Auf der Suche nach dem moralischen
Esperanto
Bioethischer Dissens in
einer globalisierten Welt
Linus S. Geisler
Ein Arzt, der in der Mitte
des 20. Jahrhunderts seinen Beruf ausübte, war nur mit wenigen ethischen
Problemen konfrontiert. Den Begriff Bioethik gab es damals noch nicht.
Er tauchte erst in den siebziger Jahren, zunächst in den USA, auf.
Eine der wesentlichen ethischen Fragen hatte ihre Wurzel in den menschenverachtenden
ärztlichen Experimenten im Dritten Reich. Nach den Nürnberger
Ärzteprozessen bildete der sogenannte Nürnberger Kodex von 1947
ein zunächst scheinbar festes ethisches Fundament für Experimente
am Menschen. Der informed consent, die Zustimmung nach Aufklärung
vor jedem ärztlichen Eingriff, wurde als verbindlich festgeschrieben.
Der Nürnberger Kodex wurde als geniale Verknüpfung der Polaritäten
hippokratischer Ethik der ärztlichen Verantwortung und der Menschenrechte
gewürdigt. Freilich gab es bereits von Anfang an immer wieder Versuche
der Relativierung des Nürnberger Kodex.
Aus einigen
Bemerkungen, die Ludwig Wittgenstein über seinen langjährigen
Weggefährten Bertrand Russell machte, könnte man annehmen, dass er
einen gewissen Problemverlust als Gefahr für die Philosophie des 20.
Jahrhunderts sah. Das Schicksal einer nahezu beschäftigungslosen
Philosophie mangels echter Probleme ist dieser dank der Biomedizin
gründlich erspart worden. Die explosionsartige Zunahme von
vermeintlichen oder tatsächlichen Erfolgen in der Medizin führte fast
über Nacht zu einer gewaltigen Überflutung der Philosophie mit
bioethisch kaum lösbaren Problemen. Bioethische Fakultäten und
Institute schössen, vor allem in den Vereinigten Staaten, aus dem
Boden. Nicht ohne Zynismus betitelte der amerikanische Philosoph
Stephen Edelson Toulmins einen Aufsatz: "Wie die Medizin der Ethik das
Leben rettete" (How medicine saved the life of ethics).
Jeder medizinische Fortschritt
rief einen vermeintlich überproportionalen moralischen Dissens auf
den Plan. Die Lösung eines einzigen medizinischen Problems, wie zum
Beispiel der Unfruchtbarkeit durch In-vitro-Fertilisation, löste in
der Folgezeit in einer Art Dominoeffekt innerhalb weniger Jahrzehnte eine
unüberschaubare Fülle von moralischem Dissens aus, der vielfach
bereits im Ansatz die Aporie als genuines Element in sich trug. Ohne künstliche
Befruchtung gäbe es keinen moralischen Dissens über den Status
des Embryo, die Zulässigkeit der Embryonenselektion, die Tötung
von Embryonen für Zwecke der Forschung, die Instrumentalisierung von
Embryonen beispielsweise als sogenannte Retter-Embryonen für bereits
geborene Geschwister mit einem lebensgefährlichen genetischen Defekt.
Selbst der tiefste Eingriff in die biologische Natur des Menschen, die
Manipulation der Keimbahn, wäre ohne Retortenbefruchtung der Eizelle
bloße Fiktion.
Eine ethisch zunächst
unproblematische medizinische Technik mit dem Ziel der Behandlung von Unfruchtbarkeit
öffnete das Tor zur Vernichtung frühesten menschlichen Lebens
als fragwürdigen Preis für ungewisse therapeutische Methoden.
In der bioethischen Literatur
gibt es weit über tausend Veröffentlichungen, die die Auflösung
von moralischem Dissens in der Medizin zum Thema haben. Doch die Suche
hält unvermindert an, und ein Konsens ist in den zentralen bioethischen
Streitpunkten ferner denn je.
Wer mit wem?
