Start  <  Artikelübersicht  <  Linus Geisler: "DER GLAUBE SETZT STARKE HOFFNUNGSPOTENZIALE FREI"  - PSYCHOLOGIE HEUTE, März 2005
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"Der Glaube setzt starke Hoffnungspotenziale frei"

Glaube ist mehr als ein Placebo, meint Linus Geisler, Arzt für innere Medizin und Mitglied der Enquetekommission Ethik und Recht in der modernen Medizin
PSYCHOLOGIE HEUTE  Ist Heilung durch Glauben dasselbe wie der Placeboeffekt?

LINUS GEISLER  Nein: In der Medizin bezeichnet man als Placebo ein Präparat, das einem Arzneimittel nachgebildet ist, aber keinen spezifischen Wirkstoff enthält. Im weitesten Sinn kann natürlich jede Therapiemaßnahme auch Placeboeffekte entfalten. Die im Glauben wirksam werdenden Kräfte sind aber sehr spezifisch. Sie basieren auf Spiritualität, also einem Bezogensein auf eine über das unmittelbare Ich hinausreichende Wirklichkeit. Wenn wir für wahr halten, dass das Gebet für Kranke, die nicht wissen, dass für sie gebetet wird, nachweislich therapeutische Effekte hat, dann wird klar, dass in diesen Situationen ein Placeboeffekt gar nicht vorliegen kann.

PH  Wie Statistiken belegen, genesen Menschen, die an die Hilfe einer höheren Macht glauben, schneller. Warum ist das so?

GEISLER  Es könnte sich um einen Doppeleffekt handeln. Einmal haben spirituelle oder gläubige Menschen häufig einen gesünderen Lebensstil und damit bessere Reserven zur Überwindung gesundheitlicher Krisen. Wichtiger ist wohl, dass Glaube starke Hoffnungspotenziale freisetzt, die für jede Genesung unerlässlich sind, dass das Immunsystem dadurch stimuliert wird und dass es sich bei gläubigen Menschen oft um seelisch stabilere Personen handelt. Vielleicht wird die Psychoneuroimmunologie genauere wissenschaftliche Erklärungen liefern können. Schon heute steht fest, dass die Immunfunktionen durch Lebensfreude, Gelassenheit, Fröhlichkeit und Liebe gefördert werden.

PH  Ist es tatsächlich die Hilfe aus einer höheren Dimension, die hilft, oder kann der gläubige Patient auf diese Weise besser an eigene verborgene Heilressourcen anknüpfen?

GEISLER  Heilung durch Spiritualität und Glauben ist mehr als nur die Mobilisierung eigener heilender Kräfte. Beim Glauben setzen wir auf die göttliche Gnade, und dieser Glaube ist das, was heilt oder lindert. "Dein Glaube hat dir geholfen", sagt Jesus zu dem Blinden im Markusevangelium. Hier liegt auch der Unterschied des Christentums zur New-Age-Bewegung als spirituell-religiöser Strömung. Diese baut auf Bewusstseinserweiterung und ganzheitliches Denken und lehrt, dass der Mensch sich selbst aus eigener Kraft erlösen kann.

PH  Kann sich der Körper selbst heilen, wenn wir ihm die Möglichkeit dazu geben?

GEISLER  Es gibt wahrscheinlich keine Krankheit, bei der nicht selbstheilende Kräfte eine mehr oder minder große Rolle spielen. Das Selbstheilungspotenzial des Körpers ist ja viel größer, als wir denken, weil die moderne Medizin glaubt, nie ohne Eingriffe auskommen zu können, und daher Spontanverläufe fast nicht mehr zu beobachten sind. Dass ein mehrfach gebrochener großer Knochen wieder vollständig zusammenwächst, ohne dass außer Ruhigstellung irgendein Eingriff notwendig ist, macht das eindrucksvoll deutlich. Andererseits ist es eine alte Erfahrung, dass Menschen, die sich in einer Krankheit fallen lassen und sich selbst aufgeben, schlechtere Heilungschancen haben. Die Mechanismen, die dahinter stehen, sind freilich sehr komplex und wenig durchschaut.

PH  Welchen tieferen Sinn kann eine Krankheit haben? Was kann daraus gelernt werden?

