Für viele Ärzte
ist Krankheit lediglich ein Defektgeschehen, das es mit moderner Technik
zu reparieren gilt. Dabei ist für den Heilerfolg das Gespräch
mit dem Patienten ebenso wichtig.
Der gute Arzt
Von Linus Geisler (Text)
und Bernd Mölk-Tassel (Illustrationen)
Christoph Wilhelm Hufeland, Mitbegründer
der neuzeitlichen Medizin, schrieb vor rund 200 Jahren: "Es bedarf noch
immer derselben Eigenschaften, um ein großer Arzt zu sein, wie zu
Hippokrates' Zeiten." Gilt das aber auch heute noch, angesichts einer Medizin,
zu deren Arsenal Chemotherapie, Organtransplantation und Gentechnik gehören?
Vielleicht gibt darauf eine Krankengeschichte Antwort, die sich in meiner
früheren Klinik ereignet hat.
Ein junger Patient, ein Sportlehrer,
wurde nach einer Herztransplantation zu mir zurücküberwiesen.
Nach dem Eingriff war er geradezu euphorisch von der Idee beherrscht, möglichst
schnell wieder so fit wie früher zu werden. Nach drei Monaten Therapie
änderte sich seine Verfassung schlagartig: Er wirkte gereizt, aggressiv
und unruhig. Eine Kontrolluntersuchung zeigte, dass sein Körper im
Begriff war, das neue Herz abzustoßen. In mehreren Gesprächen
reagierte er zunächst abwehrend - bis es schließlich aus ihm
herausbrach: Seit der Operation sei er vollständig impotent.
Ich hatte allerdings das Gefühl,
dass dies nur die halbe Wahrheit war. Und tatsächlich gelang es mir
nach einiger Zeit zu erfahren, was wirklich geschehen war: Bei einer Nachuntersuchung
im Transplantationszentrum hatte jemand dem Patienten die Identität
des Spenders offenbart. Es war eine Spenderin, eine junge Frau, die nach
einer zerbrochenen Beziehung aus dem vierten Stock eines Hauses gesprungen
war.
Von dem Herzen einer Frau existenziell
abzuhängen, noch dazu von dem einer "Selbstmörderin", erschien
dem Sportlehrer unerträglich und war mit seinem maskulin bestimmten
Selbstbild nicht in Einklang zu bringen. Er nannte sein neues Herz verächtlich
seine "Sklavin" und war sich zugleich bewusst, dass in Wirklichkeit er
dessen Sklave war. In Albträumen hing die Spenderin in einem Baum
über ihm und starrte ihn mit toten Augen an. Er wollte dieses Herz
loswerden und nahm die Medikamente zur Unterdrückung der Abstoßungsreaktion
nur unregelmäßig ein. Die Verschlechterung seines Zustandes
machte ihn dann so panisch, dass er die Medikamente schließlich überdosierte.
Erst nach vielen Gesprächen zwischen
uns gelang es dem Patienten, seine Krise umzudeuten und schließlich
zu überwinden. Er begann, sich mental mit der Spenderin auszusöhnen
und das neue Herz anzunehmen.
Eine Erkrankung - so zeigt dieser Fall
exemplarisch - ist aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu interpretieren.
Die des Arztes wird durch dessen Befunde bestimmt, durch so genannte harte,
mit naturwissenschaftlichen Methoden gewonnene Daten, aber auch durch "weiche"
Befunde, die aus der ärztlichen Erfahrung resultieren. Dieser Perspektive
steht häufig die völlig andere des Patienten gegenüber.
Doch erst wer beide Sichtweisen kennt, kann ein ganzheitliches Verständnis
der Krankheit gewinnen, das Grundlage jeder erfolgreichen Behandlung ist.
Wem hatte also der junge Mann sein
Überleben zu verdanken? Dem Einsatz von medizinischer Technik? Schon,
aber nicht ihr allein. Dem ärztlichen Gespräch, das dem Patienten
eine neue Sichtweise seines Problems ermöglichte? Gewiss, doch ebenso
nur zum Teil. Letztlich aber bestätigt auch dieser Fall die alte Erkenntnis,
dass der Arzt zwei "Werkzeuge" einsetzen muss: seine Hand und sein Wort.
Und erst der sinnvoll abgestimmte Einsatz beider macht den "guten Arzt"
aus.