Die wichtigste Frage am Anfang
jeder Konsensbemühung wird häufig gar nicht gestellt. Zu fragen
ist, wer denn übereinstimmen muss oder soll und worüber und schließlich
mit wem. So einfach die Frage zu stellen ist, so schwierig entpuppt sich
der Versuch einer Antwort. Embryonale Stammzellforschung gilt als hochrangiges
ethisches Problemfeld. Bei genauem Hinsehen lassen sich allerdings recht
unterschiedliche Dissensakteure mit unterschiedlichen Interessen ausmachen.
Der Stammzellforschung scheint daran gelegen, als ethisch weitgehend unproblematisches
Forschungsfeld wahrgenommen zu werden, das hinter dem Schutzwall der grundrechtlichen
Garantie der Forschungsfreiheit agieren darf. Die Kirchen thematisieren
Stammzellforschung als fundamentalen Angriff auf die Heiligkeit und Gottesebenbildlichkeit
menschlichen Lebens. Die Politik versucht den Auftrag der gesetzgeberischen
Lösung eines gesellschaftlich brisanten Konflikts mit einer rechtlichen
Regelung zu erreichen, die den Hautgout der Doppelmoral, auch oder gerade
nach einer ersten Änderung, nicht los wird.
Bereits die begriffliche
Klärung von Konsens hat mit mehrdeutigen Auslegungen zu kämpfen.
Der Philosoph Jonathan Moreno sieht gerade in dieser Mehrdeutigkeit das
wesentliche philosophische Problem derer, die sich um Konsens bemühen.
So differenziert Moreno zwischen einem dynamischen Konsens und einem statischen
Konsens und glaubt, dass nur der dynamische Konsens einen legitimen Anspruch
auf moralische Autorität besitzt. Denn Konsens könne im Hinblick
auf den Zeitgeist, wechselnde Wertvorstellungen oder säkulare Strömungen
kaum als in Stein gemeißelte, für ewige Zeiten geltende moralische
Handlungsanleitung begriffen werden. So wie die unterschiedlichsten Menschenbilder
kommen und gehen, so sei auch Konsens wandelbar. Die strafbewehrte Unmoral
von gestern kann morgen als legitimes Signum menschlichen Autonomiebestrebens
interpretiert werden (zum Beispiel Homosexualität).
Eine Ethik des Dissenses?
Die Bemühung um Konsens
in ethisch konfligierenden Feldern als Selbstverständlichkeit könnte
sich bei genauerem Hinsehen nicht nur als illusionäre, sondern vielleicht
sogar als moralisch fragwürdige Anstrengung erweisen. Aus Regeln,
welche Jürgen Habermas minutiös beschrieben hat, sei der allgemeine
Grundsatz abzuleiten, dass nur diejenigen Normen Geltung beanspruchen könnten,
welche die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen
Diskurses finden. Eine strittige Norm, so Habermas, dürfe nur dann
allgemeine Zustimmung finden, wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich
aus der Befolgung jener Norm für jeden Einzelnen voraussichtlich ergäben,
von allen zwanglos akzeptiert werden könnten. Nicht nur die mangelnde
Wirklichkeitsnähe dieses Ansatzes hat heftigen Widerspruch auf den
Plan gerufen.
Vor allem Philosophen der
französischen Postmoderne, wie Jean-François Lyotard oder Jacques
Derrida, hatten gegenüber den Theorien von Habermas gravierende Bedenken.
Ihr Einwand: Ein Konsens im Habermas'schen Sinne sei gänzlich unrealistisch
und überdies sogar ethisch bedenklich. Denn faktisch könne die
Akzeptanz einer strittigen Norm seitens aller Beteiligten niemals ohne
Zwang zustande kommen. Immer entscheide bei derartigen Prozessen letztlich
nur die reale Macht einzelner Beteiligter. Sie steuerten die Konsensprozesse
im Hintergrund. Das Postulat der französischen Kritiker: Es sei an
der Zeit, die Forderung nach Normen und einem allgemeinen Konsens generell
aufzugeben. Anzustreben sei eine Ethik der Differenz, eine Ethik des Dissenses.
