Parlamentarier im Meer von Zweifeln
"Der Mensch kann sich
über den Menschen nicht verständigen" / Vor der Entscheidung
über Embryonenforschung / Von Linus S. Geisler
"Der Mensch kann sich über
den Menschen nicht verständigen", schreibt der französische Wissenschaftsphilosoph
Michel Serre. Aber Politiker müssen so entscheiden, als ob dies möglich
wäre. Parlamentarier müssen sich beispielsweise darüber
verständigen, ob es mit dem Gewissen vereinbare Gründe gibt,
dass die einen Menschen eine eigene Biografie entwickeln können und
andere es nicht weiter bringen dürfen als zu einer Zellkultur in der
Petrischale. Die Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen verpflichtet. Gewissen
setzt Wissen und Gewissheiten voraus, aber wer sich auf die biopolitische
Debatte einlässt, merkt bald, dass er durch ein Meer von Zweifeln
watet. Zweifel allerdings, die häufig im Gewand von Ankündigungen,
Visionen und Heilsversprechen daherkommen.
Alle Argumente seien ausgetauscht,
heißt es. Hohe Zeit für rasche Entscheidungen, zumal der "Kontext
internationaler Verbindlichkeiten" - euphemistische Umschreibung für
die globalisierten Kräfte des Marktes - ein Zuwarten nicht zulasse.
Die Moral sei langsamer als die Vernunft, mahnt Michel Serre. Eben dieses
lässt sich als unbemerkter Platzvorteil nutzen.
1. Schwache Fundamente
Pluripotenz wird der embryonalen
Stammzelle zugeschrieben, die Fähigkeit also, sich in alle Körpergewebe
zu differenzieren, aber keinen ganzen Organismus mehr zu bilden. Wäre
sie totipotent, also zur Ganzheitsbildung fähig, müsste sie nach
dem Wortlaut des Embryonenschutzgesetzes als Embryo bewertet werden.
Für jeden Zugriff der
Forschung wäre sie dann tabu. Beim Menschen gibt es allerdings aus
ethischen Gründen keine Möglichkeit, experimentell auszuschließen,
dass seine embryonalen Stammzellen totipotent sind. Der Analogieschluss
von anderen Säugetieren, vor allem Mäusen, ist somit die einzige
Grundlage dieser Prämisse, mit der die Zulässigkeit der Forschung
mit embryonalen Stammzellen steht und fällt. Bei den vereinzelten
Primatenversuchen (Thomson 1996, Weißbüscheläffchen) sind
Zweifel an der Pluripotenz embryonaler Stammzellen aufgetreten, die bisher
experimentell nicht ausgeräumt sind. Was spricht dagegen, neue klärende
Experimente, wie die von Hans Denker in Essen, abzuwarten und sich nicht
dem Vorwurf auszusetzen, dass Eile nur ein Synonym für Markt ist?
Wie ist bei solchen fundamentalen
Zweifeln die Beweislast zu gestalten? Wer darf wovon ausgehen und wer muss
die Mühen des Nachweises auf sich nehmen? Gibt es eine Begründungspflicht,
dass Embryonen Menschenwürde oder Lebensrecht haben oder muss Gründe
vorweisen, wer das Gegenteil behauptet? Ist das Lebensgrundrecht nicht
eine natürliche Eigenschaft, und wer es dem Menschen an seinem Lebensanfang
abspricht, sehr viel eher in der Beweispflicht? Kann über Leben oder
Tod von Embryonen entschieden werden, bevor dieser Zweifel ausgeräumt
ist?
2. Von der Freiheit des
Forschungsmenschen
Die Freiheit der Forschung
ist ein Grundrecht. Die Freiheit der Forschung, so der Nationale Ethikrat,
untersagt es dem Gesetzgeber ebenso wie einer Enquetekommission, den Forschern
den Gegenstand ihrer Untersuchung vorzuschreiben. Die allgemeine Freiheitsvermutung
des Grundgesetzes bedeute im "Zweifel für die Forschung". Das Unvorhersehbare
sei ein Teil des wissenschaftlichen Arbeitens, argumentiert der designierte
Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Peter Gruss. Deshalb könnten
wir uns nicht einige Forschungsbereiche herausgreifen und andere verwerfen.