Allerdings hat sich seit Beginn der
siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das Verständnis von Heilkunst
gewandelt: Krankheit wird mehr und mehr als ein Defektgeschehen verstanden,
das mit Reparatur oder Austausch verschlissener Teile am besten zu beheben
ist. Der Begriff Gesundheit umfasst heute auch Bereiche, die sich Beauty
und Wellness nennen; die Pharmaindustrie verdient Unsummen mit Medikamenten
wie Viagra, die nicht nur bei Krankheiten eingesetzt werden, sondern auch
als Lifestyle-Pille. Utopien von grenzenloser Lebensverlängerung bei
bester Gesundheit und genetisch optimierten Menschen finden ein dankbares
Publikum.
Der Horror einer sprachlosen
Medizin
Ein Arzt betritt wortlos ein Krankenzimmer.
Im Bett liegt ein abgemagerter Endsechzigjähriger, der den Arzt erwartungsvoll
ansieht. Der Arzt macht den rechten Arm des Patienten frei, legt die Staubinde
an, punktiert eine Vene, führt einen Venenkatheter ein, hängt
eine Infusionsflasche an und stellt eine bestimmte Tropfenzahl ein. Er
vergewissert sich, dass die Infusion richtig läuft, dann geht er -
wortlos, wie er gekommen ist - zur Tür... Bevor der Arzt die Tür
erreicht, richtet sich der Kranke mühsam auf und fragt: "Entschuldigung,
Herr Doktor, darf ich fragen, was Sie da gemacht haben?" Der Arzt dreht
sich um und antwortet mit unbewegtem Gesicht: "Sie haben Lungenkrebs, und
ich habe Ihnen eine Infusion zur Behandlung Ihrer Krebserkrankung angelegt."
(aus Linus Geisler: "Arzt und Patient
- Begegnung im Gespräch")
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Das traditionelle Rollenverständnis
von Patient und Arzt, das vom klassischen Auftrag "Heilen, lindern, vorbeugen"
bestimmt ist, weicht hingegen auf. Das Vertrauensverhältnis wird abgelöst
von einem Vertragsverhältnis mit genau definierter Leistung. Der Patient
wird zum Kunden, der Arzt zum Dienstleister, Praxis und Krankenhaus werden
zum "Profit-Center". Misstrauen wie unter unsoliden Geschäftspartnern
kommt auf.
Das Prinzip "Das Wohl des Kranken ist
oberstes Gesetz" wird ersetzt durch "Der Wille des Patienten ist oberstes
Gebot". Die Autonomie des Patienten, dessen Recht auf Selbstbestimmung,
steht über allem, der frühere Paternalismus, der dem Arzt eine
väterlich-bestimmende Rolle zugewiesen hat, scheint überholt
zu sein. Als Ideal gilt der "mündige" Patient, der aufgeklärt,
eigenverantwortlich und selbstbestimmt die Richtlinien seiner Behandlung
vorgibt.
Aber wie belastungs- und entscheidungsfähig
ist ein Kranker wirklich? Kann er tatsächlich mitbestimmen, welches
Modell einer künstlichen Herzklappe für ihn das beste ist? Soll
der umfassend aufgeklärte Krebspatient tatsächlich allein entscheiden,
ob er sich einer Chemotherapie oder einer Bestrahlung unterzieht? Erlebt
er sich auch dann noch als "mündig" oder doch zuallererst als krank?
Schlägt Selbstbestimmung in ein Sich-selbst-Überlassensein um?
Die Erfahrung zeigt, dass Beziehungen
zwischen Arzt und Patient fast immer ungleich sind: Ein Hilfe suchender
Mensch steht einem Experten gegenüber, der helfen soll. Praxen und
vor allem Krankenhäuser sind Orte der Verunsicherung und der Angst,
in denen sich eine oft undurchschaubare Medizintechnik an Patienten vollzieht.
Nicht Rationalität allein, sondern insbesondere Vertrauen kann dort
zum Rettungsanker werden. Die Angst aufzulösen vermögen aber
nur einfühlsame und verständnisvolle Gespräche, die angesichts
der verwirrenden Komplexität moderner Behandlungsmethoden neue Bedeutung
gewonnen haben. Allerdings muss auch der Patient zuhören und an einem
Dialog interessiert sein - und fragen, wenn er etwas nicht versteht.
Einer Studie des Arzneimittelherstellers
Janssen-Cilag zufolge wünschten sich 1999 mehr als neun von zehn Patienten
in Deutschland, das Gespräch zwischen Arzt und Patient solle eine
wichtigere Rolle spielen. In Kanada wurden kürzlich Brustkrebs-Patientinnen
befragt, womit ihnen ihr Arzt zum Zeitpunkt der Diagnose am meisten geholfen
habe. Die häufigste Antwort war: indem er zugehört hat.
