"Der Glaube setzt starke Hoffnungspotenziale
frei"
Glaube ist mehr als ein
Placebo, meint Linus Geisler, Arzt für innere Medizin und Mitglied
der Enquetekommission Ethik und Recht in der modernen Medizin
PSYCHOLOGIE HEUTE
Ist Heilung durch Glauben dasselbe wie der Placeboeffekt?
LINUS GEISLER
Nein: In der Medizin bezeichnet man als Placebo ein Präparat, das
einem Arzneimittel nachgebildet ist, aber keinen spezifischen Wirkstoff
enthält. Im weitesten Sinn kann natürlich jede Therapiemaßnahme
auch
Placeboeffekte entfalten. Die im Glauben wirksam werdenden Kräfte
sind aber sehr spezifisch. Sie basieren auf Spiritualität, also einem
Bezogensein auf eine über das unmittelbare Ich hinausreichende Wirklichkeit.
Wenn wir für wahr halten, dass das Gebet für Kranke, die nicht
wissen, dass für sie gebetet wird, nachweislich therapeutische Effekte
hat, dann wird klar, dass in diesen Situationen ein Placeboeffekt gar nicht
vorliegen kann.
PH Wie Statistiken
belegen, genesen Menschen, die an die Hilfe einer höheren Macht glauben,
schneller. Warum ist das so?
GEISLER Es könnte
sich um einen Doppeleffekt handeln. Einmal haben spirituelle oder gläubige
Menschen häufig einen gesünderen Lebensstil und damit bessere
Reserven zur Überwindung gesundheitlicher Krisen. Wichtiger ist wohl,
dass Glaube starke Hoffnungspotenziale freisetzt, die für jede Genesung
unerlässlich sind, dass das Immunsystem dadurch stimuliert wird und
dass es sich bei gläubigen Menschen oft um seelisch stabilere Personen
handelt. Vielleicht wird die Psychoneuroimmunologie genauere wissenschaftliche
Erklärungen liefern können. Schon heute steht fest, dass die
Immunfunktionen durch Lebensfreude, Gelassenheit, Fröhlichkeit und
Liebe gefördert werden.
PH Ist es tatsächlich
die Hilfe aus einer höheren Dimension, die hilft, oder kann der gläubige
Patient auf diese Weise besser an eigene verborgene Heilressourcen anknüpfen?
GEISLER Heilung
durch Spiritualität und Glauben ist mehr als nur die Mobilisierung
eigener heilender Kräfte. Beim Glauben setzen wir auf die göttliche
Gnade, und dieser Glaube ist das, was heilt oder lindert. "Dein Glaube
hat dir geholfen", sagt Jesus zu dem Blinden im Markusevangelium. Hier
liegt auch der Unterschied des Christentums zur New-Age-Bewegung als spirituell-religiöser
Strömung. Diese baut auf Bewusstseinserweiterung und ganzheitliches
Denken und lehrt, dass der Mensch sich selbst aus eigener Kraft erlösen
kann.
PH Kann sich
der Körper selbst heilen, wenn wir ihm die Möglichkeit dazu geben?
GEISLER Es gibt
wahrscheinlich keine Krankheit, bei der nicht selbstheilende Kräfte
eine mehr oder minder große Rolle spielen. Das Selbstheilungspotenzial
des Körpers ist ja viel größer, als wir denken, weil die
moderne Medizin glaubt, nie ohne Eingriffe auskommen zu können, und
daher Spontanverläufe fast nicht mehr zu beobachten sind. Dass ein
mehrfach gebrochener großer Knochen wieder vollständig zusammenwächst,
ohne dass außer Ruhigstellung irgendein Eingriff notwendig ist, macht
das eindrucksvoll deutlich. Andererseits ist es eine alte Erfahrung, dass
Menschen, die sich in einer Krankheit fallen lassen und sich selbst aufgeben,
schlechtere Heilungschancen haben. Die Mechanismen, die dahinter stehen,
sind freilich sehr komplex und wenig durchschaut.
PH Welchen tieferen
Sinn kann eine Krankheit haben? Was kann daraus gelernt werden?
