewusst, dass jede Diskussion über den Hirntod in der Aporie
enden und zwangsläufig unlösbar sein muss.
Wegen der Schwierigkeit, das
Hirntodkonzept allgemein zu vermitteln, aber auch, um das
Organaufkommen zu erhöhen, beschreitet die Transplantationsmedizin seit
einer Reihe von Jahren den Weg der Organentnahme bei Spendern, bei
denen der "Herztod" festgestellt wurde, ohne dass zuvor der Hirntod
nachgewiesen werden musste. Diese "Herztoten" werden als
Non-Heart-Beating-Donors (NHBD) bezeichnet.
Die Herztoten
Beim so genannten Herztod
kann bereits zwei bis zehn Minuten nach dem festgestellten
Herzstillstand mit der Organentnahme begonnen werden. Der
Herzstillstand wird klinisch und/oder nach zehn Minuten durch ein
Nulllinien-EKG (nicht Nulllinien-EEG) festgestellt. Nach dem so
genannten Maastricht Protokoll von 1995 können "Organspender ohne
schlagende Herzen" in folgende fünf Kategorien eingeteilt werden:
- Herzstillstand bei Ankunft in der Klinik
- Organspender nach erfolgloser Reanimation
- Organspender, bei denen der Herzstillstand nach Unterbrechung lebenserhaltender Maßnahmen erwartet wird
- Herzstillstand beim Hirnstamm-Tod sowie
- Herzstillstand bei einem stationären Patienten.
Konkret kann es sich also um
Menschen im Koma, Schlaganfall- und Herzinfarktpatienten oder
Unfallopfer handeln. Es kommen aber auch Schwerkranke, deren Tod nicht
unmittelbar bevorsteht, infrage, wenn sie ihre Lebensqualität als nicht
mehr akzeptabel empfinden. Voraussetzung ist dann eine gültige
Zustimmung der Betroffenen oder ihrer Angehörigen zum Verzicht auf
lebenserhaltende Maßnahmen. Liegt diese vor, kann der Herzstillstand
provoziert werden.
Dieses Vorgehen gilt nicht
für Deutschland, da nach dem deutschen Transplantationsgesetz Organe
nur entnommen werden dürfen, wenn der Hirntod eindeutig festgestellt
wurde oder seit dem Herzstillstand mindestens drei Stunden vergangen
sind.
In vielen anderen Ländern
aber wie in den USA, in Österreich, der Schweiz, den Niederlanden,
Spanien oder Belgien wird die Organentnahme bei herztoten Spendern
bereits seit Jahren routinemäßig praktiziert. So stammen in den USA
acht Prozent der Organspenden von herztoten Spendern, in der Schweiz
sind es elf Prozent.
Man hat, um ein größeres
Organaufkommen zu erzielen, immer wieder versucht, die Latenzzeit
zwischen Herzstillstand und Organentnahme weiter zu verkürzen. Es gibt
Versuche, diese Zeit auf 60 Sekunden zu reduzieren, mit dem (klinisch
widerlegbaren) Argument, dass ein seit 60 Sekunden stillstehendes Herz
in der Regel spontan nicht wieder zu schlagen beginnt, sondern
allenfalls durch Wiederbelebungsmaßnahmen wieder zum Schlagen gebracht
werden kann.
Als Voraussetzung zur
Entnahme lebenswichtiger Organe bei Herztoten gilt, dass der
Herzstillstand "irreversibel" ist. Aber der Widerspruch, den dieses
Postulat enthält, liegt auf der Hand: Ziel ist es ja gerade, ein
"irreversibel" nicht mehr schlagendes Herz einem anderen Menschen mit
dem Ziel einzupflanzen, dass es in dessen Körper wieder einwandfrei
funktioniert, was tatsächlich in vielen Fällen gelingt.
