Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: DER ARZT ALS FEIND? - DR. MED. MABUSE, Mai/Juni 2004
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Behandlung und Heilung sind ohne einen wachsenden, subtilen Gewalteinsatz gar nicht mehr denkbar, so der Autor. Er beschreibt, wo Gewaltpotenziale in ärztlicher Tätigkeit liegen – und legt Wert auf die individuelle Verantwortung in einem "System Medizin", das scheinbar absichtlos Gewalt produziert.
Der Arzt als Feind?

Linus S. Geisler
Es geht nicht um jenen Arzt vom Typus Dr. Shipman, der mehrere Hundert seiner Patienten systematisch und aus so genannten niedrigen Beweggründen getötet hat. Er dürfte nach wie vor Seltenheitswert haben.

Vielleicht geht es aber um den Arzt, der den Haarsausfall seiner Patientin nach Chemotherapie mit dem Argument herunterzuspielen versucht, Haarverlust sei kein "Ichverlust", also um Gewalt durch Sprache. Eine zunehmende Verrohung der Sprache gilt im übrigen als frühes Symptom der beruflich Ausgebrannten, die selbst wiederum ein zu Gewalt neigendes Kollektiv bilden.

Was ist etwa von jenem Dr. Werner zu halten, den Michail Lermontov in seinem Roman "Ein Held der Zeit" [1] beschreibt: Arzt, Skeptiker, Materialist und zugleich Dichter, der hinterhältige Karikaturen seiner Patienten zeichnet?

Mit Sicherheit geht es um den ausgelaugten Assistenzarzt, der Endlosschleife zermürbender Dienste nicht mehr gewachsen, für den nach dreißig Stunden Dienst "jeder Patient zum Feind" wird (O-Ton) – und er unausweichlich zum Feind seiner Patienten. Vielleicht geschieht dann nicht mehr, als dass der Griff beim Prüfen der Schmerzreflexe härter ausfällt, als unbedingt nötig. In der Geschichte "The Use of Force" beschreibt William C. Williams, selbst Arzt, wie ein Arzt bei der Untersuchung eines behinderten Mädchens die Geduld verliert, schließlich Gewalt anwendet, bis ihre Tränen fließen [2]. Innerlich beschimpft er es als "Balg" (engl. brat). Nur flüchtig hat er das Gefühl, er könne sich falsch verhalten haben und müsse sich vielleicht bei den passiv dabeistehenden Eltern entschuldigen. Im Grunde befriedigt ihn der gebrochene Widerstand der Patientin.

Wer ist der Feind?

Wer wessen Feind ist, lässt sich häufig nur schwer ausmachen. Den einen gibt es nicht ohne den anderen. Carl Schmitt beantwortet die Frage "Was ist der Feind?" scharfsinnig: "... unsere eigene Frage als Gestalt". Ein Klima wachsender Gewalt am Arbeitsplatz von Ärzten und Pflegern ist ein weltweit beobachtetes Phänomen. In Großbritannien hat die Commission for Health Improvement (CHI) vor kurzem das erschreckende Ergebnis einer Befragung von rund 200.000 Ärzten und Pflegern des staatlichen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) veröffentlicht. 37 Prozent der befragten NHS-Beschäftigten gaben an, innerhalb der zurückliegenden zwölf Monate das Opfer von Gewalt, Erniedrigungen, Beschimpfungen oder Mobbing am Arbeitsplatz gewesen zu sein. Die Mehrzahl wurde laut CHI das Opfer gewalttätiger Patienten, aber auch von Kollegen oder Vorgesetzten. Dennoch sei die Ausübung des Arztberufs in Großbritannien nicht gefährlicher als in vergleichbaren Ländern der Europäischen Union (EU) [3], versichert die British Medical Association. 

Krankenhäuser waren schon seit jeher sowohl Orte der Heilssuche als auch Orte der Gewalt. Das Erleben von Kranken als Monstern ist kein neues Phänomen. Michel Foucault beschreibt die Psychiatrien des 19. Jahrhunderts als Institutionen, in denen "Fürsorgemacht" über "Menschenmonster" ausgeübt wurde [4 Externer Link]. Wo Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl Macht über Schwache ausüben, kippen Systeme leicht in ihr Gegenteil, vor allem wenn wirksame Kontrolle fehlt. Dennoch stellt sich die Frage nach dem Spezifikum der heutigen Gewaltphänomene in der Medizin.

Modelle der Gewalt

Gewalt kann augenfällig sein, aber auch verdeckt. Schon die Zuschreibung einer bestimmten Eigenschaft kann Gewaltpotenziale enthalten. Was bedeutet die Erklärung eines alten Menschen zum "Pflegefall"? Trägt sie, wie eine Altenheimleiterin aus Westfalen anmahnt, "schon die Keime des Euthanasiegedankens" in sich [5]?

