Die Zukunft des Todes - Überlegungen
zum "Hirntod"
Von
Linus S. Geisler
Noch nie wurde der Tod - so
wird behauptet - so sehr verdrängt, ausgesperrt, ausgetrickst wie
in unserer Zeit. Durch den schwindenden Jenseitsglauben entstehe eine "transzendentale
Obdachlosigkeit des Menschen" so der Philosoph Georg Lukács [1].
Doch sie sei nicht imstande die kreatürliche Angst vor dem Tod zum
Verschwinden zu bringen. Daher werde das Sprechen über den Tod und
über alles was an ihn erinnert, aus dem Alltag verbannt. Zum Sterben
werden die meisten Menschen in institutionelle Exklaven (Krankenhäuser,
Altenheime) ausgelagert oder sterben, selbst in Großstädten,
bisweilen unbemerkt. Bekannt geworden ist der Fall des 'Toten von Barmbek'
(1998), der mehr als fünf Jahre lang leblos in seiner Wohnung vor
dem noch flimmernden Fernsehgerät lag. Die Toten geraten immer mehr
aus dem Blickfeld. Die Zahl anonymer Bestattungen wächst sprunghaft.
Seebestattungen, die keine Gedenkkultur mehr erlauben, kommen mehr und
mehr in Mode. Die Belegzeiten der Gräber werden kürzer. Es gibt
keine "ewigen" Grabstätten mehr. Der Sarg mit dem Leichnam wird sofort
geschlossen. Eventuell kann der Tote noch hinter Glas angeschaut werden.
Jeder Körperkontakt wird unterbunden. Eine Aufbahrung im Sterbehaus
kommt kaum mehr vor.
In den meisten Kulturen gab es zwischen
Tod und Bestattung eine Zeit der Besinnung und der Ablösung |
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In
den meisten Kulturen gab es zwischen dem Tod des Menschen und seiner Bestattung
eine Wartefrist, eine Zeit der Besinnung und der Ablösung von dem
Verstorbenen [2]. In dieser Zeit wurde der Verstorbene nicht selten wie
ein Lebender versorgt. Man brachte ihm Speisen und Getränke und leistete
ihm Gesellschaft. Im alten Griechenland, so berichtete Herodot, wurden
die Toten drei Tage aufgebahrt, bevor man sie beerdigte. Noch länger
war diese Zeit der Achtung und Schonung des toten Körpers bei den
Römern. Der Körper wurde am achten Tag verbrannt und die Asche
am neunten Tag zu Grabe gelegt. Die Zeit des Abschiednehmens wurde nicht
auf drängende Viertel- und Halbestunden zusammengepreßt. Die
Sioux hüllten ihre Verstorbenen in ihre besten Gewänder und bahrten
sie mit vielen Geschenken auf einer Plattform drei Meter über der
Erde auf. Dort durfte der Körper noch ein Jahr ruhen, bevor er beerdigt
wurde (Baumbestattung). Im Bardo Thödol, dem tibetischen Totenbuch,
wird subtil jener Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt beschrieben, der
bis zu 49 Tage dauern kann. In Dänemark durfte noch 1966 ein Verstorbener
erst nach Ablauf von mindestens sechs Stunden aus seinem Sterbebett genommen
werden, was auf heftigen Widerstand der Ärzte stieß. Diese symbolische
"Minute" einer scheinbaren Tatenlosigkeit nach dem Tode, die den Toten
vor möglichen Zugriffen bewahrt, ist aus keiner Sterbekultur wegzudenken.
In einem seiner letzen Briefe schrieb der weise Hans Jonas fast flehend
über die zur Organentnahme anstehenden Hirn-Toten: "Laßt sie
zuerst sterben..." [3].