Der begriffliche Ausweg, den
man versucht hat, liegt in einem manipulativen Umgang mit dem Begriff
der Irreversibilität. "Irreversibel" soll sich nur auf die Situation
des sich noch im Körper des Spenders befindlichen Herzens beziehen
jedoch nicht mehr für das verpflanzte Organ gelten. Hier wird also mit
einer sozusagen "reversiblen Irreversibilität" operiert. Ferner hat man
versucht, Irreversibilität bereits dann anzunehmen, wenn ein Herz
stillsteht und beschlossen wurde, keine Wiederbelebungsmaßnahmen mehr
einzuleiten, obwohl durch diese häufig die Funktion wiederhergestellt
werden könnte.
Der Versuch, den
Herzstillstand als sicheres Todeszeichen und damit als Kriterium für
die Organentnahme anzusehen, ist ebenso mit massiven Zweifeln behaftet
wie das Hirntodkonzept. Die Behauptung, der Herzstillstand sei ein
sicheres Todeskriterium wird durch die, jedem Kliniker geläufige
Tatsache entkräftet, dass sich in vielen Fällen auch nach mehr als
zehnminütigem Herzstillstand eine – wenn auch manchmal nur
vorübergehend – erfolgreiche Reanimation durchführen lässt.
Das Dilemma
Weder das Prinzip des
Hirntodes noch das des Herztodes ist im Stande, die
Transplantationsmedizin von ihrem fundamentalen Dilemma zu befreien,
dass sie nämlich lebenswichtige Organe nur Menschen entnehmen kann, die
als tot gelten, aber einen lebenden Körper haben. "Warme Leichen und
kalte Embryonen" hat der französische Psychoanalytiker Michel Tort in
seinem Buch "Le désir froid – Procréation artificielle et crise des
repères symboliques" als die begehrtesten Objekte unserer Gesellschaft
bezeichnet.
Die "Tote-Spender-Regel" ist
immer stärker zum erdrückenden Ballast geworden, den die
Transplantationsmedizin so lange nicht abwerfen kann – so gern sie es
täte – so lange sie daran festhalten muss, dass sie nur Toten
lebenswichtige Organe entnehmen darf.
Natürlich hat man nach
Auswegen gesucht das Hirntodkonzept zu relativieren und festzulegen,
dass nicht der Ausfall des gesamten Gehirns, sondern bereits bestimmter
Anteile ausreicht, um lebenswichtige Organe entnehmen zu können. Beim
so genannten Hirnstammtod (gültig in England) genügt der irreversible
Ausfall des Hirnstamms zu Organexplantation. Problematischer hat sich
das Konzept des Teilhirntodes erwiesen, bei dem es genügt, dass nur
bestimmte Teile des Gehirns, wie zum Beispiel das Großhirn ausgefallen
sind. Dieses Prinzip würde es erlauben, bereits bei tief komatösen
Patienten, Wachkomapatienten oder anencephalen Kindern Organe zu
entnehmen.
Alle Auswege, die entweder
das Konzept des Hirntodes oder des Herztodes umgehen könnten, setzen
letzten Endes einen fundamentalen Tabubruch voraus, nämlich den
Abschied von der "Tote-Spender-Regel". Im Klartext bedeutet der
Abschied von der "Tote-Spender-Regel" nichts anderes, als die Entnahme
lebenswichtiger Organe zur Organspende bereits bei Lebenden zu
legitimieren. Diesen Weg versucht man jetzt zu beschreiten.
Der Abschied von der "Tote-Spender-Regel"
Der Harvardprofessor für
Bioethik und Anästhesie Robert D. Truog und der Bioethiker des NIH
(National Institutes of Health, Bethesda) Franklin G. Miller haben 2008
im "New England Journal of Medicine" (NEJM) [1] einen Weg aus dem
fundamentalen Dilemma der Transplantationsmedizin vorgeschlagen, der
bisher als ethisch undenkbar galt.
Das Gewicht dieses
Vorschlags lässt sich daran ermessen, dass beide Wissenschaftler über
ein weltweit akzeptiertes Renommee auf dem Feld der Bioethik und
Transplantationsmedizin verfügen, und das NEJM als weltbestes
Medizinjournal gilt.
