Start   <   Artikelübersicht   <   Linus S. Geisler: DAS GESPRÄCH MIT DEM ALTEN PATIENTEN  - AINS, Februar 2007
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Das Gespräch mit dem alten Patienten

Patronisierung strikt vermeiden!

Linus S. Geisler

Den alten Patienten gibt es nicht. Altern erfolgt heute differenziell: Menschen gleichen Jahrgangs sind unterschiedlich alt. Junge Alte, alte Alte und Hochbetagte bilden ein heterogenes Kollektiv. Es gibt jedoch, was Gesundheit und Krankheit angeht, eine Reihe von typischen Verhaltens­ und Reaktionsmustern im Alter, derer man sich als Arzt bewusst sein sollte.
Sprachliche Entmündigung 
Im Gegensatz zur "Jugendsprache" existiert keine gleichmäßige und stereotype "Alterssprache" im engeren Sinne. Sprache im Alter ist also kein Soziolekt, d.h. ein Sprachsystem einer sozial definierten Gruppe. Dies schließt allerdings nicht aus, dass es im Alter wiederkehrende sprachliche Verhaltensweisen gibt. Sie werden häufiger als angenommen durch externe Faktoren, sprich durch Kommunikationspartner mitbestimmt [1]. Ältere Menschen passen ihr Gesprächsverhalten oft den vermuteten Erwartungen an, die man mit Älteren verbindet (langsame Sprechgeschwindigkeit, reduzierter Wortschatz etc.). Immer wieder kann man beobachten, dass Unterhaltungen zwischen jüngeren Pfegekräften und älteren Patienten sich nicht von Unterhaltungen zwischen Erwachsenen und zweijährigen Kindern unterscheiden, unabhängig von den kognitiven Fähigkeiten der Patienten [2]. Das Kommunikationsverhalten entspricht dann einer "sekundären Babysprache". Aus dieser sprachlichen Überanpassung kann sich ein Teufelskreis entwickeln, der zu einer sprachlichen Entmündigung führt.

Kommunikation als zirkulärer Vorgang
Hier wird ein Grundprinzip der Kommunikation deutlich: Wenn Kommunikation im weitesten Sinne bedeutet, sich zu verhalten und auf andere einzuwirken, so heißt dies zwangsläufig auch, dass die Kommunikation des einen Kommunikationspartners die des anderen beeinflusst und dessen Kommunikationsverhalten wieder auf den einen zurückwirkt [3]. Die Qualität der Kommunikation ist daher von großer Bedeutung für die Befindlichkeit der Beteiligten und die Qualität der ärztlichen Arbeit [4].

Gesprächsgrundlagen 
Für das Gespräch mit älteren Menschen sind einige Grundannahmen unverzichtbar:
> Die Lebensgeschichte ist ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des Krankheitserlebnisses und der Krankheitsauslegung. Der Philosoph Odo Marquard schreibt: "Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muss man erzählen ... und je mehr versachlicht wird, desto mehr - kompensatorisch - muss erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie." [5] 
> Im Alter gelten besondere diagnostische und therapeutische Grenzen. Sie sind am besten durch das Gespräch auszuloten.
> Der Arzt ist nicht selten der einzige, und manchmal auch der letzte soziale Kontakt des alten Menschen. Daher sollte er dessen sozialen Belange kennen.

Voreingenommene Wahrnehmung 
Eine voreingenommene Beurteilung des Verhaltens älterer Menschen kann dazu führen, dass jüngere Menschen die Verhaltensweisen Älterer selektiv wahrnehmen: Sie reagieren nur auf solche, die mit ihren Erwartungen übereinstimmen, und ignorieren die, die nicht zu ihren Erwartungen passen. So kann das weit verbreitete Vorurteil, dass ältere Menschen weniger kompetent sind, zur Folge haben, dass Jüngere das Verhalten Älterer als durchgehend defizitär einstufen und sinnvolle Handlungsweisen gar nicht erst wahrnehmen.

Diskriminierung durch Ageismus 
Kommunikationsdefizite und -störungen vollziehen sich - meist unbewusst - auch vor dem Hintergrund einer neueren Form von Diskriminierung, die mit dem Begriff des Ageismus beschrieben wird [6]. Ihre drei "Maskierungen" sind: 
> Schwierigkeiten, die Perspektive von alten Menschen einzunehmen. Daraus resultiert 
> eine realitätsferne Wahrnehmung der Lebenssituation alter Menschen, und dass 
> verdeckte Aversionen und Aggressionen gegen alte Menschen wirksam werden (Misshandlungen in Altenheimen!). 
Eine solche Haltung muss sich zwangsläufig auf die Einfühlung in die Lebenswelt alter Menschen auswirken und kann so indirekt auch Entscheidungen über notwendige medizinische Maßnahmen verfälschen.

