Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: DIE ZUKUNFT DES TODES - ÜBERLEGUNGEN ZUM "HIRNTOD". CHIRURGISCHE ALLGEMEINE, Mai 2006
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Die Zukunft des Todes - Überlegungen zum "Hirntod"

Von Linus S. Geisler
Noch nie wurde der Tod - so wird behauptet - so sehr verdrängt, ausgesperrt, ausgetrickst wie in unserer Zeit. Durch den schwindenden Jenseitsglauben entstehe eine "transzendentale Obdachlosigkeit des Menschen" so der Philosoph Georg Lukács [1]. Doch sie sei nicht imstande die kreatürliche Angst vor dem Tod zum Verschwinden zu bringen. Daher werde das Sprechen über den Tod und über alles was an ihn erinnert, aus dem Alltag verbannt. Zum Sterben werden die meisten Menschen in institutionelle Exklaven (Krankenhäuser, Altenheime) ausgelagert oder sterben, selbst in Großstädten, bisweilen unbemerkt. Bekannt geworden ist der Fall des 'Toten von Barmbek' (1998), der mehr als fünf Jahre lang leblos in seiner Wohnung vor dem noch flimmernden Fernsehgerät lag. Die Toten geraten immer mehr aus dem Blickfeld. Die Zahl anonymer Bestattungen wächst sprunghaft. Seebestattungen, die keine Gedenkkultur mehr erlauben, kommen mehr und mehr in Mode. Die Belegzeiten der Gräber werden kürzer. Es gibt keine "ewigen" Grabstätten mehr. Der Sarg mit dem Leichnam wird sofort geschlossen. Eventuell kann der Tote noch hinter Glas angeschaut werden. Jeder Körperkontakt wird unterbunden. Eine Aufbahrung im Sterbehaus kommt kaum mehr vor.
In den meisten Kulturen gab es zwischen Tod und Bestattung eine Zeit der Besinnung und der Ablösung

In den meisten Kulturen gab es zwischen dem Tod des Menschen und seiner Bestattung eine Wartefrist, eine Zeit der Besinnung und der Ablösung von dem Verstorbenen [2]. In dieser Zeit wurde der Verstorbene nicht selten wie ein Lebender versorgt. Man brachte ihm Speisen und Getränke und leistete ihm Gesellschaft. Im alten Griechenland, so berichtete Herodot, wurden die Toten drei Tage aufgebahrt, bevor man sie beerdigte. Noch länger war diese Zeit der Achtung und Schonung des toten Körpers bei den Römern. Der Körper wurde am achten Tag verbrannt und die Asche am neunten Tag zu Grabe gelegt. Die Zeit des Abschiednehmens wurde nicht auf drängende Viertel- und Halbestunden zusammengepreßt. Die Sioux hüllten ihre Verstorbenen in ihre besten Gewänder und bahrten sie mit vielen Geschenken auf einer Plattform drei Meter über der Erde auf. Dort durfte der Körper noch ein Jahr ruhen, bevor er beerdigt wurde (Baumbestattung). Im Bardo Thödol, dem tibetischen Totenbuch, wird subtil jener Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt beschrieben, der bis zu 49 Tage dauern kann. In Dänemark durfte noch 1966 ein Verstorbener erst nach Ablauf von mindestens sechs Stunden aus seinem Sterbebett genommen werden, was auf heftigen Widerstand der Ärzte stieß. Diese symbolische "Minute" einer scheinbaren Tatenlosigkeit nach dem Tode, die den Toten vor möglichen Zugriffen bewahrt, ist aus keiner Sterbekultur wegzudenken. In einem seiner letzen Briefe schrieb der weise Hans Jonas fast flehend über die zur Organentnahme anstehenden Hirn-Toten: "Laßt sie zuerst sterben..." [3].
Fortschreitende medizinische Technologien haben die Grauzone zwischen Leben und Tod immer weiter ausgedehnt
Die sattsam wiederholte Behauptung von der gegenwärtigen Verdrängung des Todes steht in erstaunlichem Widerspruch zu der offensichtlich breit gefächerten Befassung mit dem Tod in den verschiedensten Sujets: Sterbehilfe, Euthanasie, Nahtod-Erlebnisse, esoterische Ratgeber für gelungenes Sterben, Belletristik, Talkshows und schließlich der Expertenstreit zwischen Theologen, Anthropologen, Philosophen, Juristen und Medizinern über jenen Zeitpunkt, ab dem der Mensch rechtlich angeblich zum herrenlosen, verfügbaren Gut geworden ist [4]. Todesvergessenheit oder Todesversessenheit? Oder beides zugleich? Ein scheinbar paradoxer Synergismus, der eine höhere Form der Todesverleugnung anzielt, wie Marianne Groenemeyer vermutet? Vieles spricht dafür. Sicher ist, daß heute die Thematisierung des Todes weniger von metaphysischem Grauen als von utilitaristischer Pragmatik bestimmt wird.