Fortschreitende medizinische Technologien
haben die Grauzone zwischen Leben und Tod immer weiter ausgedehnt |
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Die sattsam wiederholte Behauptung
von der gegenwärtigen Verdrängung des Todes steht in erstaunlichem
Widerspruch zu der offensichtlich breit gefächerten Befassung mit
dem Tod in den verschiedensten Sujets: Sterbehilfe, Euthanasie, Nahtod-Erlebnisse,
esoterische Ratgeber für gelungenes Sterben, Belletristik, Talkshows
und schließlich der Expertenstreit zwischen Theologen, Anthropologen,
Philosophen, Juristen und Medizinern über jenen Zeitpunkt, ab dem
der Mensch rechtlich angeblich zum herrenlosen, verfügbaren Gut geworden
ist [4]. Todesvergessenheit oder Todesversessenheit? Oder beides zugleich?
Ein scheinbar paradoxer Synergismus, der eine höhere Form der Todesverleugnung
anzielt, wie Marianne Groenemeyer vermutet? Vieles spricht dafür.
Sicher ist, daß heute die Thematisierung des Todes weniger von metaphysischem
Grauen als von utilitaristischer Pragmatik bestimmt wird.
Fortschreitende medizinische
Technologien haben die Grauzone zwischen Leben und Tod immer weiter ausgedehnt.
Auf dem früher unerbittlichen Weg vom Leben zum Staub wurde ein Prozeß
nach dem anderen für mehr oder minder lange Zeit festgeschrieben.
So erscheint der Hirntod heute als ein durch Intensivmedizin zeitlupenhaft
auf Stunden und Tage, gelegentlich auf Monate ("chronic brain death"),
zerdehnter Ablauf im Sterbeprozeß. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg
hatte noch niemand einen "Hirntoten" gesehen [5]. Die Technik hat diese
Grauzone nicht erschaffen, sondern sie nur so weit überdehnt, daß
sie unserer Wahrnehmung zugänglich wurde. Es zeigte sich, daß
Leben und Tod nicht einander ausschließende, sondern sich gewissermaßen
überlappende Zustände darstellen. Der Tod war schon immer ein
Prozeß und Leben und Tod keine binären Zustände.
Es besteht die Gefahr, daß der Prozeß
des Sterbens bereits mit dessen Endpunkt verwechselt oder absichtlich umgedeutet
wird |
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Die Konsequenzen liegen auf
der Hand: Es besteht die Gefahr, daß der Prozeß des Sterbens
bereits mit dessen Endpunkt verwechselt oder absichtlich umgedeutet wird.
Ferner, daß die Ausweitung der Grauzone und ihre zunehmende Unschärfe
dazu führt, Zustände, die noch nicht dem Prozeß des Sterbens
zuzurechnen sind, bereits als Sterbeprozeß zu definieren oder schon
als den Tod des Menschen auszugeben. Ist also die Gleichsetzung von Hirntod
mit dem Tod des Menschen letztlich nichts anderes als die (absichtliche)
Verwechslung von Prognose und Diagnose? Man wird an die Lessingsche Fabel
vom alten Wolf erinnert, der dem Schäfer verspricht, sich nur von
toten Schafen zu ernähren. Doch der Schäfer durchschaut ihn:
"Ein Tier, daß mir schon tote Schafe frißt, lernt leicht aus
Hunger kranke Schafe für tot, und gesunde für krank anzusehen."
[6]. Das unumkehrbare Versagen des Gehirns ist - so viel wir heute zu wissen
glauben - die zum Tode führende Erkrankung. Das gilt für den
Spender wie den Nicht-Spender. Die unmittelbare Todesursache ist im Falle
des Nichtspenders das Abschalten der Apparate auf der Intensivstation,
im Falle des Spenders die Entnahme seiner Organe [7]. Die Einbindung des
Sterbenden in ein Zusammenwirken von Apparaturen verschleiert die Grauzone
zwischen Leben und Tod noch weiter. Der Tod wird "zum Binnenereignis innerhalb
des Apparates" schreibt Günter Anders [8]. Die phänomenologische
Verwischung von noch sicher Lebenden und sich schon im Sterbeprozeß
Befindenden eröffnet ein immer weiteres Feld für definitorische
Übungen mit schwindender Beweiskraft. Schiefe Metaphern, die mit biologisch
unkorrekten Bildern wie dem der "inneren Enthauptung" operieren, sorgen
zusätzlich für Intransparenz. Wortkonstruktionen von bemerkenswerter
Gewundenheit, wie "hirntoter, beatmet noch überlebender übriger
Körper", kurz gesagt ein "Hirntod-Körper" [9] enthüllen
als sprachlicher Spagat das anthropologisch dahinter liegende Paradoxon
und erweisen sich als hermeneutische Blindgänger.