GEISLER Darüber
gibt es ganze Bibliotheken, in denen sich allerdings sehr unterschiedliche
Antworten finden. Krankheit kann einen Sinn für den Betroffenen selbst
entfalten, indem sie ihm auf drastische Weise die Fiktion von Leidfreiheit
und Unverwundbarkeit vor Augen führt. Wenn Gesundheit als "das Schweigen
der Organe" definiert wird, dann führt Krankheit zu einem anderen
Körper- und Leibverständnis, das die seelenlose Alltagsroutine
infrage stellt und die Hybris eines Menschenbildes, das sich an einem Maschinenmodell
orientiert, welches die Heilung aller Ausfälle und Defekte verspricht.
Also Krankheit als Augenöffner mit dem Potenzial, Lebensentwürfe
zu überdenken, vielleicht gar zu ändern. Eine Idealisierung ist
hier freilich nicht am Platz, denn es muss dem Menschen auch vorwurfslos
eingeräumt werden können, in seiner Krankheit keinen weiterführenden
Sinn zu erkennen. Krankheit kann aber auch in einem ganz anderen, zu wenig
beachteten Bezug Sinn bekommen, nämlich vor dem Hintergrund der Frage:
Welchen Sinn habe ich mit meiner Krankheit für den anderen?
Der österreichische Psychotherapeut Victor Frankl hat auf diese umgekehrte
Fragestellung hingewiesen. Und hier lassen sich viele Antworten finden,
in denen durchaus Sinnhaftigkeit auszumachen ist.
PH Wie erklären
Sie so genannte Wunderheilungen?
GEISLER Wunderheilungen
werden auf göttliche oder übernatürliche Kräfte zurückgeführt.
Sie widersprechen den Naturgesetzen, sie übersteigen unseren Erfahrungs-,
aber auch Erkenntnishorizont. In der Medizin werden darunter vor allem
so genannte Spontanremissionen bei Krebskranken verstanden. Bei ‚unheilbar‘
Kranken bilden sich Tumore oder Metastasen plötzlich vollständig
zurück. Spontanremissionen gibt es mit Sicherheit, sie sind allerdings
extrem selten. Es gibt Schätzungen, nach denen sich solche "Wunderheilungen"
auf der ganzen Welt nur 20- bis 30-mal pro Jahr ereignen beziehungsweise
in einem von 100000 Fällen von Krebs. Der japanische Anthropologe
Hiroshi Oda hat mit zwölf Patienten, für die das Kriterium der
Wunderheilung als sicher anzusehen war, intensive Gespräche geführt.
Was sich herausschälte, war die Fähigkeit, die Krankheit zu akzeptieren,
Selbstverantwortung zu übernehmen, Gelassenheit zu bewahren, aber
auch der Bezug auf spirituelle Quellen wie der Glaube an das Göttliche
oder die Fähigkeit, "das Licht in sich aufnehmen" zu können.
Ich bezweifle, dass die Suche
nach den Wirkmechanismen von Wunderheilungen sinnvoll ist, vielmehr glaube
ich, dass sie sogar kontraproduktiv sein kann. Fehlende Linearität
und Kausalität sind ja gerade das Markenzeichen der Wunderheilung.
Wichtiger erscheint mir, dass der grundsätzliche Glaube an eine Wunderheilung,
das Für-möglich-Halten heilsamer spiritueller oder religiöser
Kräfte, nicht verschüttet, sondern auch in der heutigen Medizin
behutsam freigelegt wird. Nach Lourdes pilgern jährlich Millionen
Menschen. Von der Kirche sind nur einige Dutzend Wunderheilungen anerkannt
worden, dennoch kehrt die Mehrzahl der Pilger mit dem Gefühl zurück,
dass ihre Pilgerschaft nicht ohne Sinn war. Ein gelähmter Skirennfahrer
kam aus Lourdes zurück, ohne dass sich an seiner Lähmung irgendetwas
geändert hatte, aber er war sich jetzt sicher, den Sinn seiner Krankheit
erkannt zu haben - das, so seine Erkenntnis, war das wirkliche Wunder.
Mit Professor Dr. Linus
Geisler sprach Theresia Maria de Jong
Literatur
Linus Geisler: Arzt und
Patient: Begegnung im Gespräch. Wirklichkeit und Wege. Frankfurt 2002
- Interner
Geisler, Linus: "Der Glaube
setzt starke Hoffnungspotenziale frei" - Gespräch mit Theresia Maria
de Jong |
PSYCHOLOGIE HEUTE, 32. Jahrgang,
Heft 3, März 2005, S. 26-27 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2005/200503ph-glaube_gesundheit.html |
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