Fortschreitende medizinische Technologien haben die Grauzone zwischen Leben und Tod immer weiter ausgedehnt. Auf dem früher unerbittlichen Weg vom Leben zum Staub wurde ein Prozeß nach dem anderen für mehr oder minder lange Zeit festgeschrieben. So erscheint der Hirntod heute als ein durch Intensivmedizin zeitlupenhaft auf Stunden und Tage, gelegentlich auf Monate ("chronic brain death"), zerdehnter Ablauf im Sterbeprozeß. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatte noch niemand einen "Hirntoten" gesehen [5]. Die Technik hat diese Grauzone nicht erschaffen, sondern sie nur so weit überdehnt, daß sie unserer Wahrnehmung zugänglich wurde. Es zeigte sich, daß Leben und Tod nicht einander ausschließende, sondern sich gewissermaßen überlappende Zustände darstellen. Der Tod war schon immer ein Prozeß und Leben und Tod keine binären Zustände.
Es besteht die Gefahr, daß der Prozeß des Sterbens bereits mit dessen Endpunkt verwechselt oder absichtlich umgedeutet wird
Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Es besteht die Gefahr, daß der Prozeß des Sterbens bereits mit dessen Endpunkt verwechselt oder absichtlich umgedeutet wird. Ferner, daß die Ausweitung der Grauzone und ihre zunehmende Unschärfe dazu führt, Zustände, die noch nicht dem Prozeß des Sterbens zuzurechnen sind, bereits als Sterbeprozeß zu definieren oder schon als den Tod des Menschen auszugeben. Ist also die Gleichsetzung von Hirntod mit dem Tod des Menschen letztlich nichts anderes als die (absichtliche) Verwechslung von Prognose und Diagnose? Man wird an die Lessingsche Fabel vom alten Wolf erinnert, der dem Schäfer verspricht, sich nur von toten Schafen zu ernähren. Doch der Schäfer durchschaut ihn: "Ein Tier, daß mir schon tote Schafe frißt, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe für tot, und gesunde für krank anzusehen." [6]. Das unumkehrbare Versagen des Gehirns ist - so viel wir heute zu wissen glauben - die zum Tode führende Erkrankung. Das gilt für den Spender wie den Nicht-Spender. Die unmittelbare Todesursache ist im Falle des Nichtspenders das Abschalten der Apparate auf der Intensivstation, im Falle des Spenders die Entnahme seiner Organe [7]. Die Einbindung des Sterbenden in ein Zusammenwirken von Apparaturen verschleiert die Grauzone zwischen Leben und Tod noch weiter. Der Tod wird "zum Binnenereignis innerhalb des Apparates" schreibt Günter Anders [8]. Die phänomenologische Verwischung von noch sicher Lebenden und sich schon im Sterbeprozeß Befindenden eröffnet ein immer weiteres Feld für definitorische Übungen mit schwindender Beweiskraft. Schiefe