Es herrscht Aufbruchstimmung
mit Endzeittönung. Utopisten preschen voran, bemüht, die in ihren
Sog geratenen Zauderer mitzuschleifen. Eine Aura, die sich in das Bild
des Menschen jenseits seines Selbst zu entladen anschickt. Dieser taucht
am Horizont auf, ein Entwurf, gigantisch aber konturschwach, eine Hohlform,
beliebig auffüllbar. Selbstüberschreitung lautet das Programm.
Was ansteht, ist die Überwindung der Wasserscheide zwischen humaner
und "posthumaner" Geschichte im Sinne von Francis Fukuyama.
Die Selbstüberschreitung des Menschen
Müssen
wir in Zukunft Roboter taufen?
Linus
S. Geisler
Die
Heidegger'sche In-die-Welt-Geworfenheit soll ihre Ablösung in den
Entwürfen der Biotechnologen, Computerexperten und Hirnforscher finden.
Kontingenz als ein Element der menschlichen Freiheit muss deterministischen
Setzungen weichen. Von einer neuen Singularität ist die Rede (Ray
Kurzweil), jenem Moment der Verschmelzung von menschlicher und maschineller
Intelligenz. Es naht der Augenblick, ab dem es nicht mehr erlaubt ist,
solche Maschinen abzuschalten, weil sie Bewusstsein erlangt haben, eigene
Ziele verfolgen oder sogar Würde besitzen. Die Frage: "Müssen
wir sie vielleicht sogar taufen?" beantwortet die Theologin Anne Foerster
mit "Ja".
Muss
man von einer neuen Sehnsucht reden, die sich gewaltsam in Szene setzt,
weil sie glaubt, über die geeigneten Methoden zu verfügen? Oder
ist es nur die posthumane Variante des uralten Homunculi-, Golem- und Androidenfernweh,
das Prometheus ebenso erfasst hatte wie E.T.A. Hoffmann, Ovid wie Mephisto,
und das aus den Fantasien genialer Filmemacher SF-Figuren wie Blade Runner,
Rasenmähermann oder Neo (Matrix) entspringen ließ?
Bekanntlich
endeten die meisten dieser alten Geschichten von der Überwindung des
Menschen für ihre Schöpfer tragisch. Entweder waren die Meister
gezwungen, ihr eigenes, immer gefährlicher werdendes Werk zu zerstören,
oder es zerstörte sich selbst und oft den Schöpfer und andere
Menschen zugleich mit. Doch die neuen Wesen der Zukunft verheißen
grundsätzlich neue Qualitäten und garantieren ihren Erzeugern
Immunität.
In
den Basistexten zu den Umgestaltungen des Homo sapiens im Sinne des "social
engineering" stößt man auf bemerkenswerte Parallelitäten.
Schon in Leo Trotzkis Visionen geht der Mensch daran, "sich selbst zu harmonisieren",
der erstarrte Homo sapiens wird "radikal umgearbeitet" und soll sich auflehnen
gegen das "Gesetz der blinden Geschlechtsauslese". Sloterdijk postuliert
den Abschied vom "Geburtenfatalismus" und die Umstellung auf die "optionale
Geburt", damit sich der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginne.
Ist das Neue also vielleicht nur der Rückfall ins Alte - und gerade
deshalb so suspekt? Die Magie der Kontrolle des Menschen über den
Menschen als Endlosschleife? Geht es um die immer neuen und doch gleichen
Ausübungen von Macht, die, wie Canetti schrieb, stets Macht über
Fleisch ist? Um Macht über Generationen? Um Macht, die selbst die
Toten noch über die Lebenden ausüben? Oder zeichnet sich eine
völlig andere Signatur der künftigen Natur des Menschen, genauer
gesagt seiner Überschreitung, ab?
Really big stuff
Den
Unwissenden öffnet Gregory Stock, Direktor des Programms für
Medizin, Technologie und Gesellschaft an der UCLA (Los Angeles), auf seinen
Reisen um den Globus die Augen und zeigt ihnen, wo wir stehen: an der Schwelle
einer provozierenden wissenschaftlichen Götterdämmerung, bei
der der Homo sapiens nicht das letzte Wort in der Evolution der Primaten
ist. Wir sind gehalten, unsere gegenwärtige Gestalt und unser Wesen
zu überschreiten. Wir brechen auf zu überwältigenden unerforschten
Welten. Erweiterung, Übersteigerung, Überhöhung des Biologischen,
kurz "enhancement" lautet der Leitbegriff, der genau besehen die Diskriminierung
der Normalität anvisiert. "This is really big stuff", wird uns versichert.
