Start  <  Artikelübersicht  <  Linus Geisler: DER GUTE ARZT. GEO WISSEN, Nr. 30, September 2002
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Für viele Ärzte ist Krankheit lediglich ein Defektgeschehen, das es mit moderner Technik zu reparieren gilt. Dabei ist für den Heilerfolg das Gespräch mit dem Patienten ebenso wichtig.

Der gute Arzt

Von Linus Geisler (Text) und Bernd Mölk-Tassel (Illustrationen)
Christoph Wilhelm Hufeland, Mitbegründer der neuzeitlichen Medizin, schrieb vor rund 200 Jahren: "Es bedarf noch immer derselben Eigenschaften, um ein großer Arzt zu sein, wie zu Hippokrates' Zeiten." Gilt das aber auch heute noch, angesichts einer Medizin, zu deren Arsenal Chemotherapie, Organtransplantation und Gentechnik gehören? Vielleicht gibt darauf eine Krankengeschichte Antwort, die sich in meiner früheren Klinik ereignet hat.

Ein junger Patient, ein Sportlehrer, wurde nach einer Herztransplantation zu mir zurücküberwiesen. Nach dem Eingriff war er geradezu euphorisch von der Idee beherrscht, möglichst schnell wieder so fit wie früher zu werden. Nach drei Monaten Therapie änderte sich seine Verfassung schlagartig: Er wirkte gereizt, aggressiv und unruhig. Eine Kontrolluntersuchung zeigte, dass sein Körper im Begriff war, das neue Herz abzustoßen. In mehreren Gesprächen reagierte er zunächst abwehrend - bis es schließlich aus ihm herausbrach: Seit der Operation sei er vollständig impotent.

Ich hatte allerdings das Gefühl, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Und tatsächlich gelang es mir nach einiger Zeit zu erfahren, was wirklich geschehen war: Bei einer Nachuntersuchung im Transplantationszentrum hatte jemand dem Patienten die Identität des Spenders offenbart. Es war eine Spenderin, eine junge Frau, die nach einer zerbrochenen Beziehung aus dem vierten Stock eines Hauses gesprungen war.

Von dem Herzen einer Frau existenziell abzuhängen, noch dazu von dem einer "Selbstmörderin", erschien dem Sportlehrer unerträglich und war mit seinem maskulin bestimmten Selbstbild nicht in Einklang zu bringen. Er nannte sein neues Herz verächtlich seine "Sklavin" und war sich zugleich bewusst, dass in Wirklichkeit er dessen Sklave war. In Albträumen hing die Spenderin in einem Baum über ihm und starrte ihn mit toten Augen an. Er wollte dieses Herz loswerden und nahm die Medikamente zur Unterdrückung der Abstoßungsreaktion nur unregelmäßig ein. Die Verschlechterung seines Zustandes machte ihn dann so panisch, dass er die Medikamente schließlich überdosierte.

Erst nach vielen Gesprächen zwischen uns gelang es dem Patienten, seine Krise umzudeuten und schließlich zu überwinden. Er begann, sich mental mit der Spenderin auszusöhnen und das neue Herz anzunehmen.

Eine Erkrankung - so zeigt dieser Fall exemplarisch - ist aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu interpretieren. Die des Arztes wird durch dessen Befunde bestimmt, durch so genannte harte, mit naturwissenschaftlichen Methoden gewonnene Daten, aber auch durch "weiche" Befunde, die aus der ärztlichen Erfahrung resultieren. Dieser Perspektive steht häufig die völlig andere des Patienten gegenüber. Doch erst wer beide Sichtweisen kennt, kann ein ganzheitliches Verständnis der Krankheit gewinnen, das Grundlage jeder erfolgreichen Behandlung ist.

Wem hatte also der junge Mann sein Überleben zu verdanken? Dem Einsatz von medizinischer Technik? Schon, aber nicht ihr allein. Dem ärztlichen Gespräch, das dem Patienten eine neue Sichtweise seines Problems ermöglichte? Gewiss, doch ebenso nur zum Teil. Letztlich aber bestätigt auch dieser Fall die alte Erkenntnis, dass der Arzt zwei "Werkzeuge" einsetzen muss: seine Hand und sein Wort. Und erst der sinnvoll abgestimmte Einsatz beider macht den "guten Arzt" aus.