Metaphern, die mit biologisch unkorrekten Bildern wie dem der "inneren Enthauptung" operieren, sorgen zusätzlich für Intransparenz. Wortkonstruktionen von bemerkenswerter Gewundenheit, wie "hirntoter, beatmet noch überlebender übriger Körper", kurz gesagt ein "Hirntod-Körper" [9] enthüllen als sprachlicher Spagat das anthropologisch dahinter liegende Paradoxon und erweisen sich als hermeneutische Blindgänger.
Die Versuchung wächst, den Zeitpunkt des Todes ständig vorzuverlegen - Forschung an Hirntoten ist längst kein Phantom mehr
Der Spielraum, in dem sich eine Todesdefinition finden und begründen läßt, wird immer größer. Die Versuchung wächst, den Zeitpunkt des Todes ständig vorzuverlegen. Damit wächst das begehrte Quantum an restlichem Leben, bei bereits erklärtem Tod. Dieser "Lebensrest" gewinnt zunehmend an Attraktivität. Solche "Toten" haben nicht mehr die Rechte von Lebenden, aber weitgehend ihre Funktionen. Ihre Organe sind lebensfrisch, ihr Stoffwechsel erlaubt Experimente, die sonst von keiner Ethikkommission abgesegnet würden. Extremwissenschaftler können sich vorstellen, solchen "Toten" die Arme oder Beine zu brechen und seitendifferent zu behandeln, um die besseren Therapiemöglichkeiten unter optimalen Vergleichsbedingungen zu testen. Die Forschung an Hirntoten ist längst kein Phantom mehr. An der Universität von Pittsburgh existiert bereits seit 2002 ein Komitee zur Überwachung der Forschung mit Toten (CORID = Committee for Oversight of Research Involving the Dead) [10]. Das hartnäckige Bemühen, das Hirntodkonzept von jeder anrüchigen Nähe zur Organtransplantation fernzuhalten und exklusiv als Todeskriterium zu offerieren, wird von der klinischen Realität konterkariert. In dieser ist der Hirntod wie ein siamesischer Zwilling untrennbar mit der Legitimation zur Organentnahme verbunden. Dieses, der Transplantationsmedizin anhaftende Unbehagen, begleitet sie als enervierende Dissonanz. Ein Unterton der Verzweiflung klingt in der Frage von Truog an, mit der er einen berühmt gewordenen Artikel überschrieb: "Ist es nicht Zeit, den Hirntod aufzugeben?" [11]. Sollten wir nicht bescheidener werden, schlägt er vor, und uns rein pragmatisch damit begnügen einfach festzulegen, wann ein Mensch "tot genug ist", um lebenserhaltende Maßnahmen zu beenden, ihm Organe zu entnehmen, sein Testament zu vollstrecken oder ihn einzuäschern. Das Verschwinden des Todes zugunsten der Bestimmung zweckgebundener Zustände? Aber genau dieses Bemühen dekuvriert das fundamentale Problem: Wie kann man den Hirntod aufgeben, wenn er deckungsgleich mit dem Tod des Menschen sein soll?