Den
Lohn dieser Anstrengungen begreift jeder und die meisten wollen ihn: Unsere
Lebensspanne wird sich in Vitalität und Gesundheit verlängern.
Der erste Mensch, der 150 Jahre alt werden wird, lebt bereits. Wir werden
unseren Kindern Gene schenken, die ihre Intelligenz, Schönheit und
athletischen Fähigkeiten unvorstellbar erhöhen. Wir werden eine
nach oben offene Gesundheitsskala entwerfen. Und wir werden endlich nicht
länger Sklaven der genetischen Lotterie sein, die doch so grausame
Lose verteilen kann.
Die
Techniken des posthumanen genetischen Superdopings sind bereits in Entwicklung
und sollen in einigen Jahrzehnten perfekt sein. Das Einbringen ausgewählter
Gene in die Keimbahn, beispielsweise in die befruchtete Eizelle, soll sich
als ultimative Gentherapie erweisen. Superallele, also exquisite Varianten
des gleichen Gens, werden ihre Träger mit unbeschreiblichen Begabungen
segnen. Es lassen sich "DNA-Kassetten", also quasi molekulare Care-Pakete
zusammenstellen und in das Erbgut einfügen. Reproduktionskliniken
könnten bereits bei der In-vitro-Fertilisation das Hinzufügen
von künstlichen Chromosomen in das Erbgut anbieten.
Das
naturbelassene Kind erweist sich mehr und mehr als Auslaufmodell. Der Köder
der Utopie, der jenes Überkind erträumen lässt, das alle
eigenen Lebensbrüche und Versagensnarben vergessen macht, hakt sich
immer tiefer in das Fleisch derer, denen gentechnische Optimierungskünste
noch versagt geblieben sind. Das Überkind wird zur Projektionsfläche
für entgrenzte Träume, zum Garant paradiesischer Zukünfte.
Es wird, wie Peter Gross es genannt hat, zum "genetischen Christkind",
das alle Wünsche erfüllt.
Eine
Wahl haben wir nicht, so werden wir belehrt. Wenn wir es nicht tun, werden
es andere mit schlechterem Know-how und geringer ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein
tun, unkontrollierbare Akteure im biotechnologischen Untergrund. Die erforderlichen
Technologien werden sowieso als Nebenprodukte im Mainstream der Forschung
anfallen. Und schließlich: Es handelt sich nicht um nukleare Experimente,
wo jeder Unfall den Tod Millionen Unschuldiger verursachen kann.
Technokratische
Utopien sind Traumdeutungen. Aber es sind keine spontanen Träume,
sondern sie werden mit dem Imperativ von Werbeslogans ("make your dreams
come true") verordnet. Kollektive Bilder, die sich in unseren Schlaf einnisten
sollen, so verführerisch, dass wir uns ihnen widerstandslos hingeben,
archaische Sehnsüchte nach einer Zukunft ohne Leiden, Alter und Tod.
Der Rückblick auf jenen überwundenen Menschen, der sich selbst
als seine Grenze respektierte, löst dann allenfalls noch herablassendes
Mitleid aus. Verschwiegen wird, dass diese Zukunft Endzeit ist, in der
der Mensch nur als sein eigener Nachzügler vorkommt, ein antiquiertes
Fossil. Der Humus dieser Träume ist freilich so alt wie der Mensch
selbst: Als einziges Lebewesen möchte er stets ein anderer sein, als
er ist.