Die Versuchung wächst, den Zeitpunkt
des Todes ständig vorzuverlegen - Forschung an Hirntoten ist längst
kein Phantom mehr |
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Der Spielraum, in dem sich eine
Todesdefinition finden und begründen läßt, wird immer größer.
Die Versuchung wächst, den Zeitpunkt des Todes ständig vorzuverlegen.
Damit wächst das begehrte Quantum an restlichem Leben, bei bereits
erklärtem Tod. Dieser "Lebensrest" gewinnt zunehmend an Attraktivität.
Solche "Toten" haben nicht mehr die Rechte von Lebenden, aber weitgehend
ihre Funktionen. Ihre Organe sind lebensfrisch, ihr Stoffwechsel erlaubt
Experimente, die sonst von keiner Ethikkommission abgesegnet würden.
Extremwissenschaftler können sich vorstellen, solchen "Toten" die
Arme oder Beine zu brechen und seitendifferent zu behandeln, um die besseren
Therapiemöglichkeiten unter optimalen Vergleichsbedingungen zu testen.
Die Forschung an Hirntoten ist längst kein Phantom mehr. An der Universität
von Pittsburgh existiert bereits seit 2002 ein Komitee zur Überwachung
der Forschung mit Toten (CORID = Committee for Oversight of Research Involving
the Dead) [10]. Das hartnäckige Bemühen, das Hirntodkonzept von
jeder anrüchigen Nähe zur Organtransplantation fernzuhalten und
exklusiv als Todeskriterium zu offerieren, wird von der klinischen Realität
konterkariert. In dieser ist der Hirntod wie ein siamesischer Zwilling
untrennbar mit der Legitimation zur Organentnahme verbunden. Dieses, der
Transplantationsmedizin anhaftende Unbehagen, begleitet sie als enervierende
Dissonanz. Ein Unterton der Verzweiflung klingt in der Frage von Truog
an, mit der er einen berühmt gewordenen Artikel überschrieb:
"Ist es nicht Zeit, den Hirntod aufzugeben?" [11]. Sollten wir nicht bescheidener
werden, schlägt er vor, und uns rein pragmatisch damit begnügen
einfach festzulegen, wann ein Mensch "tot genug ist", um lebenserhaltende
Maßnahmen zu beenden, ihm Organe zu entnehmen, sein Testament zu
vollstrecken oder ihn einzuäschern. Das Verschwinden des Todes zugunsten
der Bestimmung zweckgebundener Zustände? Aber genau dieses Bemühen
dekuvriert das fundamentale Problem: Wie kann man den Hirntod aufgeben,
wenn er deckungsgleich mit dem Tod des Menschen sein soll?
Selbst der Begriff der Irreversibilität
des Hirntodes ist nicht gegen Neudefinitionen gefeit. Wird zukünftig
zwischen irreversibler und reversibler Irreversibilität zu unterscheiden
sein? Die Neurobiologie setzt auf bislang unterschätzte reparative
Fähigkeiten des ZNS. Die Stammzellforschung hat gezeigt, daß
das Gehirn die Fähigkeit besitzt, neue pluripotente Zellen zu entwickeln,
die in der Lage sind, in geschädigten Hirnarealen das Nervenwachstum
zu stimulieren [12]. Auch eine Blockade jener chemischen Abläufe,
die normalerweise die neuronale Regeneration im ZNS unterdrücken,
erscheint möglich. Was, wenn der Hirntod durch passagere Externalisierung
der Hirnfunktionen auf Chipebene Zeit gewinnen läßt für
restaurative therapeutische Maßnahmen und dadurch überwunden
werden könnte? Der Tod als grundsätzlich widerrufbares Ereignis?