Eine neue Form der Gewalt ist bereits in bestimmten Kategorien von Wissen enthalten, so beispielsweise in genetischen Informationen. Sie richten sich nicht nur gegen den Getesteten, sondern manchmal noch stärker gegen die Angehörigen.

In die Zukunft gerichtete Gewalt kommt daher als Projekt des Neuen Menschen und bedient sich tief greifender Manipulationen der Keimbahn. So wird Macht ausgeübt über Generationen, Macht, mit der selbst die Toten noch über die zukünftig Lebenden herrschen. 

Gewaltpotenziale von Utopien können überblendet werden durch nicht garantierbare Heilsversprechen in ferner Zukunft. Aber sie richten sich, wie in der Stammzellforschung, in der Gegenwart durch Embryonenverbrauch gegen das Leben von Ungeborenen. Gewaltpotenziale verkleiden sich in das Gewand von Heilen und Vorbeugen. Frauen mit familiärer Häufung von Brust- und Eierstocktumoren und dem Nachweis bestimmter Brustkrebsgene (BRCA 1 und/oder BRCA 2) wird auf Grund einer neuesten onkologischen Studie (Journal of Clinical Oncology, März 2004) die beidseitige vorbeugende Mastektomie und operative Beseitigung der Eierstöcke empfohlen [6]. Die Rate späterer Mammakarzinome lasse sich so drastisch senken. Unklar bleibt, ob die Operation im Endeffekt auch lebensrettend wirkt. Was aber wurde jenen Frauen angetan, die trotz genetischer Belastung niemals ein Mammakarzinom entwickelt hätten?

Beispiel einer schleichenden Gewaltentwicklung sind die Entwicklungen der Reproduktionsmedizin. Angetreten vor rund 30 Jahren, um Unfruchtbarkeit bei Paaren, die unter ihrer Infertilität leiden, zu beheben, zählt heute die präimplantatorische Embryonenselektion und -vernichtung (PID) bei fruchtbaren und keineswegs immer genetisch belasteten Paaren zu ihrer jüngsten Offerte [7 Interner Link].

Organspende von Lebenden setzt die Zustimmung (und damit Legalisierung) zur Selbstverstümmelung voraus, zum "fremdnützigen" operativen Eingriff, der den Spender zumindest vorübergehend zum Kranken macht, in seltenen Fällen sogar seinen Tod bewirkt (ca. 0,5 Prozent Sterblichkeit bei der Leberlebendspende). Es geht um Eingriffe, bei denen sich der Arzt zum ersten Mal in der Geschichte seiner Profession nicht mehr auf einen Heilauftrag bei seinem "Patienten" berufen kann, denn sein "Patient" ist ein (Kern-)Gesunder, den er wissentlich schädigt.

Gewalt durch Menschenbilder

Behandlung und Heilung sind nicht mehr ohne einen wachsenden, subtilen Gewalteinsatz denkbar, eine fatale Inszenierung von vorgeblicher Nächstenliebe durch Instrumente der Gewalt. Sie sind so fest verankert in den gesundheitlichen Wunscherfüllungen von Gesellschaften, dass es Widerstand hervorruft, sie an die Oberfläche zu heben. 

Es geht hier nicht um die Korrektur längst etablierter, stetig expandierender Therapiesysteme, sondern um das Bewusstmachen eines universellen Phänomens: die Erzeugung von Gewalt durch Menschenbilder. Sie entfalten ihre Wirksamkeit oft erst durch Umdeutung von Begriffen, wie beispielsweise der des Todes in Gestalt des Hirntodkonzeptes. Sie beanspruchen Allgemeingültigkeit und entpuppen sich bei näherem Hinsehen oft als manipulativ gesteuerte gesellschaftliche Vereinbarungen.

Wer als Arzt Sterbenskranke tötet, gesetzlich sanktioniert oder nicht, beschwört Szenarien von gespenstischer Paradoxie herauf. Die 43jährige Britin Diane Pretty kämpfte um das Recht auf aktive Sterbehilfe durch alle Instanzen bis zum Europäischen Gerichtshof und unterlag schließlich durch dessen Urteil im April 2002 [8]. Jetzt hat der 44jährige Brite Leslie Burke, seit zwölf Jahren wegen einer fortschreitenden Hirnerkrankung gelähmt, vor dem High Court in London auf das Recht auf Weiterleben geklagt [9]. Burke will verhindern, dass Ärzte bei ihm die künstliche Ernährung gar nicht erst einleiten oder abbrechen. In der Sterbehilfedebatte verliert sich gänzlich die Trennschärfe der Bilder vom Arzt als Freund oder Feind. Wer ist der Feind des Kranken: der, der ihn tötet oder der, der dies unterlässt?

"Systemgewalt" oder individuelle Verantwortung?