Dämonen und Dystopien
In
seinem Werk "Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten"
beschrieb der Mathematiker Pierre Simon de Laplace 1814 den nach ihm benannten
Dämon, Fiktion einer übermenschlichen Intelligenz, der, wenn
er sämtliche materiellen Partikel des Universums in ihren jeweiligen
Zuständen zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachten und vollständig
beschreiben könnte, auch in der Lage wäre, alle nur möglichen
vergangenen und zukünftigen Ereignisse zu errechnen. Jener Laplace'sche
Dämon, der vollkommene Prognosen über den zukünftigen Weltverlauf
abzugeben vermag, scheint aus den biotechnologischen Laboratorien immer
noch nicht vertrieben zu sein. Sein metaphysischer Determinismus, dessen
Begründung von einem nach den Gesetzen der Mechanik funktionierenden
Weltsystem abgeleitet war, ist jedoch für die Vorhersagbarkeit in
der Genetik untauglich. Gene sind, anders als Chromosomen, keine materiellen
Objekte, sondern Konzepte, die allerdings in den letzten Jahrzehnten viel
historischen Ballast angesammelt haben. Es gibt mehr Eigenschaften als
Gene und bestimmte Eigenschaften werden in der Regel von vielen Genen beeinflusst.
Überspitzt ausgedrückt: Man wird vielleicht von keinem Gen jemals
genau wissen, was es alles beeinflusst. Ein bestimmter Genotypus erlaubt
keine zuverlässige Vorhersage über den daraus entstehenden Phänotypus.
Genetische Entwicklungsprozesse, also etwa die Entwicklung einer befruchteten
Eizelle zu einem fertigen Organismus, durchlaufen eine Unzahl von Prozessen,
die zum Teil zufallsbedingt und an Phänomene der Selbstorganisation
gebunden sind. Ferner führen ständige Mutationen zu einer Fluktuation
des Genoms. Hier herrschen also keine kausal-linearen Bezüge.
Entscheidend
ist schließlich nicht nur, welche Gene ein Organismus besitzt, sondern
auch, ob diese Gene in einem aktivierten Zustand vorliegen oder durch bestimmte
molekularbiologische Mechanismen inaktiviert worden sind. Die Epigenetik
untersucht derartige Phänomene. Dies erklärt auch, warum Klonen
keine Klone im Sinne von exakten Kopien hervorbringt. Die unterschiedliche
Fellzeichnung des Klonkätzchens Copy Cat (im Dezember 2001 die weltweit
erste geklonte Katze) und seiner genetischen Mutter Rainbow ist hierfür
ein augenfälliger Beleg unter vielen.
[IMAGES] Copycat, das weltweit
erste geklonte Kätzchen mit seiner Ersatz-Mutter (r.). Das Erbgut
des Tieres, das von einer erwachsenen weiblichen Hauskatze (l.) stammt,
ist in eine zuvor entkernte Eizelle übertragen worden. (picture-alliance/dpa)
Ebenso
fragwürdig ist der Ansatz, mit dem Hinzufügen künstlicher
Chromosomen das menschliche Erbgut in einem gewünschten Sinne optimieren
zu können. Der Versuch würde zur Aneuploidie, das heißt
einer veränderten Chromosomenzahl führen. Beim Menschen ist jedoch
kein Zustand von Aneuploidie bekannt, der nicht zu schweren oder lebensgefährlichen
Entwicklungsstörungen führt. Ein klassisches Beispiel dafür
ist das Down-Syndrom ("Mongolismus") mit einem überzähligen Chromosom
21 (Trisomie 21). Das Auftreten von Aneuploidien bei Klonversuchen von
Primaten ist, wie die Arbeitsgruppe um Gerald Schatten (University of Pittsburgh
School of Medicine Pennsylvania) aktuell nachgewiesen hat, der Grund für
die höchstwahrscheinlich prinzipielle Nichtklonierbarkeit des Menschen.
Unterschlagen wird nicht selten, dass Manipulationen der Keimbahn den für
alle Lebewesen unverzichtbaren Schutz durch die Artenbarriere außer
Kraft setzen und tödliche Selektionsnachteile in der Zukunft bedeuten
könnten.
Letztlich
erweist sich das Genom als nur eine Organisationsebene des Lebendigen.
Die biowissenschaftliche Deutungsmacht suggeriert allerdings dem Laien
mit einem überfrachteten Begriff vom Gen nicht nur, wo auf ihrem Feld
die Normalitäten, die Abweichungen und die Utopien zu orten sind,
sondern greift damit zugleich in sein Selbstverständnis ein, das ausschließlich
am genetischen Design festgemacht werden soll. Aber die hochkomplexen Modelle
der genetischen und epigenetischen Regulation schließen exakt vorhersehbare
und damit auch risikofreie Eingriffe in die Keimbahn definitiv aus. Das
Physiom, das alle Beziehungen der Gene und ihrer Produkte untereinander
und mit den Umgebungseinflüssen beschreibt, ist nach der Genom- und
Proteomforschung das noch in weiter Ferne liegende Ziel der Wissenssuche.