Gerechterweise, so Lyotard,
lasse sich die Welt nur in der Vielzahl von Lebensformen, Differenzen,
Widersprüchen und Gegensätzen fassen. Der Konsens als Ziel des
Diskurses sei blanke Aggression. Demgegenüber müsse "nunmehr
die Betonung auf den Dissens gelegt werden". Dies verfeinere unsere Sensibilität
und verstärke unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen.
Das kollektive Ziehen an einem Strang, der Gedanke des einen Ziels, welches
alle gemeinsam erreichen sollen, habe letztlich die Schreckensherrschaft
des Kommunismus und den Faschismus produziert. Unter deutschen Sozialwissenschaftlern
hat Niklas Luhmann in seinen Ausführungen über das Risiko der
Moral den für Gesellschaften bedrohlichen Charakter der Moral betont:
"Moral hat die Tendenz, Streit zu erzeugen oder, wenn er zufällig
ausbricht, zu verschärfen." Glaubenskriege und Kreuzzüge sind
hierfür beredte historische Belege.
Die pluralistische Struktur
von Gesellschaften erweist sich als grundlegendes Hemmnis für eine
Konsensfindung, auch in bioethischen Fragen. Und da der weltanschauliche
Pluralismus ein Faktum der modernen Welt ist, werden einerseits die Dimensionen
von Dissens in diesen Gesellschaften begreiflich, aber andererseits auch
das Ausmaß des Widerstandes gegen seine Auflösung deutlich.
Dass dieser institutionalisierte Dissens auch systemstabilisierende Effekte
entfalten kann, wird nicht immer erkannt. Moralischer Dissens scheint nicht
nur aus diesem Grund bis zu einem gewissen Grad vernünftig zu sein.
John Rawls geht in "A Theory of Justice" davon aus, dass eine moderne demokratische
Gesellschaft aufgrund ihrer eigenen normativen Bedingungen durch einen
Pluralismus zwar einander ausschließender, aber gleichwohl "vernünftiger
umfassender Lehren" gekennzeichnet ist. Die Quellen vernünftiger Meinungsverschiedenheit
würden niemals versiegen, was bedeute, dass unter uns endlich-menschlichen
Vernunftbesitzern eine Unaufhebbarkeit des Dissenses gegeben sei. Hier
haben wir es, in John Rawls' Worten ausgedrückt, mit dem Faktum eines
"vernünftigen Pluralismus" zu tun.
Doch wird möglicherweise
der Wertepluralismus moderner Gesellschaften als fundamentales Hindernis
für ethische Konsensfindung überhöht, um die tiefer liegenden
Gründe zu verdecken. Sie könnten in dem bisher nicht da gewesenen
Umgang des Menschen mit seiner eigenen Natur liegen, der bereits den Keim
der moralischen Überforderung in sich trägt. In dem Maße,
in dem Forschung den Menschen mit steigender Eingriffstiefe so zum Objekt
macht, dass sie ihn in existenzielle Zustände oder Befindlichkeiten
versetzt, die in der Natur bisher nicht vorkamen, gerät sie in einen
Zustand ethischer Orientierungslosigkeit. Ihr probates philosophisches
Rüstzeug, auf das sie seit Jahrtausenden immer wieder zurückgreifen
konnte, erweist sich als untauglich zur Lösung der nunmehr in erdrückendem
Ausmaß auftauchenden neuen Konfliktfelder. Selbst geschaffene Artefakte
menschlichen Seins lösen jene große Hilflosigkeit aus, deren
Signum ein ausufernder Dissens über den moralisch richtigen Weg ist.