Selbst der Begriff der Irreversibilität des Hirntodes ist nicht gegen Neudefinitionen gefeit. Wird zukünftig zwischen irreversibler und reversibler Irreversibilität zu unterscheiden sein? Die Neurobiologie setzt auf bislang unterschätzte reparative Fähigkeiten des ZNS. Die Stammzellforschung hat gezeigt, daß das Gehirn die Fähigkeit besitzt, neue pluripotente Zellen zu entwickeln, die in der Lage sind, in geschädigten Hirnarealen das Nervenwachstum zu stimulieren [12]. Auch eine Blockade jener chemischen Abläufe, die normalerweise die neuronale Regeneration im ZNS unterdrücken, erscheint möglich. Was, wenn der Hirntod durch passagere Externalisierung der Hirnfunktionen auf Chipebene Zeit gewinnen läßt für restaurative therapeutische Maßnahmen und dadurch überwunden werden könnte? Der Tod als grundsätzlich widerrufbares Ereignis? Wird dann zwischen endgültigem und vorübergehendem Tod unterschieden werden müssen?
Nach den Harvard-Kriterien wäre die Diagnose des Hirntodes in Deutschland heute in den meisten Fällen nicht haltbar
Bei genauem Hinsehen wird deutlich, daß der Hirntod als Kriterium erhebliche Unscharfen aufweist. Wer redlich ist, muß eingestehen, daß Handlungsoptionen, die auf diesem Begriff gründen, sich schwerlich verallgemeinern lassen. Die Richtlinien der Harvard-Kommission zur Hirntoddiagnostik von 1968, sozusagen der Ur-Kodex der Transplantationsmedizin, setzten - im Gegensatz zu den heute bei uns gültigen Kriterien - völlige Reflexlosigkeit für den Nachweis des Hirntodes voraus [13]. Nach diesen Kriterien wäre die Diagnose des Hirntodes in Deutschland heute in den meisten Fällen nicht haltbar. 1978 waren bereits mehr als 30 verschiedene Kriteriengruppen für die Feststellung des Hirntodes in Gebrauch [14]. Einige erfordern ein Elektroenzephalogramm, andere nicht. Beispielsweise verlangen die Kriterien von Minnesota kein EEG, wohingegen dies bei den Kriterien von Harvard und in Japan der Fall ist. Auch in England wird zur Hirntoddiagnose kein EEG gefordert, in Norwegen jedoch eine zerebrale Angiographie verlangt. In England reicht der endgültige Ausfall des Hirnstamms zur Todesdiagnose. Dies bedeutet, daß das Vorliegen vereinzelter Teilfunktionen der Großhirnrinde und damit Reste von Wahrnehmung nicht ausgeschlossen werden können. Dies war auch der Grund, warum zwei englische Anästhesisten 2000 in einem Editorial der Zeitschrift Anaesthesia vorschlugen, Organspendern Organe nur in Vollnarkose zu entnehmen [15]. Theoretisch könnte also ein Patient an einem bestimmten Ort kraft einer dort gültigen Kriteriengruppe für tot befunden werden, nicht aber an einem anderen Ort, wo eine andere Kriteriengruppe gilt.

