Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: VON DER SEHNSUCHT NACH JENEM ANDEREN  - In: RIESS, RICHARD (HG.): IN EINEM WORT. München 2004

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Von der Sehnsucht nach jenem Anderen

von Linus S. Geisler



Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu. 


Offenbarung des Johannes 21, 1-4



Utopien und Verheißungen

Verheißungen wurzeln in der Sehnsucht nach dem vollkommen Neuen und der Überwindung des Alten, Utopien in der Hybris des Menschen. Aber wir vertrauen unseren Utopien mehr als unserer Vernunft. Ein ewiges Weiterleben unbestimmter Natur verorten wir in ihnen. Denn als nicht seiend können wir uns nicht denken und uns nicht akzeptieren wie wir sind. Es liegt im Wesen des Menschen, dass er ein anderer sein will, als er ist. 

Also entwirft er sich ständig neu und verzweifelt, weil seine Entwürfe unvollständig bleiben. Er möchte sich häuten und in einem neuen Körper erstrahlen. Er will seinen Körper perfektionieren und erlaubt gleichzeitig, dass die Medizin ihn verstümmelt und zerstückelt. Er lässt zu, dass er leiblich aufgeteilt wird. Er nimmt hin, dass seine Teile mehr wert zu sein scheinen als das Ganze. 

Die Selbstüberschreitung des Menschen ist seine große Sehnsucht. Für sie ist er bereit, nahezu jeden Preis zu bezahlen und selbst die Identität seiner Gattung aufs Spiel zu setzen. Ständig ist er im Aufbruch, aber er weiß nicht die Richtung. Was ihn als Person zusammenhält, ist die Summe seiner Abweichungen von einem fiktiven Ideal. Nur so glaubt er, einmalig zu sein und als einmalig erkennbar. 

Der Mensch schließt faustische Pakte mit den Wissenschaften, aber die Erlösung bleibt aus und das mephistophelische Prinzip der Umkehrung des Bösen zum Guten gerät außer Kraft. So wie die Welt zum unüberschaubaren, fragmentierten Ort wird, so erlebt auch er sich zunehmend als fragmentiert. Auf der Jagd nach dem Ich blickt er in ein dunkles Kaleidoskop ständig wechselnder Wünsche, Ängste, Sehnsüchte und Selbstsüchte. Nichts, was ihn verlässlich zusammenhält, das ihm eine Mitte zeigt, die der Urgrund ist. Die Systeme, in deren Griff er sich vorfindet, eröffnen ihm pausenlos wechselnde und widersprüchliche Perspektiven. Die Flut der Bilder macht ihn blind, das Tosen der Städte taub, das endlose Geschwätz sprachlos. 

Nach dem Sturz aus der Mitte der Welt wird der Mensch immer mehr zur Randfigur des eigenen Systems. Immer stärker beginnt er "... seine totale Verlassenheit und seine radikale Fremdheit" in dieser Welt zu erkennen, er hat "... seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums ..., das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen ... Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben." (Jacques Monod) Anders gesagt: Nach dem Verlust des Gottvertrauens scheint auch die letzte Bastion, das Weltvertrauen, abhanden gekommen zu sein. 

Der Urgrund seiner Verzweiflung ist die Furcht, dass nach diesem Leben kein anderes kommt. Also muss dieses Leben alles enthalten. Doch diese Überfrachtung ist unersättlich. Immer wieder läuft sie ins Leere. Nach jedem beseitigten Leid tritt ein anderes Leid auf den Plan. Er ahnt: "Auch bei seiner größten Anstrengung kann der Mensch sich nur vornehmen, den Schmerz der Welt mengenmäßig zu vermindern. Aber Leiden und Ungerechtigkeit werden bleiben und, wie begrenzt auch immer, nie aufhören." (Albert Camus) So wird der Mensch nicht lebenssatt und nicht tränenleer. Der Dichter weiß: 

Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. 
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.

Rainer Maria Rilke


Das Andere

Die zukünftige Wirklichkeit ist unserer Vorstellung entzogen. Sie ist weder in Worten noch in Bildern zu fassen. Für sie gilt: "Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist ..." (Jesaja 64, 3) Weder ist sie grenzenlose Verlängerung noch unvorstellbare Überhöhung dieses Lebens. Sie ist das vollkommen Andere, das wirklich Neue. 

Auch wenn wir kein Bild von diesem Anderen erkennen können, so haben wir doch die Gewissheit, was dieses Andere nicht ist: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.

Diese Gewissheit ermöglicht es dem Menschen, seine endliche Welt anders zu erfahren: seine Gebrechlichkeit und Bruchstückhaftigkeit nicht mehr als endgültigen Zerfall. In Erwartung des "gerechten Zeitalters" werden die Ungerechtigkeiten dieser Welt erträglicher. Seine Sterblichkeit wird hinnehmbar, denn sie bedeutet nicht mehr "Endlichkeit". Aus der Verlorenheit am Rande des Universums wird der Weg zur Mitte wieder erkennbar. Die Utopien verlieren ihren zwanghaften Bann und weichen der Sehnsucht nach jenem Anderen, Neuen, dessen unanschauliche Dimensionen alles Vorstellbare überschreiten.



Geisler, Linus S.: Von der Sehnsucht nach jenem Anderen 
In: Riess, Richard (Hg.): IN EINEM WORT. Bekannte Autoren über Texte, die ihr Leben begleiten. Claudius Verlag München 2004
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/200412riess-in_einem_wort.html

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