Ein lebender menschlicher Embryo außerhalb des Körpers einer
Frau war bis vor dreißig Jahren eine unbekannte Existenzform des
Menschen. Der sogenannte Hirntod war als eine wenige Minuten dauernde,
äußerlich nicht sicher bemerkbare Phase im Sterbeprozess ein
flüchtiges und praktisch unbedeutendes Phänomen. Niemand hatte
bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einen Hirntoten gesehen. Jetzt
kann diese Sterbephase über Stunden und Tage mit intensivmedizinischen
Mitteln aufrechterhalten werden. Sogar gesicherte Fälle von chronischem
Hirntod, also dem Weiterbestehen der Hirntodzeichen länger als eine
Woche, sind beschrieben worden (Alan Shewmon).
Bewältigung von Dissens
Obwohl der Versuch, moralischen
Dissens mit allen Mitteln aufheben zu wollen, ethisch nicht unbedingt erstrebenswert
erscheint und selbst in Gesellschaften mit vernünftigem Pluralismus
kaum Aussicht auf Erfolg hat, gibt es eine erstaunliche Vielfalt von Anstrengungen,
dennoch Konsens zu erzielen. Ethikräte, Enquetekommissionen, Akademien,
Expertenkommissionen, Bürgerforen und andere Gremien ringen mit ausgewiesenem
Sachverstand, hohem zeitlichen Einsatz und enormem Engagement um Konsensfindung
in bioethischen Streitfragen, obwohl ihnen grundsätzlich keine praktischen
Kompetenzen zustehen, sondern die Ergebnisse ihrer Arbeit im Wesentlichen
nur eine Beratungsfunktion für die Politik besitzen. Eine Kurzformel
könnte schlicht lauten: Sich um Bioethik zu bemühen heißt
Biopolitik zu betreiben. Bernhard Gill und Marion Dreyer bezweifeln allerdings
die grundsätzliche Tauglichkeit derartiger Institutionen und nehmen
an, dass Ethikräte wahrscheinlich mehr schaden als nutzen. Der Nutzen,
den sich zum Beispiel das deutsche Kanzleramt von einem Nationalen Ethikrat
versprach, habe sich zugleich als der Schaden erwiesen, indem nämlich
ein "demokratietheoretisch besehen doppelt falsches Signal gesetzt" wurde:
Einmal in der Annahme, dass Ethik Expertensache sei, und zum anderen, dass
über Gegenstände der Bioethik vor allem zentral (national) zu
entscheiden wäre. Da die gegenwärtigen bioethischen Konflikte
auf unterschiedlichen Weltanschauungen beruhten, könnten sie nicht
durch überlegenes Wissen von 'Experten' überwunden werden. Den
Boom der Ethikkommissionen hat Anneliese Pieper schlicht als "Auslagerung
des Gewissens" bezeichnet.
Provisorische Moral
Wenn Dissens in seiner aktuellen
Form sich der Lösung entzieht, geraten Instrumente der Dissensumdeutung
bis hin zur Manipulation von Dissens in die engere Wahl. Erfährt Dissens
über die Zeit hin Wandlungen, so eröffnet das Prinzip der pragmatisch-provisorischen
Moral neue Alternativen. Pragmatisch-provisorische Moral stuft Prinzipien
grundsätzlich wieder zu Regeln herunter, was ihnen die moralische
Last von Werten nimmt. Regeln stehen zwar konfligierend nebeneinander,
bilden aber einen Suchraum, in dem sich akzeptable Einigungen finden lassen
können, ohne dass sich der Vorwurf des Relativismus begründen
lässt. Pragmatisch-provisorische Moral gibt sich bescheiden und verzichtet
auf Letztbegründungen, ist aber stabil genug, um als "Moral für
unterwegs" (Peter Fischer) zu taugen. Diese Mobilität rückt sie
freilich in die Nähe ethischer Wanderdünen, die beispielsweise
als Signum einer ständig um Stichtagsverschiebungen ringenden Stammzellforschung
firmieren.