Gewalt braucht immer ein System als Humus für ihre Entfaltung. Je mehr dieses System, vielleicht nur als gedanklicher Entwurf, Gewalteinwirkung (bis zur Tötung) toleriert, desto mehr wird sie salonfähig und schrittweise sanktioniert. Gewalt wird zum Selbstläufer. Sie entmündigt den Gewalttätigen, macht ihn unfähig, sein Gewaltinstrumentarium aus der Hand zu legen. Das Milgram-Experiment ist dafür ein beschämender Beleg [10]. In den Experimenten des amerikanischen Sozialpsychologen S. Milgram (1960) wurden Versuchspersonen (Menschen aus der Normalbevölkerung) in fingierten Versuchen als "Lehrer" von einem Versuchsleiter verbal unter Druck gesetzt und bewogen, ihre "Schüler" (Schauspieler) bei falschen Antworten mit elektrischen Stromstößen bis zur angeblich lebensgefährlichen "Höchststrafe" zu bestrafen. 60 Prozent der Versuchspersonen waren bereit, ihren Schülern "tödliche" Stromstöße von maximal 450 Volt zu versetzen. Milgram: "Mit bestürzender Regelmäßigkeit haben ‚gute Leute’ ... böse Dinge getan." Das Experiment ist in unterschiedlichen Varianten in anderen Ländern (auch Deutschland) mit generell vergleichbaren Ergebnissen wiederholt worden. 

Ist hier das "Systemböse", das so genannte absichtslose Böse am Werk, die Systemgewalt [11]? In komplexen selbstreferenziellen sozialen Systemen verliert diese immer mehr ihre Personenbezogenheit. Im gleichen Maße nimmt ihre Vorhersagbarkeit ab. Damit verschwinden allmählich Verantwortung und Rechenschaftsfähigkeit und werden zum Mythos. Am Ende steht im Extremfall die nicht mehr kontrollierbare, der individuellen Verantwortung entzogene Gewalt. 

Wer dem Diktat einer "absichtslosen Systemgewalt" in der Medizin entgehen will, dem bleibt eine Insel der Sicherheit: nämlich im Sinne der als altmodisch gescholtenen Ethik eines Hans Jonas einfach Verantwortung für Natur und Leben zu übernehmen [12]. Dieser Lösungsansatz hat freilich nur Chancen im Kontext institutioneller, vor allem aber gesellschaftlicher Neubestimmungen der Medizin und ihrer Aktionspartner. Es geht um den Mut, zwischen vernünftigen Zukunftsvisionen und Utopien zu unterscheiden, die gegen Menschenwürde und menschliches Leben gerichtet sind. Um die Einsicht, dass alle Fortschrittsbemühungen nicht imstande sind, die Grenzen der Medizin aufzuheben. Es geht um ein sicheres Gespür für jenen Umschlagpunkt, wo der Versuch der Leidminderung beginnt, Gewalt als Tribut einzufordern.

 

Anmerkungen

[1] Lermontov M J: Ein Held unserer Zeit. Frankfurt/Main. 1963. S. 78

[2] Williams C W: The Use Of Force. New York. 1966

[3] Großbritannien: Mehr Gewalt gegen Ärzte. Deutsches Ärzteblatt Online vom 15.03.2004

[4] Sustek S: Von Menschen-Monstern. Michel Foucaults Vorlesungen aus dem Jahr 1974-75 erzählen von Urbildern der Abirrung und der Geburt der Psychiatrie. Telepolis, 27.12.2003 
URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/buch/16345/1.html Externer Link

[5] Kürten C, K Dörner: Erfolgreich behandeln - armselig sterben. Macht und Ohnmacht im Krankenhaus und Heim. Gütersloh 1993. S. 91

[6] Mammakarzinom: Prophylaktische bilaterale Mastektomie bei BRCA1-/2-Genträgerinnen. Deutsches Ärzteblatt Online vom 24.02.2004

[7] Geisler L S: Kinder auf Bestellung - Genetische Tests und die Vernichtung menschlicher Embryonen. Frankfurter Rundschau, 10.05.2001, Nr. 108, S. 18 
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0105fr_pid.html Interner Link

[8] Gericht lehnt Antrag zur Sterbehilfe ab. Netzeitung vom 29.04.2002

[9] Brite will sein Recht auf Weiterleben einklagen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.2004, Nr. 51, S. 40

[10] Milgram S: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek. 1993

[11] Das Böse. Jenseits von Absichten und Täter. Oder: ist der Teufel ins System ausgewandert? Schriftenreihe Forum 1, Band 3. Hg: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen. 1995

[12] Jonas H: Prinzip Verantwortung. Frankfurt/Main. 1979
 

Weiterführender Link: 

Dr. med Mabuse - Zeitschrift im Gesundheitswesen 
URL:  http://www.mabuse-verlag.de/zeitschrift/  -  Externer Externer Link


Geisler, Linus S.:  Der Arzt als Feind?
Dr. med. Mabuse, Nr. 149, 29. Jahrgang, Mai/Juni 2004, S. 33-36
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/05mabuse-arzt_als_feind.html

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