Truog und Miller schlagen
nichts Geringeres vor, als das Postulat vom Tod des Spenders als
Voraussetzung für die Entnahme lebenswichtiger Organe aufzugeben. Die
Explantation lebenswichtiger Organe zu Transplantationszwecken bei
Lebenden solle unter bestimmten Voraussetzungen legitim und ethisch
unanfechtbar sein. Der Abschied von der "Tote-Spender-Regel" erlaube
es, auf ebenso unnötige wie unhaltbare Revisionen der Definition des
Todes zu verzichten.
Als Alternative schlagen sie
vor, lebenswichtige Organe von Patienten mit irreversiblen,
verheerenden (devastating) neurologischen Schäden zur Organverpflanzung
zu entnehmen, bevor bei ihnen lebenserhaltende Maßnahmen beendet
werden, vorausgesetzt, dass eine gültige Zustimmung des Patienten oder
seiner Angehörigen vorliegt. Die Organentnahme erfolgt also bei
Lebenden, ohne dass der Hirntod festgestellt wurde. Die Kernaussage von
Truog und Miller lautet: "Ob der Tod eintritt, weil die künstliche
Beatmung beendet wird oder durch die Organentnahme – die ethisch
relevante Voraussetzung ist eine gültige Zustimmung des Patienten oder
der Angehörigen. Liegt eine solche Zustimmung vor, wird durch die
Gewinnung von lebenswichtigen Organen vor dem Tod weder Schaden
zugefügt noch ein Unrecht begangen, vorausgesetzt, dass eine Narkose
verabreicht wird. Bei geeigneten Vorsichtsmaßnahmen wird kein Patient
an der Organentnahme sterben, der nicht anderenfalls durch die
Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen sterben würde." [2]
Das Szenario ist eindeutig:
Es handelt sich um lebende Patienten mit irreversiblen neurologischen
Schäden ohne gesicherten Hirntod, die ohne lebenserhaltende Maßnahmen
sterben müssten. Dass sie Schmerz empfinden könnten, wird durch die
Forderung nach einer Narkose indirekt eingeräumt. Die Autoren vermuten,
dass dieses Vorgehen eher auf öffentliche Zustimmung stoßen könnte, als
wenn der Tod zum Zeitpunkt der Organentnahme zweifelhaft sei. Zahl und
Qualität der so gewonnenen Organe könnten dadurch möglicherweise
maximiert werden.
Die Lebenden und die Toten
Dem Vorschlag von Truog und
Miller zu folgen, hätte vordergründig einige positive Seiten. Als
Wichtigstes wäre der Versuch einer gewissen Ehrlichkeit zu nennen.
Überwunden wären die makabren semantischen Klimmzüge in der Begründung
des Hirntodkonzeptes, überflüssig die schiefen Bilder der
Rechtfertigung (der Hirntod als eine Art "innerer Enthauptung"), ebenso
manche, selbst für renommierte Medizinjuristen (Hans-Ludwig Schreiber)
bemerkenswerte, sprachliche Ungereimtheiten: "Der Hirntote ist
definitiver (sic!) tot als der klinisch Tote ...". Vor allem bedürfte
es nicht des menschenunwürdigen Anschlags auf die unverstellte
Intuition der Angehörigen beim Anblick ihres hirntoten
Familienmitgliedes, das nicht selten eine lebenslange Traumatisierung
zur Folge hat. Die Angehörigen wären nicht mehr dem Vorwurf ausgesetzt,
Opfer einer "individuellen Plausibilitätsfalle" zu sein, wenn sie
entgegen vielen wissenschaftlichen Beteuerungen ihre Angehörigen nicht
als tot, sondern als lebendig wahrnehmen.
Das neue Szenario ist
geprägt durch klinisch-nüchterne Überschaubarkeit: operative
Organentnahme als legale, zum Tode führende, letzte ärztliche Maßnahme
bei einem sterbenskranken Menschen.
Dies alles kann freilich
nicht über die Ungeheuerlichkeit hinwegtäuschen, dass hier zum ersten
Mal in der Medizingeschichte der zivilisierten Welt Ärzte den Tod eines
Menschen herbeiführen dürften, um ihn zur Therapie eines anderen
Menschen zu instrumentalisieren.