Diese Moral en route erlaubt
es zwar Zelte aufzuschlagen, die für eine gewisse Zeit beschwichtigen,
aber ein festes ethisches Haus lässt sich nicht errichten. Die schwachen
Argumente der provisorischen Moral machen einen Teil ihrer Attraktivität
aus, denn sie lassen sich leichter in den Diskurs einbringen als die harten,
auf klassischen Begründungsmustern basierenden Argumente. Man wird
an die Unterscheidung zwischen "schwacher" und "starker" Menschenwürde
(Dieter Birnbacher) erinnert, die in bestimmten Kontexten folgerichtig
auch mit einer schwachen Schutzwürdigkeit des Menschen glaubt auskommen
zu können.
In seinem Werk Vom Geist
der Gesetze schrieb 1748 der französische Staatstheoretiker Montesquieu:
"Da die Menschen schlecht sind, ist das Gesetz notwendig, damit man sie
für besser hält, als sie es sind." Kein Wunder, dass sich bei
bioethischem Dissens der Ruf nach gesetzlicher Regelung von Streit fragen
sehr rasch erhebt. Embryonenschutzgesetz, Transplantationsgesetz, Gentechnikgesetz,
Stammzellgesetz, Gendiagnostikgesetz (in Planung) und so weiter spiegeln
die legislatorischen Bemühungen wider, komplexe und hoch kontrovers
debattierte bioethische Fragen durch Gesetze zu regeln, um überhaupt
handlungsfähig zu bleiben.
Die Unversöhnlichkeit
der Positionen durch gesellschaftlichen Wertepluralismus scheint durch
Gesetze auflösbar zu sein. Denn Gesetze gelten ausnahmslos und ohne
Frage für alle und jeden. Was wie eine Auflösung von ethischem
Dissens durch Gesetze erscheint, erweist sich in Wirklichkeit nur als ein
Lenken seiner Auswirkungen und Folgen in eng begrenzte Bahnen. Was Recht
regelt, ist immer nur ein moralischer Minimalkonsens. Seine Ausweitung
über den nationalen Geltungsbereich (zum Beispiel EU-Recht) führt
zu einer weiteren Abschwächung. Mit anderen Worten: Die Allgemeinverbindlichkeit
solcher Regelwerke wird um den Preis moralischer Minimalität erkauft.
Wenn schon die Moral langsamer
ist als die Vernunft (Michel Serre), so ist das Recht noch langsamer und
schwerfälliger als die Wissenschaft. Das Resultat ist ein ständiges
Rütteln an fundamentalen Gesetzen für die Biomedizin. Embryonenschutzgesetz
und Stammzellgesetz sind beredte Beispiele. Die Rasanz wissenschaftlicher
Forschungen führt andererseits zu einem unerschöpflichen Bedarf
an neuen Gesetzesregelungen.
Schließlich spiegelt
die gesetzliche Regelung ethischer Streitfragen moralischen Konsens vor,
auch wenn nicht selten eine tief greifende Verunsicherung zurückbleibt.
Das Transplantationsgesetz regelt zum Beispiel bis in kleinste Details
die Handlungsoptionen der Transplantationsmedizin. Es ist aber nicht in
der Lage, tief verwurzelte Zweifel in der Allgemeinbevölkerung, was
beispielsweise das Phänomen des Hirntodes oder die Gefahr von Organhandel
anbetrifft, zu beseitigen. So ist nach der EMNID-Umfrage von 2002 für
fast 40 Prozent der Normalbevölkerung der Hirntod nicht der Tod des
Menschen.
Zonen der Uneindeutigkeit
Es ist eine offensichtliche
Tendenz zur (beabsichtigten?) Unscharfe im Umgang mit bioethischen Begriffen
zu beobachten. Ich habe dafür den Begriff der Fuzzy-Ethik verwendet.
