Behandlung und Heilung sind ohne
einen wachsenden, subtilen Gewalteinsatz gar nicht mehr denkbar, so der
Autor. Er beschreibt, wo Gewaltpotenziale in ärztlicher Tätigkeit
liegen – und legt Wert auf die individuelle Verantwortung in einem "System
Medizin", das scheinbar absichtlos Gewalt produziert.
Der Arzt als Feind?
Linus
S. Geisler
Es geht nicht um jenen Arzt vom Typus
Dr. Shipman, der mehrere Hundert seiner Patienten systematisch und aus
so genannten niedrigen Beweggründen getötet hat. Er dürfte
nach wie vor Seltenheitswert haben.
Vielleicht geht es aber um den Arzt,
der den Haarsausfall seiner Patientin nach Chemotherapie mit dem Argument
herunterzuspielen versucht, Haarverlust sei kein "Ichverlust", also um
Gewalt durch Sprache. Eine zunehmende Verrohung der Sprache gilt im übrigen
als frühes Symptom der beruflich Ausgebrannten, die selbst wiederum
ein zu Gewalt neigendes Kollektiv bilden.
Was ist etwa von jenem Dr. Werner zu
halten, den Michail Lermontov in seinem Roman "Ein Held der Zeit" [1] beschreibt:
Arzt, Skeptiker, Materialist und zugleich Dichter, der hinterhältige
Karikaturen seiner Patienten zeichnet?
Mit Sicherheit geht es um den ausgelaugten
Assistenzarzt, der Endlosschleife zermürbender Dienste nicht mehr
gewachsen, für den nach dreißig Stunden Dienst "jeder Patient
zum Feind" wird (O-Ton) – und er unausweichlich zum Feind seiner Patienten.
Vielleicht geschieht dann nicht mehr, als dass der Griff beim Prüfen
der Schmerzreflexe härter ausfällt, als unbedingt nötig.
In der Geschichte "The Use of Force" beschreibt William C. Williams,
selbst Arzt, wie ein Arzt bei der Untersuchung eines behinderten Mädchens
die Geduld verliert, schließlich Gewalt anwendet, bis ihre Tränen
fließen [2]. Innerlich beschimpft er es als "Balg" (engl. brat). Nur flüchtig
hat er das Gefühl, er könne sich falsch verhalten haben und müsse
sich vielleicht bei den passiv dabeistehenden Eltern entschuldigen. Im
Grunde befriedigt ihn der gebrochene Widerstand der Patientin.
Wer ist der Feind?
Wer wessen Feind ist, lässt sich
häufig nur schwer ausmachen. Den einen gibt es nicht ohne den anderen.
Carl Schmitt beantwortet die Frage "Was ist der Feind?" scharfsinnig: "...
unsere eigene Frage als Gestalt". Ein Klima wachsender Gewalt am Arbeitsplatz
von Ärzten und Pflegern ist ein weltweit beobachtetes Phänomen.
In Großbritannien hat die Commission for Health Improvement (CHI)
vor kurzem das erschreckende Ergebnis einer Befragung von rund 200.000
Ärzten und Pflegern des staatlichen Gesundheitsdienstes (National
Health Service, NHS) veröffentlicht. 37 Prozent der befragten NHS-Beschäftigten
gaben an, innerhalb der zurückliegenden zwölf Monate das Opfer
von Gewalt, Erniedrigungen, Beschimpfungen oder Mobbing am Arbeitsplatz
gewesen zu sein. Die Mehrzahl wurde laut CHI das Opfer gewalttätiger
Patienten, aber auch von Kollegen oder Vorgesetzten. Dennoch sei die Ausübung
des Arztberufs in Großbritannien nicht gefährlicher als in vergleichbaren
Ländern der Europäischen Union (EU) [3], versichert die British
Medical Association.
Krankenhäuser waren schon seit
jeher sowohl Orte der Heilssuche als auch Orte der Gewalt. Das Erleben
von Kranken als Monstern ist kein neues Phänomen. Michel Foucault
beschreibt die Psychiatrien des 19. Jahrhunderts als Institutionen, in
denen "Fürsorgemacht" über "Menschenmonster" ausgeübt wurde
[4 ].
Wo Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl Macht über Schwache
ausüben, kippen Systeme leicht in ihr Gegenteil, vor allem wenn wirksame
Kontrolle fehlt. Dennoch stellt sich die Frage nach dem Spezifikum der
heutigen Gewaltphänomene in der Medizin.
Modelle der Gewalt
Gewalt kann augenfällig sein,
aber auch verdeckt. Schon die Zuschreibung einer bestimmten Eigenschaft
kann Gewaltpotenziale enthalten. Was bedeutet die Erklärung eines
alten Menschen zum "Pflegefall"? Trägt sie, wie eine Altenheimleiterin
aus Westfalen anmahnt, "schon die Keime des Euthanasiegedankens" in sich
[5]?