Ohne dass es nur im Ansatz verstanden worden ist, geht man daran, es durch
Anthropotechniken zu verbessern.
Die
gentechnisch intendierte Selbstüberschreitung des Menschen ist demnach
allein schon biologisch eine Spekulation wider jede bessere wissenschaftliche
Erkenntnis, einfach gesagt "schlechte Biologie". Das darauf erbaute Gebäude
der Utopien ist bestenfalls ein Kartenhaus der Dystopien, eine zum Fehlschlag
verurteilte Strategie der finalen Kontrolle des menschlichen Lebens.
Roboter und Rassisten
In
dem Roman "Gottes Gehirn" von Jens Johler und Olaf-Axel Burow sagt Lansky,
eine der beiden Schlüsselfiguren: "Wer einen intelligenten Roboter
für ein minderwertiges Wesen hält, ist ein Rassist." Und für
seinen Kollegen Jackson, der den Menschen für nichts anderes hält
als ein Upgrade des Schimpansen, führt konsequenterweise das Upgrade
des Menschen auf den Pfad zu seiner Selbstüberschreitung. Der seit
Jahrzehnten dahindümpelnde Forschungszweig der künstlichen Intelligenz,
deren suprahumane Ausweitungen dieses neue Gattungswesen erst ermöglichen
sollen, erfährt, gespeist durch die Visionen der Neurobiologie, ungeahnte
Impulse. Die Attacke auf das "letzte Naturreservat" (Stanislaw Lern), das
Gehirn, ist angeblasen.
Dabei
ist die neurophysiologische Basis der natürlichen Intelligenz noch
nicht einmal im Ansatz verstanden. Aber nichts hindert den großen
Aufbruch zum Computator sapiens, der emphatische Regungen, wie zum Beispiel
das herablassende Mitleid mit dem Homo sapiens der Vergangenheit, längst
überwunden hat, weil die neuen Geschöpfe der Neurowissenschaften
nicht mehr in der menschlichen Natur wurzeln. Verschiedene Experten auf
dem Gebiet der künstlichen Intelligenz wie Rolf Pfeifer, Leiter des
KI-Labors an der Universität Zürich, halten es nicht für
sinnvoll, überhaupt Roboter nach dem Vorbild des Menschen zu konstruieren.
Erst im Durchlaufen einer eigenen Evolution liege die Chance, weit über
den Homo sapiens hinauszugelangen. Gerade nicht anthropomorphen Robotern
werden die besseren Chancen eingeräumt, unter anderem mit dem Hinweis,
dass auch die Konstruktion von Flugzeugen erst gelang, als man die Nachahmung
des Vogelflugs aufgegeben hatte.
Die
Geburt der Superspezies, so verkünden dessen ungeachtet in den USA
die Roboterforscher Hans Moravec und Ray Kurzweil, wird sich spätestens
2050 ereignet haben. Die dann aufziehende neue Ära nennt Kurzweil
in einem schiefen Bild die "Singularität". Eine Verschmelzung von
menschlicher mit maschineller Intelligenz, die etwas Größeres
als sich selbst schaffen und der Wendepunkt der Evolution auf unserem Planeten
sein wird. Gelingen soll dies durch eine heute noch kaum vorstellbare Steigerung
von Rechnerleistungen. In diesem Denksystem kommt der Mensch nur als "rationaler
Agent" vor, als Intelligenzwesen, dessen Natur ausschließlich auf
der Annahme beruht, rational zu handeln, und dessen nicht-rationale Aspekte
zu vernachlässigen sind. Die ins Extrem getriebene Computerisierung
wird, so die These der philosophischen Vordenker des Computerzeitalters
wie Luciano Floridi in Oxford ("Artificial Evil and the Foundation of Computer
Ethics"), zwangsläufig mit dem Auftauchen einer neuen Ethik konfrontiert
werden. Maschinen, die sich interaktiv, adaptiv und autonom verhalten können
und über alternative Handlungsweisen verfügen, müssten als
moralisch zurechnungsfähig eingestuft werden - freilich ohne dass
sie zur Verantwortung gezogen werden könnten. Dieses neue Böse
wird sich erst nach den Prinzipien einer Artificial Morality, einer künstlichen
Moral beurteilen lassen. Aber solange noch Menschen die Programme schreiben,
wird das neue Böse nichts anderes sein als das gute alte Böse
und die Verantwortung zurückschlagen auf die Verfasser der Programme.