GEISLER  Darüber gibt es ganze Bibliotheken, in denen sich allerdings sehr unterschiedliche Antworten finden. Krankheit kann einen Sinn für den Betroffenen selbst entfalten, indem sie ihm auf drastische Weise die Fiktion von Leidfreiheit und Unverwundbarkeit vor Augen führt. Wenn Gesundheit als "das Schweigen der Organe" definiert wird, dann führt Krankheit zu einem anderen Körper- und Leibverständnis, das die seelenlose Alltagsroutine infrage stellt und die Hybris eines Menschenbildes, das sich an einem Maschinenmodell orientiert, welches die Heilung aller Ausfälle und Defekte verspricht. Also Krankheit als Augenöffner mit dem Potenzial, Lebensentwürfe zu überdenken, vielleicht gar zu ändern. Eine Idealisierung ist hier freilich nicht am Platz, denn es muss dem Menschen auch vorwurfslos eingeräumt werden können, in seiner Krankheit keinen weiterführenden Sinn zu erkennen. Krankheit kann aber auch in einem ganz anderen, zu wenig beachteten Bezug Sinn bekommen, nämlich vor dem Hintergrund der Frage: Welchen Sinn habe ich mit meiner Krankheit für den anderen? Der österreichische Psychotherapeut Victor Frankl hat auf diese umgekehrte Fragestellung hingewiesen. Und hier lassen sich viele Antworten finden, in denen durchaus Sinnhaftigkeit auszumachen ist.

PH  Wie erklären Sie so genannte Wunderheilungen?

GEISLER  Wunderheilungen werden auf göttliche oder übernatürliche Kräfte zurückgeführt. Sie widersprechen den Naturgesetzen, sie übersteigen unseren Erfahrungs-, aber auch Erkenntnishorizont. In der Medizin werden darunter vor allem so genannte Spontanremissionen bei Krebskranken verstanden. Bei ‚unheilbar‘ Kranken bilden sich Tumore oder Metastasen plötzlich vollständig zurück. Spontanremissionen gibt es mit Sicherheit, sie sind allerdings extrem selten. Es gibt Schätzungen, nach denen sich solche "Wunderheilungen" auf der ganzen Welt nur 20- bis 30-mal pro Jahr ereignen beziehungsweise in einem von 100000 Fällen von Krebs. Der japanische Anthropologe Hiroshi Oda hat mit zwölf Patienten, für die das Kriterium der Wunderheilung als sicher anzusehen war, intensive Gespräche geführt. Was sich herausschälte, war die Fähigkeit, die Krankheit zu akzeptieren, Selbstverantwortung zu übernehmen, Gelassenheit zu bewahren, aber auch der Bezug auf spirituelle Quellen wie der Glaube an das Göttliche oder die Fähigkeit, "das Licht in sich aufnehmen" zu können.

Ich bezweifle, dass die Suche nach den Wirkmechanismen von Wunderheilungen sinnvoll ist, vielmehr glaube ich, dass sie sogar kontraproduktiv sein kann. Fehlende Linearität und Kausalität sind ja gerade das Markenzeichen der Wunderheilung. Wichtiger erscheint mir, dass der grundsätzliche Glaube an eine Wunderheilung, das Für-möglich-Halten heilsamer spiritueller oder religiöser Kräfte, nicht verschüttet, sondern auch in der heutigen Medizin behutsam freigelegt wird. Nach Lourdes pilgern jährlich Millionen Menschen. Von der Kirche sind nur einige Dutzend Wunderheilungen anerkannt worden, dennoch kehrt die Mehrzahl der Pilger mit dem Gefühl zurück, dass ihre Pilgerschaft nicht ohne Sinn war. Ein gelähmter Skirennfahrer kam aus Lourdes zurück, ohne dass sich an seiner Lähmung irgendetwas geändert hatte, aber er war sich jetzt sicher, den Sinn seiner Krankheit erkannt zu haben - das, so seine Erkenntnis, war das wirkliche Wunder.

Mit Professor Dr. Linus Geisler sprach Theresia Maria de Jong

 
Literatur
Linus Geisler: Arzt und Patient: Begegnung im Gespräch. Wirklichkeit und Wege. Frankfurt 2002  -  Interner Interner Link

Geisler, Linus: "Der Glaube setzt starke Hoffnungspotenziale frei" - Gespräch mit Theresia Maria de Jong
PSYCHOLOGIE HEUTE, 32. Jahrgang, Heft 3, März 2005, S. 26-27
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2005/200503ph-glaube_gesundheit.html

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