Patronisierende Kommunikation 
Einfühlung, Respekt und Fürsorge bilden die Matrix einer gelungenen Kommunikation mit älteren Menschen. Mangelnde Einfühlung und fehlender Respekt äußern sich in einer Handlungsweise, die als Patronisierung bezeichnet wird [7]. "Patronizing" bedeutet im Englischen gönnerhaftes, herablassendes Verhalten. Patronisierung spiegelt sich in typischen sprachlichen Merkmalen wider. Die Auflistung dieser Merkmale bildet gleichzeitig den Katalog der kommunikativen Todsünden und wichtigsten Verstöße im Gespräch mit älteren Menschen (siehe Tab. 1). Sie betreffen Vokabular, Grammatik, Themenbildungen sowie vokale und non­verbale Merkmale der Kommunikation.

Folgen der Patronisierung 
Patronisierende Kommunikation führt zu einer Reihe typischer Fehlverhaltensweisen: 
> Entmündigungsstrategien, die sich in Herablassung, infantilisierenden Redewendungen und Verwendung des "Pluralis majestatis" ausdrücken. ("Waren wir heute schon auf dem Töpfchen?") Sie verstärken das Gefühl der Hilfosigkeit und Unselbstständigkeit und fördern regressive Tendenzen.
> Verharmlosung und Bagatellisierung: Beliebte Satzhülsen wie " ... das ist halb so schlimm", " ... es wird schon wieder werden", " ... das kriegt fast jeder ältere Mensch" usw. zeugen von mangelnder Empathie und verhindern in aller Regel eine tragfähige Arzt-Patient-Beziehung.
> Formulierungen, die dem alten Menschen seine Gedächtnis- und Merkfähigkeitsprobleme vor Augen führen (" ... das haben Sie mir schon ein paar Mal erzählt", " ... es ist immer wieder das Gleiche, worüber Sie klagen", " ... Sie müssen sich doch erinnern, ob Sie diese Tabletten gestern eingenommen haben oder nicht").
> Pädagogische Zurechtweisungen ("Alte Leute weinen nicht!")

Patronisierung erkennen und strikt vermeiden! 
Das konsequente Vermeiden von patronisierender Kommunikation ist das A und O für ein einfühlendes und erfolgreiches Gespräch mit älteren Patienten. Allerdings ist ein patronisierender Gesprächsstil häufig tief eingefahren und läuft für den Sprechenden weitgehend unbemerkt ab. Die beste Abwehrmaßnahme besteht darin, sich selbst immer wieder kontrollierend zuzuhören und dabei genau auf typische patronisierende Gesprächsmerkmale zu achten.

Tab. 1
T1 Sprachliche Merkmale patronisierender Kommunikation [nach 7]
Vokabular
> Vereinfacht
> Vermeiden mehrsilbiger Wörter
> Kindliche Begriffe ("Baby-Talk")
> Verkleinerungen (z.B. bisschen, wenig, halt nur)
Grammatik
> Vereinfachte Konstruktionen und Sätze
> Unnötig häufige Wiederholungen
> Imperative Sprechweise 
> Fragmentarische Satzbildungen
Themensteuerung
> Eingeschränkte Themenwahl (z.B. Schwerpunkt auf der Vergangenheit, nur oberfächliche Inhalte)
> Unterbrechungen
> Ignorieren der Themen des Patienten
Anredeformen
> Übertrieben familiär ("Oma", "Opa")
> Vornamen, Spitznamen oder Koseformen (z.B. "meine Liebe")
> Kinderbezeichnungen (z.B. "gutes Mädchen", "böser Junge")
> Über den Patienten in der dritten Person sprechen, statt mit ihm zu sprechen
Vokale Merkmale patronisierender Kommunikation
> Hohe Stimmlage
> Übertriebene Intonation
> Zu lautes Sprechen
> Übertriebene Betonung
> Überzogen langsames Sprechen
Negative nonverbale Verhaltensweisen
> Sich vom Patienten abwenden
> Belächeln
> Hände in die Hüften stemmen
> Arme verschränken
> Abrupte Bewegungen
Altersspezifische Gesprächshindernisse: Depression und Demenz 
Wortfindungsprobleme, Gedächtnisstörungen, sprachliche Verlangsamung und Verarmung sowie Störungen der Kognition können vor allem im höheren Alter schwierige Gesprächshürden bilden. Sie werden nicht selten undifferenziert und zu rasch als Folgen einer Demenz klassifziert. Dabei wird übersehen, dass die im Alter häufigen Depressionen zu ähnlichen Kommunikationsproblemen wie Demenzen führen können. Da Depressionen gut therapierbar sind, ist auch die Chance einer Verbesserung der Gesprächsfähigkeit gegeben. Eine saubere Differenzierung zwischen Altersdepression und Demenz ist daher unerlässlich, ganz abgesehen von der deutlich erhöhten Suizidalität älterer depressiver Menschen (siehe Tab. 2). Typische sprachliche Frühzeichen von Demenz sind [8]:
> Wortfindungsstörungen, die auch durch äußere Hilfsangebote kaum deblockierbar sind.
> Schwierigkeiten, eine Kette von zusammenhängenden Ideen und Vorstellungen zu entwickeln oder ihnen zu folgen ("roter Faden" geht verloren).
> Das Dialogthema wird abrupt "vergessen" oder gewechselt.
> Schwierigkeiten, bildhafte Ausdrücke richtig zu deuten oder Humor und Ironie als solche zu erkennen.
> Perseverationen ("Hängenbleiben" an einem Gedanken oder einer sprachlichen Äußerung ohne Rücksicht auf den Fortgang des Gesprächs).