Imitation des Unbegreiflichen
Der
schwedische Forscher Gerald Q. Maguire sieht in seinen cyberdelischen Visionen
die Selbstüberschreitung des Menschen in Hirnimplantaten mit Schnittstellen
zu virtuellen Räumen. Das "Uploaden" unseres Selbst in das Internet
ermöglicht körperlose Telepräsenz und wird zum Garanten
einer neuen Unsterblichkeit. Durch Herunterladen, Kopieren und "Verwerten"
dieses Selbst wird die Entwicklung von "Parallelexistenzen" vorstellbar,
bis schließlich, wie in der digitalen Fotografie, ein Original nicht
mehr auszumachen ist. Der Cyberspace als Ort verbundloser multipler Persönlichkeiten?
Dieses
Konzept ignoriert jedoch eine fundamentale Voraussetzung von Intelligenz
und Bewusstsein. Als emergente Phänomene, die aus ihren Subsystemen
nicht umfassend erklärbar sind, kommen Intelligenz und Bewusstsein
in der Natur stets nur in einem Körper vor und können nur in
ihm existieren. Dieses Embodiment, also die Einbettung des kognitiven Apparates
in den Körper, ist als grundlegend zu verstehen. Denkende, fühlende,
mit Ich-Bewusstsein ausgestattete Roboter sind ohne ein physikalisches
Substrat, das als Embodiment für Intelligenz und kognitive Leistungen
bereitsteht, nicht vorstellbar. Körperliche Repräsentanz ist
in der Biologie die "Apriori-Verfassung" der Erfahrbarkeit eines Ich und
seiner Welt.
Lebende
Legenden der Roboterforschung wie Rodney Brooks vom Massachusetts Institute
of Technology (MIT) versuchen diese Grundprobleme der Robotik durch Entwicklung
von "Living Machines" zu lösen, Robotern mit den Fähigkeiten
lebender Systeme wie Selbstorganisation, Selbstreproduktion und Selbstreparatur.
Aber selbst die Kreation solcher neuer Robotergenerationen, die vielleicht
Adaptationsfähigkeit und gewisse soziale Kompetenzen entwickeln könnten,
dürfte eher der Imitation von Intelligenz und Bewusstsein entsprechen,
als einertatsächlichen begrifflichen Annäherung an emergente
Phänomene. Emergente Phänomene sind gekennzeichnet durch die
Eigenschaft, dass sie aus dem Substrat, dem sie entspringen, nicht zwingend
erklärt und nur unzureichend auf die entsprechende Komplexität
des mit diesen Eigenschaften ausgestatteten Organismus zurückgeführt
werden können. Es ist sehr wahrscheinlich, dass in der Emergenz-Eigenschaft
von kognitiven Leistungen und Bewusstseinsphänomenen eine grundsätzliche
Barriere gegeben ist, die ihre artifizielle Hervorbringung unmöglich
macht.
Der
Berliner Neurophysiologe Emil Du Bois-Reymond sprach bereits 1872 in seinem
Vortrag "Über die Grenzen des Naturerkennens" von jenem Punkt in der
Entwicklung des Lebens, in dem etwas Unerhörtes und zugleich Unbegreifliches
auftaucht: "Dieses Unbegreifliche ist das Bewusstsein." Auch die modernen
Neurowissenschaften machen dieses Unbegreifliche nicht begreiflicher, wenn
sie es in selbstreferenziellen Strukturen im Nervensystem lokalisieren.
Sie entkräften damit zwar die Annahme eines Leib-Seele-Dualismus,
weisen damit aber auch Seele und Körper die gleiche Sterblichkeit
zu.