Eine neue Form der Gewalt ist bereits
in bestimmten Kategorien von Wissen enthalten, so beispielsweise in genetischen
Informationen. Sie richten sich nicht nur gegen den Getesteten, sondern
manchmal noch stärker gegen die Angehörigen.
In die Zukunft gerichtete Gewalt kommt
daher als Projekt des Neuen Menschen und bedient sich tief greifender Manipulationen
der Keimbahn. So wird Macht ausgeübt über Generationen, Macht,
mit der selbst die Toten noch über die zukünftig Lebenden herrschen.
Gewaltpotenziale von Utopien können
überblendet werden durch nicht garantierbare Heilsversprechen in ferner
Zukunft. Aber sie richten sich, wie in der Stammzellforschung, in der Gegenwart
durch Embryonenverbrauch gegen das Leben von Ungeborenen. Gewaltpotenziale
verkleiden sich in das Gewand von Heilen und Vorbeugen. Frauen mit familiärer
Häufung von Brust- und Eierstocktumoren und dem Nachweis bestimmter
Brustkrebsgene (BRCA 1 und/oder BRCA 2) wird auf Grund einer neuesten onkologischen
Studie (Journal of Clinical Oncology, März 2004) die beidseitige vorbeugende
Mastektomie und operative Beseitigung der Eierstöcke empfohlen [6].
Die Rate späterer Mammakarzinome lasse sich so drastisch senken. Unklar
bleibt, ob die Operation im Endeffekt auch lebensrettend wirkt. Was aber
wurde jenen Frauen angetan, die trotz genetischer Belastung niemals ein
Mammakarzinom entwickelt hätten?
Beispiel einer schleichenden Gewaltentwicklung
sind die Entwicklungen der Reproduktionsmedizin. Angetreten vor rund 30
Jahren, um Unfruchtbarkeit bei Paaren, die unter ihrer Infertilität
leiden, zu beheben, zählt heute die präimplantatorische Embryonenselektion
und -vernichtung (PID) bei fruchtbaren und keineswegs immer genetisch belasteten
Paaren zu ihrer jüngsten Offerte [7 ].
Organspende von Lebenden setzt die
Zustimmung (und damit Legalisierung) zur Selbstverstümmelung voraus,
zum "fremdnützigen" operativen Eingriff, der den Spender zumindest
vorübergehend zum Kranken macht, in seltenen Fällen sogar seinen
Tod bewirkt (ca. 0,5 Prozent Sterblichkeit bei der Leberlebendspende).
Es geht um Eingriffe, bei denen sich der Arzt zum ersten Mal in der Geschichte
seiner Profession nicht mehr auf einen Heilauftrag bei seinem "Patienten"
berufen kann, denn sein "Patient" ist ein (Kern-)Gesunder, den er wissentlich
schädigt.
Gewalt durch Menschenbilder
Behandlung und Heilung sind nicht mehr
ohne einen wachsenden, subtilen Gewalteinsatz denkbar, eine fatale Inszenierung
von vorgeblicher Nächstenliebe durch Instrumente der Gewalt. Sie sind
so fest verankert in den gesundheitlichen Wunscherfüllungen von Gesellschaften,
dass es Widerstand hervorruft, sie an die Oberfläche zu heben.
Es geht hier nicht um die Korrektur
längst etablierter, stetig expandierender Therapiesysteme, sondern
um das Bewusstmachen eines universellen Phänomens: die Erzeugung von
Gewalt durch Menschenbilder. Sie entfalten ihre Wirksamkeit oft erst durch
Umdeutung von Begriffen, wie beispielsweise der des Todes in Gestalt des
Hirntodkonzeptes. Sie beanspruchen Allgemeingültigkeit und entpuppen
sich bei näherem Hinsehen oft als manipulativ gesteuerte gesellschaftliche
Vereinbarungen.
Wer als Arzt Sterbenskranke tötet,
gesetzlich sanktioniert oder nicht, beschwört Szenarien von gespenstischer
Paradoxie herauf. Die 43jährige Britin Diane Pretty kämpfte um
das Recht auf aktive Sterbehilfe durch alle Instanzen bis zum Europäischen
Gerichtshof und unterlag schließlich durch dessen Urteil im April
2002 [8]. Jetzt hat der 44jährige Brite Leslie Burke, seit zwölf
Jahren wegen einer fortschreitenden Hirnerkrankung gelähmt, vor dem
High Court in London auf das Recht auf Weiterleben geklagt [9]. Burke will
verhindern, dass Ärzte bei ihm die künstliche Ernährung
gar nicht erst einleiten oder abbrechen. In der Sterbehilfedebatte verliert
sich gänzlich die Trennschärfe der Bilder vom Arzt als Freund
oder Feind. Wer ist der Feind des Kranken: der, der ihn tötet oder
der, der dies unterlässt?
"Systemgewalt" oder individuelle
Verantwortung?
Gewalt braucht immer ein System als
Humus für ihre Entfaltung. Je mehr dieses System, vielleicht nur als
gedanklicher Entwurf, Gewalteinwirkung (bis zur Tötung) toleriert,
desto mehr wird sie salonfähig und schrittweise sanktioniert. Gewalt
wird zum Selbstläufer. Sie entmündigt den Gewalttätigen,
macht ihn unfähig, sein Gewaltinstrumentarium aus der Hand zu legen.