Wird dann zwischen endgültigem und vorübergehendem Tod unterschieden
werden müssen?
Nach den Harvard-Kriterien wäre die
Diagnose des Hirntodes in Deutschland heute in den meisten Fällen
nicht haltbar |
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Bei genauem Hinsehen wird deutlich,
daß der Hirntod als Kriterium erhebliche Unscharfen aufweist. Wer
redlich ist, muß eingestehen, daß Handlungsoptionen, die auf
diesem Begriff gründen, sich schwerlich verallgemeinern lassen. Die
Richtlinien der Harvard-Kommission zur Hirntoddiagnostik von 1968, sozusagen
der Ur-Kodex der Transplantationsmedizin, setzten - im Gegensatz zu den
heute bei uns gültigen Kriterien - völlige Reflexlosigkeit für
den Nachweis des Hirntodes voraus [13]. Nach diesen Kriterien wäre
die Diagnose des Hirntodes in Deutschland heute in den meisten Fällen
nicht haltbar. 1978 waren bereits mehr als 30 verschiedene Kriteriengruppen
für die Feststellung des Hirntodes in Gebrauch [14]. Einige erfordern
ein Elektroenzephalogramm, andere nicht. Beispielsweise verlangen die Kriterien
von Minnesota kein EEG, wohingegen dies bei den Kriterien von Harvard und
in Japan der Fall ist. Auch in England wird zur Hirntoddiagnose kein EEG
gefordert, in Norwegen jedoch eine zerebrale Angiographie verlangt. In
England reicht der endgültige Ausfall des Hirnstamms zur Todesdiagnose.
Dies bedeutet, daß das Vorliegen vereinzelter Teilfunktionen der
Großhirnrinde und damit Reste von Wahrnehmung nicht ausgeschlossen
werden können. Dies war auch der Grund, warum zwei englische Anästhesisten
2000 in einem Editorial der Zeitschrift
Anaesthesia vorschlugen,
Organspendern Organe nur in Vollnarkose zu entnehmen [15]. Theoretisch
könnte also ein Patient an einem bestimmten Ort kraft einer dort gültigen
Kriteriengruppe für tot befunden werden, nicht aber an einem anderen
Ort, wo eine andere Kriteriengruppe gilt.
Paradoxien auf einer anderen
Ebene ergeben sich, wenn für die Auslegung des Hirntodes persönliche
(religiöse) Überzeugungen ins Spiel kommen. Die Hirntod-Gesetzgebung
in New Jersey - die unter dem Druck orthodoxer Juden, die den Hirntod nicht
als Tod akzeptieren, zustande gekommen ist - erlaubt zum Beispiel eine
religiöse Ausnahmeregelung. Dies bedeutet, daß Hirntote in New
Jersey als tot gelten, falls nicht ihre Angehörigen als Teil einer
einflußreichen religiösen Lobby wünschen, sie nicht als
Tote einzustufen [16]. Diese Dilemmata geben Anlaß, sich in fragwürdige
Hilfskonstruktionen zu flüchten. Von der führenden amerikanischen
Ethikerin Linda Emanuel stammt der Vorschlag, zwischen permanentem Bewußtseinsverlust
und endgültigem Sistieren der Atmung gesetzlich eine "Sterbezone"
("dying zone") zu definieren [17]. Innerhalb dieser Zone soll es Menschen
gestattet sein, eigene Definitionen des Todes zu entwickeln, die einen
Behandlungsabbruch und eine Organentnahme bis zum Zustand der dauerhaften
Bewußtlosigkeit erlauben. Oberhalb dieser Zone soll Euthanasie nicht
erlaubt sein, und niemand soll begraben oder eingeäschert werden dürfen,
bevor nicht seine Atmung unwiderruflich zum Stillstand gekommen ist.