Paradoxien auf einer anderen Ebene ergeben sich, wenn für die Auslegung des Hirntodes persönliche (religiöse) Überzeugungen ins Spiel kommen. Die Hirntod-Gesetzgebung in New Jersey - die unter dem Druck orthodoxer Juden, die den Hirntod nicht als Tod akzeptieren, zustande gekommen ist - erlaubt zum Beispiel eine religiöse Ausnahmeregelung. Dies bedeutet, daß Hirntote in New Jersey als tot gelten, falls nicht ihre Angehörigen als Teil einer einflußreichen religiösen Lobby wünschen, sie nicht als Tote einzustufen [16]. Diese Dilemmata geben Anlaß, sich in fragwürdige Hilfskonstruktionen zu flüchten. Von der führenden amerikanischen Ethikerin Linda Emanuel stammt der Vorschlag, zwischen permanentem Bewußtseinsverlust und endgültigem Sistieren der Atmung gesetzlich eine "Sterbezone" ("dying zone") zu definieren [17]. Innerhalb dieser Zone soll es Menschen gestattet sein, eigene Definitionen des Todes zu entwickeln, die einen Behandlungsabbruch und eine Organentnahme bis zum Zustand der dauerhaften Bewußtlosigkeit erlauben. Oberhalb dieser Zone soll Euthanasie nicht erlaubt sein, und niemand soll begraben oder eingeäschert werden dürfen, bevor nicht seine Atmung unwiderruflich zum Stillstand gekommen ist.
Die Vorstellung vom Gehirn als dem obersten Steuerungsorgan gilt aus Sicht namhafter Hirnforscher als widerlegt
Den Hirntod als Tod des Menschen zu definieren, basiert auf der Grundannahme, das Gehirn sei das zentrale Steuerungsorgan des Körpers. Zweifel sind angebracht. Zunächst ist der Hirntod das nach heutigem Forschungsstand irreversible Versagen eines Organs, nicht mehr und nicht weniger. Alan Shewmon, Neurologe und Hirntodspezialist an der UCLA, hat in einer Metaanalyse 56 Patienten mit "chronischem Hirntod" (Hirntodkriterien noch mindestens eine Woche nach der Hirntoddiagnose nachweisbar) beschrieben [18]. Manche lebten noch einige Jahre ohne Kreislaufunterstützung, lediglich mit künstlicher Beatmung. Er beobachtete, daß die Tendenz zur Asystolie im Zustand des Hirntodes manchmal nur anfänglich und nur vorübergehend besteht. Dies spricht gegen die Auffassung, daß das Gehirn das Zentralorgan zur Aufrechterhaltung systemischer Körperfunktionen ist. Shewmons logische Folgerung: Wenn der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt wird, müßte dies auf einer plausibleren Grundlage geschehen als der Annahme, das Gehirn sei die übergeordnete integrative somatische Einheit. Die Vorstellung vom Gehirn als dem obersten Steuerungsorgan, dem weitere Subsysteme untergeordnet sind, gilt aus Sicht namhafter Hirnforscher als widerlegt [19]. Aus biologisch-systemtheoretischer Sicht entsteht Leben durch die Fähigkeit zur Selbstherstellung (Autopoiese) und Selbsterhaltung. Sie sind das Resultat der Interaktion physikalisch-chemischer Komponenten in einem autopoietischen Netzwerk ohne ein lokalisierbares zentrales Steuerungsorgan. Das Leben hört auf, wenn dieses Netzwerk der gegenseitigen Herstellung und Erhaltung zusammenbricht. Dies ist der Fall, wenn konstitutive Organe wie Herz, Gehirn, Nieren oder Leber ersatzlos ausfallen.