Das Milgram-Experiment ist dafür ein beschämender Beleg [10].
In den Experimenten des amerikanischen Sozialpsychologen S. Milgram (1960)
wurden Versuchspersonen (Menschen aus der Normalbevölkerung) in fingierten
Versuchen als "Lehrer" von einem Versuchsleiter verbal unter Druck gesetzt
und bewogen, ihre "Schüler" (Schauspieler) bei falschen Antworten
mit elektrischen Stromstößen bis zur angeblich lebensgefährlichen
"Höchststrafe" zu bestrafen. 60 Prozent der Versuchspersonen waren
bereit, ihren Schülern "tödliche" Stromstöße von maximal
450 Volt zu versetzen. Milgram: "Mit bestürzender Regelmäßigkeit
haben ‚gute Leute’ ... böse Dinge getan." Das Experiment ist in unterschiedlichen
Varianten in anderen Ländern (auch Deutschland) mit generell vergleichbaren
Ergebnissen wiederholt worden.
Ist hier das "Systemböse", das
so genannte absichtslose Böse am Werk, die Systemgewalt [11]? In komplexen
selbstreferenziellen sozialen Systemen verliert diese immer mehr ihre Personenbezogenheit.
Im gleichen Maße nimmt ihre Vorhersagbarkeit ab. Damit verschwinden
allmählich Verantwortung und Rechenschaftsfähigkeit und werden
zum Mythos. Am Ende steht im Extremfall die nicht mehr kontrollierbare,
der individuellen Verantwortung entzogene Gewalt.
Wer dem Diktat einer "absichtslosen
Systemgewalt" in der Medizin entgehen will, dem bleibt eine Insel der Sicherheit:
nämlich im Sinne der als altmodisch gescholtenen Ethik eines Hans
Jonas einfach Verantwortung für Natur und Leben zu übernehmen
[12]. Dieser Lösungsansatz hat freilich nur Chancen im Kontext institutioneller,
vor allem aber gesellschaftlicher Neubestimmungen der Medizin und ihrer
Aktionspartner. Es geht um den Mut, zwischen vernünftigen Zukunftsvisionen
und Utopien zu unterscheiden, die gegen Menschenwürde und menschliches
Leben gerichtet sind. Um die Einsicht, dass alle Fortschrittsbemühungen
nicht imstande sind, die Grenzen der Medizin aufzuheben. Es geht um ein
sicheres Gespür für jenen Umschlagpunkt, wo der Versuch der Leidminderung
beginnt, Gewalt als Tribut einzufordern.
Anmerkungen
[1] Lermontov M J: Ein Held
unserer Zeit. Frankfurt/Main. 1963. S. 78
[2] Williams C W: The Use
Of Force. New York. 1966
[3] Großbritannien:
Mehr Gewalt gegen Ärzte. Deutsches Ärzteblatt Online vom 15.03.2004
[4] Sustek S: Von Menschen-Monstern.
Michel Foucaults Vorlesungen aus dem Jahr 1974-75 erzählen von Urbildern
der Abirrung und der Geburt der Psychiatrie. Telepolis, 27.12.2003
URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/buch/16345/1.html
[5] Kürten C, K Dörner:
Erfolgreich behandeln - armselig sterben. Macht und Ohnmacht im Krankenhaus
und Heim. Gütersloh 1993. S. 91
[6] Mammakarzinom: Prophylaktische
bilaterale Mastektomie bei BRCA1-/2-Genträgerinnen. Deutsches Ärzteblatt
Online vom 24.02.2004
[7] Geisler L S: Kinder auf
Bestellung - Genetische Tests und die Vernichtung menschlicher Embryonen.
Frankfurter Rundschau, 10.05.2001, Nr. 108, S. 18
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0105fr_pid.html
[8] Gericht lehnt Antrag
zur Sterbehilfe ab. Netzeitung vom 29.04.2002
[9] Brite will sein Recht
auf Weiterleben einklagen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.2004,
Nr. 51, S. 40
[10] Milgram S: Das Milgram-Experiment.
Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek. 1993
[11] Das Böse. Jenseits
von Absichten und Täter. Oder: ist der Teufel ins System ausgewandert?
Schriftenreihe Forum 1, Band 3. Hg: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik
Deutschland. Göttingen. 1995
[12] Jonas H: Prinzip Verantwortung.
Frankfurt/Main. 1979
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Weiterführender
Link:
Dr.
med Mabuse - Zeitschrift im Gesundheitswesen
URL:
http://www.mabuse-verlag.de/zeitschrift/ - Externer 
Geisler, Linus S.:
Der Arzt als Feind? |
Dr. med. Mabuse, Nr. 149, 29. Jahrgang,
Mai/Juni 2004, S. 33-36 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/05mabuse-arzt_als_feind.html |
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