Der Vorgang ist nicht
vergleichbar mit aktiver Sterbehilfe, denn diese hat im Kern die
Beendigung des Leidens des Getöteten zum Ziel. Das neue Vorgehen
bedeutet jedoch eine massive stundenlange Sterbensverlängerung. Der
Behandlungsauftrag des Arztes – Leben zu erhalten, zu heilen oder
Leiden zumindest zu lindern – wird pervertiert und in sein Gegenteil
verkehrt. Die Lizenz zum Töten würde zur legalen ärztlichen
Qualifikation. Die ewige Versuchung "so früh wie möglich" an Organe
heranzukommen würde so zu einer "Ausweitung der Kampfzone" bei der
Gewinnung von Organen führen. Nach diesem Konzept liegt die Bürde der
Organspende auf den Lebenden und nicht mehr auf den Hirntoten.
Der neue Vorschlag, der zum
Abschied von der "Tote-Spender-Regel" führen könnte, ist bei weitem
nicht so unanfechtbar, wie es der erste Anschein suggeriert. Seine
Fragwürdigkeit liegt in der Prämisse der "irreversiblen" neurologischen
Schädigung. Jede Annahme von Irreversibilität stützt sich auf so
genannte harte, klinisch messbare Größen, aber ebenso auf die
unverzichtbare "weiche" Komponente ärztlicher Erfahrung. Diese aber ist
auslegungsfähig und subjektiv gefärbt. Jeder erfahrene Arzt hat erlebt,
dass "irreversible" Zustände oder Befunde sich am Ende doch als
reversibel erwiesen haben.
Der nächste Schritt, sich
bereits mit dem Postulat "so gut wie irreversibel" zu begnügen, ist
nicht so weit entfernt, wie man vermuten könnte. "So gut wie tot" war
schon in der Debatte um den Hirntod ein oft zu hörendes Argument.
Alternativen zur Organspende werden mit vergleichbar viel geringerer
Anstrengung betrieben: Die technische Realisierung klinisch
einwandfreier künstlicher Herzen, die Optimierung von
Therapiekonzepten, Bestrebungen, statt Organe einzupflanzen, spezielle
Zellpopulationen zu kultivieren (zum Beispiel Hepatozyten). Vor allem
aber könnte eine breite, intensiv betriebene Prävention den "Bedarf" an
Organen drastisch reduzieren.
In einem seiner letzten Briefe
(November 1992) schrieb der Philosoph Hans Jonas an den Rechtsmediziner
Hans-Bernhard Wuermeling fast flehend zur Organentnahme von Hirntoten:
"Lasst sie zuerst sterben ...". Jonas wusste sehr wohl, wovon er
sprach, denn er hatte sich – anders als die meisten Philosophen – per
Augenschein vom Procedere der "Organgewinnung" bei Hirntoten überzeugt.
Doch er war sich auch bewusst, dass seine Worte in den Wind gesprochen
waren. Leseempfehlungen: J. Hoff, J. in der Schmitten (Hrsg): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und "Hirntod"-Kriterium. Reinbek. 1995 Vera
Kalitzkus: Dein Tod, mein Leben: Warum wir Organspenden richtig finden
und trotzdem davor zurückschrecken. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009.
Anmerkungen: [1] Truog RD, FG Miller: The Dead Donor Rule and Organ Transplantation. N Engl. J Med 359, 7, August 14, 2008 [2]
Whether death occurs as the result of ventilator withdrawal or organ
procurement, the ethically relevant precondition is valid consent by
the patient or surrogate. With such consent, there is no harm or wrong
done in retrieving vital organs before death, provided that anaesthesia
is administered. With proper safeguards, no patient will die from vital
organ donation who would not otherwise die as a result of the
withdrawal of life support.
Geisler, Linus S.: Die Lebenden und die Toten |
UNIVERSITAS, 65. Jahrgang, Nr. 763, Ausgabe Januar 2010, S. 4-13 |
URL: http://www.linus-geisler.de/art2010/201001universitas_tote-spender-regel.html |
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