Die These von der übergeordneten integrativen Funktion des Gehirns wird im Falle einer hirntoten Schwangeren völlig in Frage gestellt. Die hirntote schwangere Frau, die als ,Tote' imstande ist, in ihrem Leib einen Fetus zu ernähren, ihn gedeihen und sogar bis zu ungestörter Lebensfähigkeit heranreifen zu lassen, ist begreiflicherweise für die Verfechter des Hirntodkonzepts ein Dorn im Auge. Die längste bekannt gewordene Schwangerschaft einer hirntoten Frau betrug 107 Tage. Sie wurde durch Kaiserschnitt von einem gesunden Jungen entbunden (Conley Hilliker), der sich normal entwickelte [20]. Vage Erklärungen wurden halbherzig herangezogen und von "subzerebraler neuronaler Integration" gesprochen. Die Schwangere wurde auf den Status eines "Brutkastens" reduziert, der lediglich den Fetus mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt [21]. Die Bundesärztekammer weicht dem Problem aus, indem sie lakonisch feststellt: "Eine Schwangerschaft wird endokrinologisch von der Plazenta und nicht vom Gehirn der Mutter aufrechterhalten" [22]. Nur die entscheidende Tatsache bleibt unausgesprochen: Die Plazenta befindet sich nicht in einem Vakuum oder einem künstlichen Uterus, sondern in einer lebenden Frau.
Es ist nicht sinnvoll, den Todesbegriff allein einer naturwissenschaftlichen Deutungshoheit zu überlassen
Die Ausblendung kultureller Deutungsmuster des Todes zugunsten einer rein naturwissenschaftlich begründeten Definition muß zwangsläufig zu unlösbaren Konflikten im Todesdiskurs führen. Es ist das Verdienst von Thomas Schlich deutlich gemacht zu haben, daß es nicht sinnvoll ist, in der Auseinandersetzung um den Tod des Menschen eine scheinbar eindeutige Zäsur zwischen Natur und Kultur ziehen zu wollen [23]. Im Mittelalter konnten Menschen, die sich noch nicht einmal im Sterbeprozeß befanden, wie beispielsweise Aussätzige, zu Toten erklärt, entrechtet und aus den Städten vertrieben werden. Lange Zeit war es in jüdischen Gemeinden in Osteuropa üblich, für einen mit dem Tode ringenden jungen Menschen virtuell "Jahre zu sammeln", in dem Gemeindemitglieder sich bereit erklärten auf Wochen, Monate oder Jahre ihres eigenen Lebens zu verzichten - sozusagen das Gegenszenario des hirntoten jungen Menschen, der als Quelle zusätzlicher Lebenszeit für die Mitglieder einer Gesellschaft dient. In Japan, so der Kulturwissenschaftler William LaFleur von der Pennsylvania State University, ist die Assoziationsbrücke zwischen Organtransplantation und Kannibalismus legitim, selbst in der parlamentarischen Diskussion, während sie im Westen als populistische Polemik abgetan wird. Aus kulturellen und religiösen Gründen ist im japanischen Gesetz über Organtransplantation vom 17. Juni 1997 die Organentnahme bei Hirntoten zur Transplantation zwar erlaubt, der Hirntod jedoch kein Todeskriterium. Voraussetzung ist ferner, daß eine schriftliche Einwilligung des Spenders vorliegt und die informierten Angehörigen der Entnahme nicht widersprechen [24]. Eine Multiorgan-Transplantation in einem westlichen Transplantationszentrum und die Zerstückelung von Toten im tibetischen Hochland (Luftbestattung), um den Verzehr der sonst nicht zu beseitigenden Körper durch Geier zu erleichtern - aber auch aus karmischen Gründen - sind grundlegend unterschiedliche Antworten auf die Frage, was man mit Toten tun darf. Dies bedeutet, daß sich die Zukunft des Todesbegriffes in enger Bindung an den Primat einer naturwissenschaftlichen Deutungshoheit und dem Zurückdrängen soziokultureller Sinndeutungen entwickeln könnte. Die Frage wäre dann nicht mehr, was können wir für Tote tun, sondern was können wir mit ihnen machen? Ob diese wie auch immer als tot bezeichneten Toten "wirklich" tot sind, könnte zum nachgeordneten Problem werden. Entscheidend wäre nur noch, ob die Kriterien zu ihrer Instrumentalisierung erfüllt sind. Schon Hans Jonas schrieb, die Kernfrage sei nicht: "Ist der Patient gestorben?, sondern: Was soll mit ihm - immer noch ein Patient - geschehen?" [25].