Kommunikation mit Alzheimer-Kranken 
Für das Gespräch mit Patienten, die an Alzheimer-Demenz leiden, hat sich folgendes Vorgehen bewährt [nach 9]
> Verständnisvolle Grundhaltung
> Geduld! Zeit geben für Reaktionen oder Entgegnungen
> Klare Anweisungen in einfachen, kurzen Sätzen
> Deutliche und bestimmte Sprache
> Konkrete Angaben wie Zeit, Datum, Ort und Namen bieten Erinnerungshilfen
> Wichtige Informationen bei Bedarf wiederholen
> Nicht diskutieren, Anschuldigungen überhören
> Statt auf der eigenen Meinung zu beharren, ablenken und einlenken
> Lob bei richtigem Reagieren durch Worte, Berühren, Lächeln oder Ähnliches

Positives Gesprächsverhalten 
Für ein gutes Gespräch - übrigens nicht nur - mit alten Patienten sind folgende non­verbale Verhaltensweisen förderlich: 
> Augenkontakt (unverzichtbar!)
> Lächeln
> Nicken
> Sich zum Patienten herunterbeugen (z. B. zum Rollstuhl der Älteren)
> Sanfte Bewegungen

Aktives Zuhören 
Aktives Zuhören ist die wichtigste Gesprächstechnik. Dies gilt in besonderem Maße für das Gespräch mit älteren Menschen. Aktives Zuhören ist an drei Voraussetzungen gebunden:
> Authentisches und nicht nur "professionelles" Interesse am Gesprächspartner
> Fähigkeit und Bereitschaft zuzuhören
> Völlige (auch mentale!) Präsenz
Aktives Zuhören bedeutet "aufnahmebereite Zuwendung". Es ermöglicht nicht nur das Gesprochene zu erfassen, sondern auch ein Ohr für Hintergründe, Unausgesprochenes und Zwischentöne zu entwickeln. Aktives Zuhören ist das komplementäre Element zum Sprechen. Beide Einzelelemente sind Fragmente, die für sich alleine kein vollwertiges Gespräch ausmachen. Erst die Verflechtung von aktivem Zuhören und Sprechen ermöglicht ein erfolgreiches Gespräch [10].

Tab. 2
Differenzierung zwischen Depression und Alzheimer-Demenz [modif. n. 11]
Kriterien Depression Demenz
Krankheitsbeginn Meist schnell Schleichend
Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörungen Leicht, klingen mit der Depression ab Progrediente Störungen des Kurzzeitgedächtnisses
Formales Denken Verlangsamt, gehemmt Umständlich, weitschweifig
Inhaltliches Denken Verarmt, Schuldgefühle, Hypochondrie Verfolgungsgedanken
Auffassungsstörungen Meist keine Ausgeprägt
Affekt Morgentief, 
Hoffnungslosigkeit
Affektlabil, affektarm, ratlos, Leistungen abends meist schlechter
Schlafstörungen Früherwachen Schlaf-Wachrhythmus-Umkehr, nächtliche Verwirrung
Antriebs- und 
psychomotorische Störungen
Antriebsarm, gehemmt Motorisch unruhig, zielloses Wandern ("Demenzschleife")
Therapieerfolg mit 
Antidepressiva
Besserung oder 
Abklingen der Symptomatik
Besserung der depressiven Symptome, nicht aber der kognitiven Störungen
Die Technik des "Spiegelns"
Das Prinzip des Spiegelns beruht darauf, dass der Arzt dem Patienten gegenüber sprachlich wiedergibt, was er gehört und verstanden hat bzw. glaubt verstanden zu haben. Schon bei Sigmund Freud heißt es: "Der Arzt … soll wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird." Beim Spiegeln geht es darum, in Worte zu fassen, was der Gesprächspartner nicht richtig ausdrücken kann und/oder worüber er sich selbst noch nicht im Klaren ist. Das Spiegeln fördert das Gefühl des Verstanden- und Angenommenwerdens. Sein wesentlicher Effekt liegt darin, dass es dem Patienten dazu verhilft, mehr Klarheit über seine Erlebniswelt, seine Gefühle, Einstellungen, Wünsche, Werte und Ziele zu gewinnen. Gutes Spiegeln muss systematisch erlernt werden, am besten unter Supervision [12].