Die Vorstellung vom Gehirn als dem obersten
Steuerungsorgan gilt aus Sicht namhafter Hirnforscher als widerlegt |
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Den Hirntod als Tod des Menschen
zu definieren, basiert auf der Grundannahme, das Gehirn sei das zentrale
Steuerungsorgan des Körpers. Zweifel sind angebracht. Zunächst
ist der Hirntod das nach heutigem Forschungsstand irreversible Versagen
eines Organs, nicht mehr und nicht weniger. Alan Shewmon, Neurologe und
Hirntodspezialist an der UCLA, hat in einer Metaanalyse 56 Patienten mit
"chronischem
Hirntod" (Hirntodkriterien noch mindestens eine Woche nach der Hirntoddiagnose
nachweisbar) beschrieben [18]. Manche lebten noch einige Jahre ohne Kreislaufunterstützung,
lediglich mit künstlicher Beatmung. Er beobachtete, daß die
Tendenz zur Asystolie im Zustand des Hirntodes manchmal nur anfänglich
und nur vorübergehend besteht. Dies spricht gegen die Auffassung,
daß das Gehirn das Zentralorgan zur Aufrechterhaltung systemischer
Körperfunktionen ist. Shewmons logische Folgerung: Wenn der Hirntod
mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt wird, müßte dies auf
einer plausibleren Grundlage geschehen als der Annahme, das Gehirn sei
die übergeordnete integrative somatische Einheit. Die Vorstellung
vom Gehirn als dem obersten Steuerungsorgan, dem weitere Subsysteme untergeordnet
sind, gilt aus Sicht namhafter Hirnforscher als widerlegt [19]. Aus biologisch-systemtheoretischer
Sicht entsteht Leben durch die Fähigkeit zur Selbstherstellung (Autopoiese)
und Selbsterhaltung. Sie sind das Resultat der Interaktion physikalisch-chemischer
Komponenten in einem autopoietischen Netzwerk ohne ein lokalisierbares
zentrales Steuerungsorgan. Das Leben hört auf, wenn dieses Netzwerk
der gegenseitigen Herstellung und Erhaltung zusammenbricht. Dies ist der
Fall, wenn konstitutive Organe wie Herz, Gehirn, Nieren oder Leber ersatzlos
ausfallen.
Die These von der übergeordneten
integrativen Funktion des Gehirns wird im Falle einer hirntoten Schwangeren
völlig in Frage gestellt. Die hirntote schwangere Frau, die als ,Tote'
imstande ist, in ihrem Leib einen Fetus zu ernähren, ihn gedeihen
und sogar bis zu ungestörter Lebensfähigkeit heranreifen zu lassen,
ist begreiflicherweise für die Verfechter des Hirntodkonzepts ein
Dorn im Auge. Die längste bekannt gewordene Schwangerschaft einer
hirntoten Frau betrug 107 Tage. Sie wurde durch Kaiserschnitt von einem
gesunden Jungen entbunden (Conley Hilliker), der sich normal entwickelte
[20]. Vage Erklärungen wurden halbherzig herangezogen und von "subzerebraler
neuronaler Integration" gesprochen. Die Schwangere wurde auf den Status
eines "Brutkastens" reduziert, der lediglich den Fetus mit Sauerstoff und
Nährstoffen versorgt [21]. Die Bundesärztekammer weicht dem Problem
aus, indem sie lakonisch feststellt: "Eine Schwangerschaft wird endokrinologisch
von der Plazenta und nicht vom Gehirn der Mutter aufrechterhalten" [22].
Nur die entscheidende Tatsache bleibt unausgesprochen: Die Plazenta befindet
sich nicht in einem Vakuum oder einem künstlichen Uterus, sondern
in einer lebenden Frau.