Die Zukunft des Todes ist ungewiß. Das gilt für den Tod des Menschen sowohl als Begriff als auch als Handlungsanleitung. Werden die Naturwissenschaften unter Ausblendung des soziokulturellen Kontexts weiter über das Deutungsmonopol verfügen, ist ein kaum absehbarer Spielraum für Definitionen und Szenarien zu erwarten. Erfüllt sich jedoch die Vision, daß die Organtransplantation als einzige Therapieform, die immer an Eingriffe in die Leiblichkeit des Anderen gebunden ist, durch wirkliche Fortschritte der Medizin überholt sein wird, dann könnten sich die Sichtweisen auf den Tod grundlegend ändern. Ob die Medizinhistorie einmal auf die Ära der Organtransplantation als glorreiche oder düstere Epoche zurückblicken wird, sei dahingestellt. Denkbar aber wäre, daß in Zukunft jene symbolische "Minute" einer scheinbaren Tatenlosigkeit nach dem Tode wieder Eingang in die Sterbekulturen findet.

Literatur

[1] Lukács G (1916) Die Theorie des Romans. Z Ästhetik Allg Kunstwissensch 11:226 ff

[2] Geisler LS (1996) Organtransplantation aus medizinischer Sicht - ethische, gesundheitspolitische Fragestellungen und gesellschaftlicher Rahmen. Wege zum Menschen 48: 211-224 
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9605fwzm_organtransplantation.html   -  Interner Interner Link

[3] Jonas H (1994) Brief an Hans-Bernhard Wuermeling. New York, im November 1992. In: Hoff J, in der Schmitten J (Hrsg) Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium. Rowohlt, Reinbek

[4] Schoeppe W (1994) Der Leichnam gesetzlich ein herrenloses Gut. FAZ v 22.7.1994, S 8

[5] Hoff J, in der Schmitten J; Hrsg (1994) Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium. Rowohlt, Reinbek, S 155

[6] Lessing GE (1759) Fabeln

[7] In der Schmitten J (2002) Organtransplantation ohne "Hirntod"-Konzept. Anmerkungen zu R.D. Truogs Aufsatz: Is it time to abandon brain death? Ethik Med 14: 60-70

[8] Anders G (1988) Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. II. München, S 247

[9] Spittler JF (1995) Der Hirntod - Tod des Menschen. Grundlagen und medizinethische Gesichtspunkte. Ethik Med 7:128-145

[10] Eberle U (2005) Forschung am Sterbebett. Die Zeit Nr 24 v 9.6.2005

[11] Truog RD (1997) Is it time to abandon brain death? Hastings Center Report 27:29-37

[12] Yandava D, Billinghurst LL, Snyder EY (1999) Global cell replacement is feasible via neural stem cell transplantation: evidence from the dysmyelinated shiverer mouse brain. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 96: 7029-7034

[13] Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death (1968) A definition of irreversible coma. JAMA 205:337-342

[14] Black PM (1978) Brain death (Teil 1 von 2 Teilen). N Engl J Med 299: 338-344

[15] NN (2000) Diskussion um Anästhesie nach Hirntod. Briten fordern Organentnahme in Narkose. NZZ Neue Zürcher Zeitung v 13.9.2000

[16] Hughes JJ (2001) The future of death. Cryonics and the Telos of liberal individualism. J Evol Technol 6: July

[17] Emanuel L (1995) Reexamining death: the asymptomatic model and a bounded zone definition. Hastings Center Report 25:27-35

[18] Shewmon DA (1998) Chronic brain death: meta-analysis and conceptual consequences. Neurology 51:1538-1545

[19] Roth G, Dicke U (1994) Das Hirntodproblem aus der Sicht der Hirnforschung. In: Hoff J, in der Schmitten J (Hrsg) Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium. Rowohlt, Reinbek, S 51

[20] Bernstein IM, Watson M, Simmons GM, et al (1989) Maternal brain death and prolonged fetal survival. Obstet Gynecol 74:3 part 2,434-43

[21] Oduncu FS (1998) Der Hirntod als Todeskriterium - Biologisch-medizinische Fakten, anthropologisch-ethische Fragen. Medizinstrafrecht, S 199

[22] Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (1998) Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes, 3. Fortschreibung 1997 gemäß Transplantationsgesetz (TPG). Stand: 24.7.1998

[23] Schlich Th (2001) Scheintote und Wiedergänger. Eine unsichtbare Grenze: Die Todesfeststellung zwischen Biologie und kulturellen Deutungsmustern. Frankfurter Rundschau v 27.3.2001

[24] Saito S (2003) Hirntod und Organtransplantation aus japanischer Sicht. In: FS Oduncu, Schroth U, Vossenkuhl (Hrsg) Transplantation. Organgewinnung und -allokation. Göttingen, S 118

[25] Jonas H (1990) Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Insel Verlag, Frankfurt, S 228 ff
 


Geisler, Linus S.: Die Zukunft des Todes - Überlegungen zum "Hirntod"
CHIRURGISCHE ALLGEMEINE, 7. Jahrgang, Mai 2006, S. 238-242
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2006/200605chaz-hirntod.html

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