Totschlagargument "Zeitnot" 
Ärzte sind fast immer bereit, den hohen Stellenwert eines qualifizierten Arzt-Patient-Gesprächs anzuerkennen, beklagen aber ebenso regelhaft, dass dafür im ärztlichen Alltag nicht genügend Zeit vorhanden sei. Dabei ist erwiesen, dass sich eine ausreichende Zeitinvestition, vor allem im Erst-Interview, "rechnet" und per saldo zeitsparend, zumindest aber zeitneutral ist:
> Es entfallen viele zusätzliche Kurzgespräche.
> Eine patientengerechtere und gezieltere Behandlung wird möglich.
> Diagnostische und therapeutische Umwege und Sackgassen können vermieden werden (verkürzte Verweildauer).
> Die beruflichen Anforderungen werden reduziert.
> Kosten im Gesundheitswesen werden gesenkt [13].

 Fazit
Die Dialogfähigkeit alter Menschen hängt nicht nur von ihrem verbliebenen psychophysischen Potential ab, sondern auch davon, wie ihre Kommunikationspartner sie wahrnehmen. Diese Wahrnehmung ist nicht selten durch Altersvoreingenommenheit beeinflusst. Dies zu erkennen und zu überwinden ist wesentliche Grundlage für das Gespräch mit alten Menschen. Das gute Gespräch mit alten Menschen setzt Respekt, Einfühlung und Fürsorge voraus. Mangelnder Respekt ist die Hauptursache für eine "patronisierende Kommunikation", die durch infantilisierende Merkmale geprägt ist und nonverbal Desinteresse und Geringschätzung signalisiert. Sie zu vermeiden, ist für das erfolgreiche Gespräch mit alten Patienten unabdingbar. Der gelungene Dialog mit alten Menschen kann für Ärzte und Pfegekräfte von großer Befriedigung sein. Sie haben die Chance, dankbare Patienten zu erleben, weil diese sich in ihren physischen, psychischen und sozialen Bedürfnissen verstanden und angenommen fühlen.
 

Literatur

[1] Fiehler R, Thimm C. Sprache und Kommunikation im Alter. Wiesbaden: Opladen; 1998

[2] Schirrmacher F. Das Methusalem-Komplott. München: Blessing; 2004. S. 164

[3] Watzlawick P, Beavin JH, Jackson DD. Menschliche Kommunikation. Göttingen: H. Huber: 2000

[4] Geisler LS. Vortrag. http://www.linus-geisler.de/vortraege/0406arzt-patient-gespraech_qualitaetssicherung.html  -  Interner Interner Link

[5] Zit. n. Schernus, R. Abschied von der Kunst des Indirekten ... In: J. Blume et al. Ökonomie ohne Menschen? Neumünster; Paranus: 1997

[6] Illhardt FJ. Ageismus im Umgang mit alten Menschen ... ZfPG 1995;8;9-16

[7] Ryan EB et al. Communication predicaments of aging: ... JLangSocPsychol 1995;14:144-166.

[8] Schecker M. Sprache und Demenz. In: [1]

[9] Füsgen I. Demenz. Praktischer Umgang mit ... Urban & Vogel: 2001

[10] Geisler L. Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. Frankfurt/Main. 2002.  -  Interner Interner Link

[11] Kasper S, et al. Depression. Diagnose und Pharmakotherapie. Stuttgart: Thieme; 2002

[12] Weber W: Wege zum helfenden Gespräch. München: Reinhardt; 2006

[13] Lalouschek J. Ärztliche Gesprächsausbildung. Radolfzell: Verlag für Gesprächsforschung; 2002
 

Online-Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Thieme Verlags, Stuttgart.

Geisler, Linus S.: Das Gespräch mit dem alten Patienten
Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2007;2: 146-148
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2007/200702ains-gespraech_alter_patient.html

© Thieme Verlag, Stuttgart
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