Dass die Unfähigkeit zuzuhören
die Arzt-Patienten-Beziehung tiefgreifend stören kann, ist seit langem
bekannt. Norman Cousins, Professor an der Universität Los Angeles,
hat das schon 1985 in einer Studie bestätigt. Die typische Begründung
für einen Arztwechsel war: "Ich hatte den Eindruck, mein Arzt wollte
die Schilderung meiner Beschwerden gar nicht hören; er schien es sehr
eilig zu haben, mich an die Apparatemedizin weiterzuleiten." Bei einer
Untersuchung amerikanischer Soziologen stellte sich heraus, dass Patienten
schon nach durchschnittlich 18 Sekunden Schilderung ihrer Leiden zum ersten
Mal von ihrem Arzt unterbrochen werden.
Wie wichtig aber für den Heilungserfolg
die Gespräche zwischen Arzt und Patient sind, haben britische Wissenschaftler
in einer Untersuchung mit 3600 Patienten nachgewiesen: Eine warmherzige,
freundliche und Angst nehmende Zuwendung verkürzt den Krankheitsverlauf
- unabhängig von der sonstigen Behandlung - eindeutig und verringert
Nebenwirkungen. Dabei ist die Urangst vieler Ärzte, dass sie zu wenig
Zeit für ein "gutes Gespräch" hätten, durchaus unbegründet:
Ein gutes Gespräch muss nicht lang sein, es muss vor allem zielstrebig
sein.
Dass ein guter Arzt auch fachlich kompetent
sein sollte, ist selbstverständlich. Keineswegs technikfeindlich,
lässt er sich jedoch von der Technik nicht zur Sprachlosigkeit verführen,
sondern bedient sich der medizinischen Möglichkeiten in einem vernünftigen,
auf seinen Patienten individuell abgestimmten Rahmen. Ohne Dialogfähigkeit
und sprachliche Kompetenz bliebe er ein - nicht ungefährlicher - Biotechniker.
Jeder Arzt muss wissen, dass die Begegnung
zwischen ihm und dem Patienten eine außerordentliche, manchmal extreme
Form der zwischenmenschlichen Beziehung ist, charakterisiert durch ein
hohes Maß an Intimität und häufig weitreichende Eingriffe
in die Existenz eines anderen Menschen. Daher kommt es vor allem anderen
auf die Fähigkeit des Arztes an, sich einfühlend in den Kranken
zu versetzen und ihm dazu zu verhelfen, sich selbst zu verstehen.
Eine der besten Charakterisierungen
des guten Arztes stammt von französischen Medizinern im 19. Jahrhundert.
Sie nannten ihn "père maternel", einen "mütterlichen Vater"
- jemanden, der zugleich lenkender Vater und warmherzig verstehende Mutter
ist. Weder ein starrer Paternalismus noch überzogene Vorstellungen
von Autonomie und Mündigkeit des Kranken lassen eine vertrauensvolle
und tragfähige Beziehung zum Wohle des Kranken gelingen, sondern allein
das dialogische Prinzip. Für das Gespräch gibt es keinen Ersatz.
Dass sich das noch längst nicht
bei Ärzten herumgesprochen hat, ist nicht allein deren Schuld, wie
der Psychologe Thomas Bliesener anmerkt: "Wer Computer, Wertpapiere oder
Betablocker verkaufen will, erhält gewöhnlich ein besseres Training
in Gesprächsführung als ein Arzt, der einem Patienten bei der
Genesung helfen möchte."
Eine Studie der Universität Göttingen
kam kürzlich zu einem ernüchternden Schluss: Im Verlauf des Studiums
häufen angehende Mediziner heute zwar immer mehr biomedizinisches
Wissen an, ihr Interesse an den Zusammenhängen von Krankheit und Psyche
geht hingegen sogar zurück, und Gespräche mit Patienten treten
immer häufiger in den Hintergrund.
Einem Patienten, der tatsächlich
auf einen Arzt trifft, der gar nicht zuhören kann, bleibt letztlich
nur eine Möglichkeit: den Arzt zu wechseln.
Externer Link:
GEO WISSEN Nr. 30 - Die
neuen Wege der Medizin
http://www.geo.de/GEO/service/hefte/GEO_wissen/2002/09.html
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Geisler, Linus: Der gute
Arzt. GEO WISSEN - Die neuen Wege der Medizin. Nr. 30,
Ausgabe September 2002, S. 76-81 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2002/0916geo-arzt.html |
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