Allerdings hat sich seit Beginn der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das Verständnis von Heilkunst gewandelt: Krankheit wird mehr und mehr als ein Defektgeschehen verstanden, das mit Reparatur oder Austausch verschlissener Teile am besten zu beheben ist. Der Begriff Gesundheit umfasst heute auch Bereiche, die sich Beauty und Wellness nennen; die Pharmaindustrie verdient Unsummen mit Medikamenten wie Viagra, die nicht nur bei Krankheiten eingesetzt werden, sondern auch als Lifestyle-Pille. Utopien von grenzenloser Lebensverlängerung bei bester Gesundheit und genetisch optimierten Menschen finden ein dankbares Publikum.
Der Horror einer sprachlosen Medizin
Ein Arzt betritt wortlos ein Krankenzimmer. Im Bett liegt ein abgemagerter Endsechzigjähriger, der den Arzt erwartungsvoll ansieht. Der Arzt macht den rechten Arm des Patienten frei, legt die Staubinde an, punktiert eine Vene, führt einen Venenkatheter ein, hängt eine Infusionsflasche an und stellt eine bestimmte Tropfenzahl ein. Er vergewissert sich, dass die Infusion richtig läuft, dann geht er - wortlos, wie er gekommen ist - zur Tür... Bevor der Arzt die Tür erreicht, richtet sich der Kranke mühsam auf und fragt: "Entschuldigung, Herr Doktor, darf ich fragen, was Sie da gemacht haben?" Der Arzt dreht sich um und antwortet mit unbewegtem Gesicht: "Sie haben Lungenkrebs, und ich habe Ihnen eine Infusion zur Behandlung Ihrer Krebserkrankung angelegt."

(aus Linus Geisler: "Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch") Interner Link

Das traditionelle Rollenverständnis von Patient und Arzt, das vom klassischen Auftrag "Heilen, lindern, vorbeugen" bestimmt ist, weicht hingegen auf. Das Vertrauensverhältnis wird abgelöst von einem Vertragsverhältnis mit genau definierter Leistung. Der Patient wird zum Kunden, der Arzt zum Dienstleister, Praxis und Krankenhaus werden zum "Profit-Center". Misstrauen wie unter unsoliden Geschäftspartnern kommt auf.

Das Prinzip "Das Wohl des Kranken ist oberstes Gesetz" wird ersetzt durch "Der Wille des Patienten ist oberstes Gebot". Die Autonomie des Patienten, dessen Recht auf Selbstbestimmung, steht über allem, der frühere Paternalismus, der dem Arzt eine väterlich-bestimmende Rolle zugewiesen hat, scheint überholt zu sein. Als Ideal gilt der "mündige" Patient, der aufgeklärt, eigenverantwortlich und selbstbestimmt die Richtlinien seiner Behandlung vorgibt.

Aber wie belastungs- und entscheidungsfähig ist ein Kranker wirklich? Kann er tatsächlich mitbestimmen, welches Modell einer künstlichen Herzklappe für ihn das beste ist? Soll der umfassend aufgeklärte Krebspatient tatsächlich allein entscheiden, ob er sich einer Chemotherapie oder einer Bestrahlung unterzieht? Erlebt er sich auch dann noch als "mündig" oder doch zuallererst als krank? Schlägt Selbstbestimmung in ein Sich-selbst-Überlassensein um?

Die Erfahrung zeigt, dass Beziehungen zwischen Arzt und Patient fast immer ungleich sind: Ein Hilfe suchender Mensch steht einem Experten gegenüber, der helfen soll. Praxen und vor allem Krankenhäuser sind Orte der Verunsicherung und der Angst, in denen sich eine oft undurchschaubare Medizintechnik an Patienten vollzieht. Nicht Rationalität allein, sondern insbesondere Vertrauen kann dort zum Rettungsanker werden. Die Angst aufzulösen vermögen aber nur einfühlsame und verständnisvolle Gespräche, die angesichts der verwirrenden Komplexität moderner Behandlungsmethoden neue Bedeutung gewonnen haben. Allerdings muss auch der Patient zuhören und an einem Dialog interessiert sein - und fragen, wenn er etwas nicht versteht.

Einer Studie des Arzneimittelherstellers Janssen-Cilag zufolge wünschten sich 1999 mehr als neun von zehn Patienten in Deutschland, das Gespräch zwischen Arzt und Patient solle eine wichtigere Rolle spielen. In Kanada wurden kürzlich Brustkrebs-Patientinnen befragt, womit ihnen ihr Arzt zum Zeitpunkt der Diagnose am meisten geholfen habe. Die häufigste Antwort war: indem er zugehört hat.