Fuzzy-Ethik ist abgeleitet von Fuzzy Logic, die beispielsweise bei Regelsystemen
oder bei der künstlichen Intelligenz angewendet wird. Fuzzy Logic
bedeutet so viel wie undeutliche Logik. In der Fuzzy Logic wird das Ergebnis
einer (mathematischen) Operation mit einem gewissen Wahrscheinlichkeitswert
errechnet. Neben den herkömmlichen Werten wahr oder falsch kann ein
Ergebnis auch noch die Werte wahrscheinlich wahr, möglicherweise wahr,
möglicherweise falsch und wahrscheinlich falsch annehmen.
Für die Bioethik bedeutet
dies das Vermeiden von moralischen Festlegungen. Diese werden je nach Kontext
aufgeweicht und relativiert. Während beispielsweise der Begriff überzählige
Embryonen zwangsläufig die Frage nach deren Schicksal - vernichten
oder für die Forschung vernutzen - aufwirft, lässt die neuerlich
ebenfalls gebräuchlich werdende Bezeichnung liegen gelassene Embryonen
die Frage nach ihrer weiteren Bestimmung zunächst offen. Umbenennungen
ermöglichen so eine scheinbare Vermeidung von Dissens. Das immer wieder
frustrane Bemühen, bioethischen Dissens aufzulösen, könnte
vielleicht ganz andere Ursachen haben, die nicht nur im Wertepluralismus,
in der Untauglichkeit der eingesetzten philosophischen Werkzeuge oder in
den Egoismen der Kontrahenten liegen. Michel Foucault ging davon aus, dass
die Frage nach der Macht über Medizin und Gesundheit weder auf der
Ebene der Ideologie noch der staatlichen Souveränität zu beantworten
ist. Erst die Disziplinierung des individuellen Körpers und die Biopolitisierung
der Gesellschaft erlaubten ein Eindringen von Machtverhältnissen im
Sinne einer Doppelstrategie sowohl in den individuellen als auch in den
gesellschaftlichen Körper.
Die Grenzen zwischen Therapie
und Enhancement und die Definitionen von Krankheit und Gesundheit begannen
mehr und mehr unscharf zu werden und sich damit Felder aufzutun, deren
Merkmal Uneindeutigkeiten sind. Es eröffneten sich Handlungs- und
Entscheidungsspielräume von hoher Ambivalenz, die der italienische
Philosoph Giorgio Agamben als "Zonen der Uneindeutigkeit" bezeichnet. Bei
diesen Zonen fehlender Eindeutigkeit ist unklar, ob überhaupt und
wenn ja Eindeutigkeit wiederhergestellt werden kann - oder soll. Nicht
ihr temporärer Charakter, sondern die Vision ihrer Dauerhaftigkeit
erscheint als das Verstörende. "Wir irren vorwärts", konstatierte
schon Robert Musil.
Die Unmöglichkeit der
Lösung moralphilosophischer Fragen, die Aporie, scheint ein zunehmendes
Merkmal im bioethischen Diskurs zu sein. Diese Zonen der Uneindeutigkeit
paralysieren mehr und mehr die vielfältigen Ansätze, moralischen
Dissens im biomedizinischen Streit erfolgreich anzugehen. Wer sich beispielsweise
auf die Debatte um den moralischen Status des menschlichen Embryo einlässt
- Zellhaufen versus Träger von Menschenwürde -, gerät genau
in solche Zonen der Uneindeutigkeit. Resigniert muss er erkennen, dass
sein Heil allenfalls im Regelwerk der Legislative zu finden sein könnte.
Leidenschaftslose Beobachter der bioethischen Szene kommen zu dem Schluss,
dass in einer pluralistischen Gesellschaft letztlich in bioethischen Streitfragen
kaum mehr zu erreichen ist als ein "geregelter Dissens" (Michael Fuchs).