Es ist nicht sinnvoll, den Todesbegriff
allein einer naturwissenschaftlichen Deutungshoheit zu überlassen |
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Die Ausblendung kultureller
Deutungsmuster des Todes zugunsten einer rein naturwissenschaftlich begründeten
Definition muß zwangsläufig zu unlösbaren Konflikten im
Todesdiskurs führen. Es ist das Verdienst von Thomas Schlich deutlich
gemacht zu haben, daß es nicht sinnvoll ist, in der Auseinandersetzung
um den Tod des Menschen eine scheinbar eindeutige Zäsur zwischen Natur
und Kultur ziehen zu wollen [23]. Im Mittelalter konnten Menschen, die
sich noch nicht einmal im Sterbeprozeß befanden, wie beispielsweise
Aussätzige, zu Toten erklärt, entrechtet und aus den Städten
vertrieben werden. Lange Zeit war es in jüdischen Gemeinden in Osteuropa
üblich, für einen mit dem Tode ringenden jungen Menschen virtuell
"Jahre zu sammeln", in dem Gemeindemitglieder sich bereit erklärten
auf Wochen, Monate oder Jahre ihres eigenen Lebens zu verzichten - sozusagen
das Gegenszenario des hirntoten jungen Menschen, der als Quelle zusätzlicher
Lebenszeit für die Mitglieder einer Gesellschaft dient. In Japan,
so der Kulturwissenschaftler William LaFleur von der Pennsylvania State
University, ist die Assoziationsbrücke zwischen Organtransplantation
und Kannibalismus legitim, selbst in der parlamentarischen Diskussion,
während sie im Westen als populistische Polemik abgetan wird. Aus
kulturellen und religiösen Gründen ist im japanischen Gesetz
über Organtransplantation vom 17. Juni 1997 die Organentnahme bei
Hirntoten zur Transplantation zwar erlaubt, der Hirntod jedoch kein Todeskriterium.
Voraussetzung ist ferner, daß eine schriftliche Einwilligung des
Spenders vorliegt und die informierten Angehörigen der Entnahme nicht
widersprechen [24]. Eine Multiorgan-Transplantation in einem westlichen
Transplantationszentrum und die Zerstückelung von Toten im tibetischen
Hochland (Luftbestattung), um den Verzehr der sonst nicht zu beseitigenden
Körper durch Geier zu erleichtern - aber auch aus karmischen Gründen
- sind grundlegend unterschiedliche Antworten auf die Frage, was man mit
Toten tun darf. Dies bedeutet, daß sich die Zukunft des Todesbegriffes
in enger Bindung an den Primat einer naturwissenschaftlichen Deutungshoheit
und dem Zurückdrängen soziokultureller Sinndeutungen entwickeln
könnte. Die Frage wäre dann nicht mehr, was können wir für
Tote tun, sondern was können wir mit ihnen machen? Ob diese wie auch
immer als tot bezeichneten Toten "wirklich" tot sind, könnte zum nachgeordneten
Problem werden. Entscheidend wäre nur noch, ob die Kriterien zu ihrer
Instrumentalisierung erfüllt sind. Schon Hans Jonas schrieb, die Kernfrage
sei nicht: "Ist der Patient gestorben?, sondern: Was soll mit ihm - immer
noch ein Patient - geschehen?" [25].
Die Zukunft des Todes ist
ungewiß. Das gilt für den Tod des Menschen sowohl als Begriff
als auch als Handlungsanleitung. Werden die Naturwissenschaften unter Ausblendung
des soziokulturellen Kontexts weiter über das Deutungsmonopol verfügen,
ist ein kaum absehbarer Spielraum für Definitionen und Szenarien zu
erwarten. Erfüllt sich jedoch die Vision, daß die Organtransplantation
als einzige Therapieform, die immer an Eingriffe in die Leiblichkeit des
Anderen gebunden ist, durch wirkliche Fortschritte der Medizin überholt
sein wird, dann könnten sich die Sichtweisen auf den Tod grundlegend
ändern. Ob die Medizinhistorie einmal auf die Ära der Organtransplantation
als glorreiche oder düstere Epoche zurückblicken wird, sei dahingestellt.
Denkbar aber wäre, daß in Zukunft jene symbolische "Minute"
einer scheinbaren Tatenlosigkeit nach dem Tode wieder Eingang in die Sterbekulturen
findet.
Literatur
[1] Lukács G (1916)
Die Theorie des Romans. Z Ästhetik Allg Kunstwissensch 11:226 ff
[2] Geisler LS (1996) Organtransplantation
aus medizinischer Sicht - ethische, gesundheitspolitische Fragestellungen
und gesellschaftlicher Rahmen. Wege zum Menschen 48: 211-224
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9605fwzm_organtransplantation.html
- Interner
[3] Jonas H (1994) Brief
an Hans-Bernhard Wuermeling. New York, im November 1992. In: Hoff J, in
der Schmitten J (Hrsg) Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium.
