IDEALBILD / Der mündige Patient
Jagd nach einem Phantom
Autor: Linus S. Geisler
Hippokrates kannte ihn nicht,
den mündigen Patienten. Seine Verordnungen traf er "zu Nutz und Frommen
der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil", aber auch nach ihrem
Willen? Die klassische paternalistische Haltung bestimmte über Jahrhunderte
die Beziehung zwischen Arzt und Patient, eine "Father knows best"-Medizin,
geleitet von Fürsorge und Zuwendung.
Erst die sich seit den siebziger
Jahren rascher wandelnde Medizin verdeutlichte die möglichen dunklen
Punkte des Modells: Bevormundung und Entmündigung. Der Wille des Patienten
löste das Prinzip des Wohls des Kranken als oberstes Gesetz ab. Die
Autonomie des Patienten gewann Vorrang vor dem Prinzip der Fürsorge.
Das Ideal eines neuen Gegenentwurfs war konzipiert: der "mündige Patient",
der aufgeklärt, eigenverantwortlich und selbstbestimmt die Richtlinien
seiner Behandlung vorgibt, erhoben in den Rang eines "Koproduzenten" seiner
Gesundheit.
Schon ist gar nicht mehr
vom Patienten, sondern vom Kunden die Rede, von Leistungen statt Engagement,
von Verträgen statt Vertrauen. Am Ende stehen sich "Health-Care-Consumer"
und "Leistungserbringer" in nüchternem Umgang gegenüber, jeder
berechnend, je nach Interessenlage. Mit immer stärker wachsender Patientenautonomie
geriet der Arzt als Informationsbeschaffer zur Hintergrundfigur.
Ein neues Gespenst tauchte
nun auf: die ins Extrem getriebene Selbstbestimmung des Patienten als purer
rechtlicher Absicherungsrahmen in einem weitgehend emotionslosen, arztfreien
Raum. Ernüchternd die Erkenntnis: Der allwissende, zu allen Entscheidungen
befähigte Patient ist ein rares Wesen, ein hoch kompetenter, aber,
wie der klinische Alltag erweist, einsamer Einzelgänger, der unversehens
in eine neue Abhängigkeit geraten ist. Damit stellt sich die Frage:
Haben gesundheitspolitische Reformen, die auf einem solchen Menschenbild
gründen, überhaupt eine Chance auf Durchsetzung?
Rechnung ohne Wirt
Eine verabsolutierte Patientenautonomie
ist der typische Fall einer Rechnung ohne den Wirt. Fundamentale Fragen
im Vorfeld der Etablierung dieses Modells wurden nicht oder nur unzulänglich
gestellt: Wie viel Autonomie will der kranke Mensch überhaupt, und
wie viel verträgt er? Kann Mündigkeit Vertrauen ersetzen? Viele
Patienten ziehen eine vertrauenswürdige Arzt-Patient-Beziehung der
autonomen Selbstbestimmung vor. In einer neueren Untersuchung wurde die
Aussage: "Ich bin sicher, dass die mich behandelnden Ärzte die richtigen
Entscheidungen für mich treffen. Der Arzt soll für mich entscheiden",
von 73 Prozent der Patienten bejaht, nur 17 Prozent verneinten sie.
Auch ist Autonomie keine
statische, sondern eine plastische Eigenschaft. Je kränker, je leidender,
je hilfloser der Patient, desto mehr schwindet seine Fähigkeit zu
selbstbestimmten Entscheidungen, beim bewusstlosen Notfallpatienten ist
sie gar nicht gegeben. Wie autonom kann ein Suchtkranker sein? Von wie
viel Autonomie zeugt die Klage eines hochgestellten Richters gegen einen
Schokoriegel-Hersteller und eine Limonaden-GmbH, deren Produkte er für
seine Zuckerkrankheit verantwortlich macht? Ist das Optimum der Autonomie
nur etwas für junge Gesunde?
Auch der Weg zu selbstbestimmtem
Verhalten wirft Fragen auf. Stimmt die Formel: Je mehr Wissen, desto größer
die Mündigkeit? Patienten haben heute durch das Internet die Möglichkeit,
Informationen anzuhäufen. Das Web mit seinen zahllosen Gesundheitsportalen
bleibt kaum eine Antwort schuldig. Doch die Gewichtung der Auskünfte
und die Prüfung ihrer Zuverlässigkeit überfordert viele
Patienten. Andererseits kann die Wahrnehmung des verbrieften Rechts auf
Nichtwissen, wenn es beispielsweise um genetische Daten geht, Ausdruck
einer besonders ausgeprägten Selbstbestimmtheit sein.
Zurück nach vorn
Erfreulicherweise zeichnen
sich Gegenströmungen zum Prinzip einer überzogenen Patientenautonomie
ab, die den Arzt zum Wissensvermittler degradiert und den Kranken in die
Isolation einer fiktiven Mündigkeit abdrängt. Das "Shared Decision
Making"-Modell versetzt in einem schrittweisen Vertrauens-, Informations-
und Diskursprozess Patient und Arzt in die Lage, gemeinsame Therapieziele
zu definieren. Der Ansatz einer relationalen Autonomie bezieht das Fürsorgeprinzip
wieder mit ein und berücksichtigt die Verletzlichkeit und Abhängigkeit
in Krankheit und Leiden. Das so genannte deliberative Modell sieht im Arzt
einen Lehrer und Freund, der sich mit dem Patienten über die besten
Handlungsmöglichkeiten austauscht. Unsere Vorstellung einer "gestützten
Autonomie" geht davon aus, dass der Patient seine Autonomie oft erst durch
das stützende Engagement seines Arztes auf verschiedenen Ebenen wahrnehmen
kann.
Die Einsicht in dieses neue
(und doch alte) Prinzip des Arzt-Patient-Verhältnisses, das dem Patienten
Selbstbestimmung ermöglicht, soweit er sie beanspruchen kann und will,
Fürsorge praktiziert und Geborgenheit ebenso vermittelt wie kompetente
Entscheidungshilfe, ist freilich nicht umsonst zu haben. Sie setzt eine
Ausbildung zum Arzt voraus, die gleichrangig mit naturwissenschaftlichem
Wissen auch Dialogfähigkeit, einfühlendes Verstehen und lebendiges
Interesse an dem Patienten lehrt. Diese Qualifikation ist das Nadelöhr
aller Reformbestrebungen in der Medizin.
Prof. Dr. med. Linus S.
Geisler ist Internist und berät als Sachverständiger unter
anderem die Bundestags-Enquetekommission "Ethik und Recht der modernen
Medizin".
Geisler, Linus S.: Idealbild
- Der mündige Patient. Rheinischer Merkur, Nr. 21, 22. Mai 2003, S.
8 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2003/0522rm-patient.html |
|