Ethik nach Babel
Von einer nachbabylonischen
Ethik sprach der Religionswissenschaftler Jeffrey Stout und konzipiert
ein "moralisches Esperanto", "eine künstliche Sprache der Moral, erfunden
in der Hoffnung, dass jeder sie wird sprechen wollen". Er erhoffte sich
von diesem Ansatz frische Impulse für die ethischen Auseinandersetzungen,
die uns bevorstehen. Ethik nach Babel sei die Option auf eine Ethik, die
weder versuche, eine Welt ohne moralische Vielfalt zu errichten, noch bestrebt
ist, einen bis zum Himmel reichenden Turm zu bauen - ein bemerkenswerter
philosophischer Spagat. Der deutsche Philosoph Ludwig Siep fordert bei
seiner Sichtung der "Werte, Güter und Interessen" in der Bioethik
eine ähnlich globale Sichtweise. Eine holistische Konzeption einer
guten Welt und deren werthafter Grundzüge müsse maßgebend
sein - jenseits der Rechte Einzelner.
Man wird an das Küng'sche
Weltethos erinnert, das von globalen Grundüberzeugungen ausgeht, aber
die Dominanz westlich-christlichen Denkens nicht abzustreifen vermag. Fundamentale
Voraussetzungen, wie die Gleichheit aller Menschen, stoßen in anderen
Kulturen und Religionen auf unüberwindliche Barrieren. Der Hinduismus
als Religion, in der es a priori keine Gleichrangigkeit unter den Menschen
gibt, ist beispielsweise mit einer solchen Grundüberzeugung kaum vereinbar.
Globale ethische Harmonisierungsversuche gelangen bisher nicht: Ein für
alle UN-Mitgliedsstaaten geltendes Verbot des sogenannten therapeutischen
Klonens war beispielsweise nicht durchsetzbar - auch wegen des Verhaltens
der Bundesrepublik.
Die Utopie einer globalen
Ethik wird angesichts der Schwierigkeiten in viel kleineren, kulturell
und religiös relativ homogen erscheinenden Gesellschaftsgruppierungen
wie zum Beispiel der Europäischen Union als Phantasma erkennbar. Nach
einer Studie der spanischen Fundacion BBVA (2008) sind beispielsweise einige
Tage alte Embryonen für 32,4 Prozent der Briten Zellklumpen, während
nur 14 Prozent der Österreicher diese Ansicht teilen. Für 52,8
Prozent der Österreicher ist der Embryo ein Mensch mit allen Schutzrechten,
bei den Briten sind nur 42,4 Prozent dieser Ansicht. Auf die gesetzgeberischen
Kräfte der EU in bioethischen Streitfragen zu setzen erscheint vermessen.
Die Europäische Union vermag zwar Bagatellen wie die Anschnallpflicht
bei Kutschfahrten in Schottland per Gesetz zu regeln, der Blick auf ihre
Zerrissenheit in Fragen der Embryonenforschung ernüchtert jedoch den
ethischen Beobachter.
Mehr Konsens oder weniger
Dissens?
Die Rasanz biomedizinischer
Fortentwicklungen wird unabwendbar zu einer ebenso rasanten Vermehrung
von bioethischem Dissens führen. Ethikkommissionen ist Vollbeschäftigung
garantiert. Endlose Dispute in den Medien über tragfähige bioethische
Prinzipien werden Dauerbrenner im Programm sein. Gesetzliche Regelungen
mit immer kürzeren Halbwertszeiten werden an der Tagesordnung (siehe
beispielsweise das Stammzellgesetz) und einem permanenten Ansturm ausgesetzt
sein (siehe zum Beispiel das Embryonenschutzgesetz). Ob von "ethikkompetenten"
Bürgerinnen und Bürgern (Hans-Martin Sass) harmonisierende Impulse
ausgehen werden, ist mehr als fraglich. Wird der geregelte Dissens nach
wie vor das dünne Fundament für ethische Prinzipien und Handlungsanleitungen
in der Biomedizin bleiben müssen?
Mehr Konsens und weniger
(ausufernder) Dissens in einer schönen neuen Welt des Fortschritts?
Die konsensbildenden Instrumentarien erscheinen ausgeschöpft. Die
Frage, wie viel Dissens in einer funktionsfähigen pluralen Gesellschaft
unverzichtbar ist, ist schwierig auszuloten.