Rowohlt, Reinbek
[4] Schoeppe W (1994) Der
Leichnam gesetzlich ein herrenloses Gut. FAZ v 22.7.1994, S 8
[5] Hoff J, in der Schmitten
J; Hrsg (1994) Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium.
Rowohlt, Reinbek, S 155
[6] Lessing GE (1759) Fabeln
[7] In der Schmitten J (2002)
Organtransplantation ohne "Hirntod"-Konzept. Anmerkungen zu R.D. Truogs
Aufsatz: Is it time to abandon brain death? Ethik Med 14: 60-70
[8] Anders G (1988) Die Antiquiertheit
des Menschen, Bd. II. München, S 247
[9] Spittler JF (1995) Der
Hirntod - Tod des Menschen. Grundlagen und medizinethische Gesichtspunkte.
Ethik Med 7:128-145
[10] Eberle U (2005) Forschung
am Sterbebett. Die Zeit Nr 24 v 9.6.2005
[11] Truog RD (1997) Is it
time to abandon brain death? Hastings Center Report 27:29-37
[12] Yandava D, Billinghurst
LL, Snyder EY (1999) Global cell replacement is feasible via neural stem
cell transplantation: evidence from the dysmyelinated shiverer mouse brain.
Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of
America 96: 7029-7034
[13] Ad Hoc Committee of
the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death (1968)
A definition of irreversible coma. JAMA 205:337-342
[14] Black PM (1978) Brain
death (Teil 1 von 2 Teilen). N Engl J Med 299: 338-344
[15] NN (2000) Diskussion
um Anästhesie nach Hirntod. Briten fordern Organentnahme in Narkose.
NZZ Neue Zürcher Zeitung v 13.9.2000
[16] Hughes JJ (2001) The
future of death. Cryonics and the Telos of liberal individualism. J Evol
Technol 6: July
[17] Emanuel L (1995) Reexamining
death: the asymptomatic model and a bounded zone definition. Hastings Center
Report 25:27-35
[18] Shewmon DA (1998) Chronic
brain death: meta-analysis and conceptual consequences. Neurology 51:1538-1545
[19] Roth G, Dicke U (1994)
Das Hirntodproblem aus der Sicht der Hirnforschung. In: Hoff J, in der
Schmitten J (Hrsg) Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium.
Rowohlt, Reinbek, S 51
[20] Bernstein IM, Watson
M, Simmons GM, et al (1989) Maternal brain death and prolonged fetal survival.
Obstet Gynecol 74:3 part 2,434-43
[21] Oduncu FS (1998) Der
Hirntod als Todeskriterium - Biologisch-medizinische Fakten, anthropologisch-ethische
Fragen. Medizinstrafrecht, S 199
[22] Wissenschaftlicher Beirat
der Bundesärztekammer (1998) Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes,
3. Fortschreibung 1997 gemäß Transplantationsgesetz (TPG). Stand:
24.7.1998
[23] Schlich Th (2001) Scheintote
und Wiedergänger. Eine unsichtbare Grenze: Die Todesfeststellung zwischen
Biologie und kulturellen Deutungsmustern. Frankfurter Rundschau v 27.3.2001
[24] Saito S (2003) Hirntod
und Organtransplantation aus japanischer Sicht. In: FS Oduncu, Schroth
U, Vossenkuhl (Hrsg) Transplantation. Organgewinnung und -allokation. Göttingen,
S 118
[25] Jonas H (1990) Technik,
Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Insel Verlag,
Frankfurt, S 228 ff
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Geisler, Linus S.: Die Zukunft
des Todes - Überlegungen zum "Hirntod" |
CHIRURGISCHE ALLGEMEINE,
7. Jahrgang, Mai 2006, S. 238-242 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2006/200605chaz-hirntod.html |
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