Waisenkinder der Natur
Wie
wird "Natur" zu denken sein, wenn der Mensch sich selbst überschritten
hat? Sicherlich nicht mehr als die gute, die gelungene Natur der Antike,
die noch lineare Veränderungen anstrebte, ausgehend von einem festen
Maß und Umriss. Sondern Natur, die beginnt, sich selbst zu verlassen,
indem sie sich bis zur rigorosen Entfernung ihrer ursprünglichen Gestalt
verändert, umbaut und deformiert, getrieben vom Fortschritt, dieser
unendlichen Geschichte, in der die Protagonisten verdammt sind, sich ständig
selbst zu überholen. Schließlich gibt der Mensch den archimedischen
Punkt seines Selbstverständnisses auf. Ausgebrochen aus der Behütung
seiner Gattung, wird er ein Wanderer auf der ewigen Suche nach jenem Äußersten,
das sich immer entzieht, ohne die Möglichkeit einer Rückkehr.
"Waisenkinder der Natur" hat Alain Finkielkraut die optimierten Geschöpfe
der Zukunft genannt. Der überwundene Mensch der Zukunft: Last exit
für den desillusionierten Menschen der Gegenwart?
Vielleicht
gilt für den Menschen ähnlich dem Axiom "man kann nicht nicht
kommunizieren" auch, dass er sich nicht nicht utopisch denken kann. Gegen
die Verführung, sich Utopien als den Gegenbildern der Gegenwart hinzugeben,
scheint kein Kraut gewachsen zu sein. Zukunftssüchtigkeit erweist
sich als unheilbares Leiden, das blind macht für das Elend der Gegenwart.
Sie entzieht sich der Verantwortung, die Lebenswelt jenes nicht unerheblichen
Teils der Menschheit zu verbessern, dem es durch Unterdrückung, Ausbeutung
und Verteilungsungerechtigkeiten verwehrt ist, aus der jedem innewohnenden
Vielfalt seiner Anlagen zu schöpfen. Täglich verhungern 30 000
"naturbelassene" Kinder bereits an der Schwelle ihrer Entwicklung, ohne
jede Chance zur Entfaltung. Diesen Skandal erfolgversprechend anzugehen,
bedarf es nicht utopischer, sondern bereits verfügbarer, freilich
unspektakulärer Methoden - und eines von Hybris befreiten Menschenbildes.
Die
Überschreitung des Menschen als technologisch inszenierte Inkarnation
säkularer Erlösungsfantasien? Wenn die Optimierungsvisionen zurückgeholt
werden auf die Realität des kalten Experimentiertisches, kommt eine
ganz andere, eine erbarmungswürdige Kreatur ins Blickfeld: Der Mensch,
der sich selbst als endloses Langzeit-Experiment instrumentalisiert, schutzlos
allen Willküreingriffen und Phantasmen preisgegeben und dennoch unvollkommen
bis zum Ende der Tage, ein Opfer des Trugschlusses, dass die immer weiter
getriebene Manipulation des Imperfekten schließlich zur Perfektion
führt. Für Heidegger war der Schrecken der Anfang der Philosophie.
Aber hier ist es nicht jener aus der Philosophie geborene Schrecken, der
uns zögern lässt, jeglichem Fortschreiten in den Wissenschaften
unbesehen zuzustimmen. Es ist der Schrecken, der uns angesichts einer Machtfülle
befällt, von der wir ahnen, dass ihre Steuerung an grundsätzliche
Grenzen menschlicher Verantwortbarkeit stößt, weil sie unsere
eigene Natur destruiert und uns in eine Orientierungslosigkeit ohne Umkehr
entlässt.
Leseempfehlungen
des Autors:
|
|
Kurzweil, R.: Homo sapiens.
Leben im 21. Jahrhundert. Was bleibt vom Menschen? Köln 1999. |
Stock, G.: Redesigning Humans.
Our Inevitable Genetic Future. Houghton Mifflin, New York 2002. |
Fukuyama, F.: Our Posthuman
Future. Consequences of the Biotechnology Revolution. Farrar, Straus &
Giroux, New York 2002. |
Honnefelder, L., P. Propping
(Hrsg.): Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen? Köln
2001. |
Link
zu UNIVERSITAS Online:
http://www.hirzel.de/universitas/
- Externer 
Geisler, Linus S.: Die Selbstüberschreitung
des Menschen - Müssen wir in Zukunft Roboter taufen? |
UNIVERSITAS, 59. Jahrgang,
Februar 2004, Nr. 692, S. 135-145 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/02universitas_selbstueberschreitung.html |
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