Ein ganz anderer Ansatz wäre,
der Dissensentwicklung a priori entgegenzusteuern, also der Versuch, das
Dissenspotenzial schon in den frühesten Stadien biomedizinischer Planungen
in einem perspektivisch möglichst weit reichenden Ansatz zu durchleuchten
und es so gering wie möglich zu halten. Ethikfolgenabschätzung
und nicht nur Technikfolgenabschätzung erscheint geboten. Also das
genaue Gegenteil dessen, was zum Beispiel in der embryonalen Stammzellforschung
geschieht: ethisch hoch problematische Anstrengungen bei eher utopischen
als realen Erfolgschancen für die klinische Medizin. Das klingt nach
Sich-bescheiden-Können und dem Mut zu technologischer Mäßigung.
Klugheit versus Wunscherfüllung
Lösungsansätze
liegen nicht in heroischen Verzichts-Szenarien, sondern in der Fähigkeit
zu klugen Prioritätensetzungen und Beschränkungen. Ethikfolgenabschätzung
ist gerade in der immer mehr ausufernden Wunscherfüllungsmedizin mit
ihrem fast süchtigen Streben nach Enhancement dringend geboten. Enhancement
ist der biotechnologische Versuch, die Konstitution oder Funktionalität
des Menschen über das Maß hinauszutreiben, das für gute
Gesundheit nötig ist. Es ist mit den höchsten Kosten und dem
größten Potenzial an ethisch fragwürdigen Methoden und
Zielen verbunden. Das Postulat des renommierten französischen Reproduktionsmediziners
Jacques Testart: "Ich plädiere für eine Logik der Nichterfindung,
für eine Ethik der Nichtforschung", gilt hier in besonderem Maße.
Die Frage von Niklas Luhmann,
ob Technik weiterhin als konsensfreie Enklave behandelt werden könne
oder ob genau deshalb Konsens über die operativen Details technischer
Vollzüge vonnöten ist, "weil wir die Zukunft der Natur nicht
erkennen können ...", kann als beantwortet gelten. Das dennoch unaufhörliche
Pochen auf die grundgesetzlich verbürgte Forschungsfreiheit erscheint
wie eine selbst erteilte Absolution für ethische Fehlhandlungen und
ökonomische Maßlosigkeit.
Eine Chance, ausufernden
ethischen Dissens einzudämmen, besteht in der Tatsache, dass auch
Biomedizin nicht frei ist von systemischen Regulativen: Sie liegen in dem
auch hier geltenden Prinzip von Angebot und Nachfrage, in der Option von
Entscheidungsmöglichkeiten zwischen kurzsichtiger Wunscherfüllung
und kluger Verweigerung. Michel Foucault sah Befreiungsstrategien von der
Biomacht in der "Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten
Unfügsamkeit, der Entunterwerfung". Sich den angebotenen Alternativen
zu verweigern, war für Adorno wenigstens eine Spur von Freiheit.
Die Philosophin Petra Gehring
sieht in der Fähigkeit, sich den in Hülle und Fülle offerierten
biomedizinischen Chancen zu entziehen, einen Weg zur Entfaltung von innerer
Freiheit. Sie nennt es eine Haltung der "bioökonomischen Dissidenz".
Diese muss in erster Linie vom Einzelnen ausgehen.
Die hier reflektierten Lösungsansätze
werden nicht ausreichen, den Traum vom Gelingen eines moralischen Esperanto
in einer globalisierten Welt zu verwirklichen. Aber sie besitzen das Potenzial,
dem ungebremsten Ausufern von bioethischem Dissens wenigstens etwas gegenzusteuern.
Geisler, Linus S.: Auf der
Suche nach dem moralischen Esperanto - Bioethischer Dissens in einer globalisierten
Welt |
UNIVERSITAS, 63. Jahrgang,
Nr. 750, Ausgabe Dezember 2008, S. 1230-1242 |
URL: http://www.linus-geisler.de/art2008/200812universitas-bioethdissens.html |
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