Dass die Unfähigkeit zuzuhören die Arzt-Patienten-Beziehung tiefgreifend stören kann, ist seit langem bekannt. Norman Cousins, Professor an der Universität Los Angeles, hat das schon 1985 in einer Studie bestätigt. Die typische Begründung für einen Arztwechsel war: "Ich hatte den Eindruck, mein Arzt wollte die Schilderung meiner Beschwerden gar nicht hören; er schien es sehr eilig zu haben, mich an die Apparatemedizin weiterzuleiten." Bei einer Untersuchung amerikanischer Soziologen stellte sich heraus, dass Patienten schon nach durchschnittlich 18 Sekunden Schilderung ihrer Leiden zum ersten Mal von ihrem Arzt unterbrochen werden.

Wie wichtig aber für den Heilungserfolg die Gespräche zwischen Arzt und Patient sind, haben britische Wissenschaftler in einer Untersuchung mit 3600 Patienten nachgewiesen: Eine warmherzige, freundliche und Angst nehmende Zuwendung verkürzt den Krankheitsverlauf - unabhängig von der sonstigen Behandlung - eindeutig und verringert Nebenwirkungen. Dabei ist die Urangst vieler Ärzte, dass sie zu wenig Zeit für ein "gutes Gespräch" hätten, durchaus unbegründet: Ein gutes Gespräch muss nicht lang sein, es muss vor allem zielstrebig sein.

Dass ein guter Arzt auch fachlich kompetent sein sollte, ist selbstverständlich. Keineswegs technikfeindlich, lässt er sich jedoch von der Technik nicht zur Sprachlosigkeit verführen, sondern bedient sich der medizinischen Möglichkeiten in einem vernünftigen, auf seinen Patienten individuell abgestimmten Rahmen. Ohne Dialogfähigkeit und sprachliche Kompetenz bliebe er ein - nicht ungefährlicher - Biotechniker.

Jeder Arzt muss wissen, dass die Begegnung zwischen ihm und dem Patienten eine außerordentliche, manchmal extreme Form der zwischenmenschlichen Beziehung ist, charakterisiert durch ein hohes Maß an Intimität und häufig weitreichende Eingriffe in die Existenz eines anderen Menschen. Daher kommt es vor allem anderen auf die Fähigkeit des Arztes an, sich einfühlend in den Kranken zu versetzen und ihm dazu zu verhelfen, sich selbst zu verstehen.

Eine der besten Charakterisierungen des guten Arztes stammt von französischen Medizinern im 19. Jahrhundert. Sie nannten ihn "père maternel", einen "mütterlichen Vater" - jemanden, der zugleich lenkender Vater und warmherzig verstehende Mutter ist. Weder ein starrer Paternalismus noch überzogene Vorstellungen von Autonomie und Mündigkeit des Kranken lassen eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung zum Wohle des Kranken gelingen, sondern allein das dialogische Prinzip. Für das Gespräch gibt es keinen Ersatz.

Dass sich das noch längst nicht bei Ärzten herumgesprochen hat, ist nicht allein deren Schuld, wie der Psychologe Thomas Bliesener anmerkt: "Wer Computer, Wertpapiere oder Betablocker verkaufen will, erhält gewöhnlich ein besseres Training in Gesprächsführung als ein Arzt, der einem Patienten bei der Genesung helfen möchte." 

Eine Studie der Universität Göttingen kam kürzlich zu einem ernüchternden Schluss: Im Verlauf des Studiums häufen angehende Mediziner heute zwar immer mehr biomedizinisches Wissen an, ihr Interesse an den Zusammenhängen von Krankheit und Psyche geht hingegen sogar zurück, und Gespräche mit Patienten treten immer häufiger in den Hintergrund.

Einem Patienten, der tatsächlich auf einen Arzt trifft, der gar nicht zuhören kann, bleibt letztlich nur eine Möglichkeit: den Arzt zu wechseln. 
Externer Link:

GEO WISSEN Nr. 30 - Die neuen Wege der Medizin 
http://www.geo.de/GEO/service/hefte/GEO_wissen/2002/09.htmlExterner Link 


Geisler, Linus: Der gute Arzt. GEO WISSEN - Die neuen Wege der Medizin. Nr. 30, Ausgabe September 2002, S. 76-81
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2002/0916geo-arzt.html

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