Zweifel sind erlaubt. Dass gesetzliche Einschränkungen auch jenseits
konkreter Kollisionen der Forschungsfreiheit mit anderen Grundrechten möglich
sind, zeigt alleine schon die gesetzliche Einschränkung der Tierversuche
für die Forschung durch das Tierschutzgesetz, das nicht im Grundgesetz
verankert ist. Es lässt (Abs. 3 Tierschutzgesetz) Versuche an Wirbeltieren
nur zu, wenn sie ethisch vertretbar sind. Sollte der Embryonenschutz dem
Tierschutz nachgeordnet sein? Der Gesetzgeber kann mit Ge- und Verboten
durchaus die Freiheit der Wissenschaft und Forschung begrenzen. Dies hat
er z.B. mit dem Embryonenschutzgesetz vom 13. Dezember 1990 getan. Wohin
mit der "forschungsstrategischen Bonitätsprüfung"? Sie gehört
nach dem Willen des Nationalen Ethikrates in die Hände von Kontrollgremien
"innerhalb der scientific community". Willkommen im Club! Die Aufhebung
der Gewaltenteilung ermöglicht die Mitverwaltung der Sektion "ethische
Bewertung". Zur embryonalen Stammzellforschung als "Übergangstechnologie"
wird - all inclusive - die erforderliche Übergangsethik mitgeliefert,
ethische Kollateralschäden eingerechnet. Die Freiheit der Wahl der
Forschungsziele wird unterschiedslos verquickt mit der Freiheit der Wahl
der Mittel.
3. Materialien
Mit der Abspaltung des Körpers
vom Geist als Ding wird der Körper vogelfrei. In der Selbsterniedrigung
des Menschen zum Körper, so Adorno und Horkheimer in der Dialektik
der Aufklärung, rächt sich die Natur dafür "dass der Mensch
sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial gemacht hat".
So erscheint es als folgerichtig,
ja als zwangsläufig, dass der Versuch, den "Organmangel" als chronisches
Kernproblem der Transplantationsmedizin zu überwinden, zur Therapie
mit regenerativen Materialien, sprich Stammzellen, führt. In den embryonalen
Stammzellen sieht der Pionier der Stammzellforschung Thomson "eine potenziell
unerschöpfliche Quelle von Zellen für die Medikamentenentwicklung
und für Transplantationstherapien". Eine Entwicklung, die im Übrigen
modellhaft für das Phänomen steht, dass Problemlösungsversuche
in bestimmten Bereichen der Hochtechnologie nahezu nahtlos in neue Problemfelder
eines anderen Bereichs übergehen. Diese unerschöpfliche Quelle
soll der menschliche Embryo im Reagenzglas sein. Er verdankt seine Existenz
der Entleiblichung von Sexualität und Fortpflanzung, der Trennung
von Zeugung und Reproduktion. Er ist Resultat einer radikalen Biologisierung
und Medikalisierung der menschlichen Fortpflanzung. Der Prozess der Embryonenerzeugung
erscheint steuerbar, gerät aber unversehens an Grenzen, die das System
zum Kippen bringen. Plötzlich sind menschliche Geschöpfe auf
dem Plan, die es zuvor nicht gegeben hat: "überzählige" Embryonen.
Durch nichts unterscheiden
sich diese Embryonen biologisch von solchen, die aus der Intimität
der Umarmung hervorgegangen sind. Durch nichts unterscheiden sie sich von
im gleichen Produktionsvorgang in der Retorte erzeugten potenziellen Geschwister-Embryonen,
denen eine eigene Biografie zugestanden wurde. Den Status der "Überzähligkeit"
erlangen sie aus unterschiedlichen Gründen: Die einen als zufällige
oder gewollte Überschussprodukte der Fortpflanzungsmedizin, andere
als lästiges Signum zerbrochener Beziehungen oder Scheidungen, wieder
andere als Opfer eines ad acta gelegten Kinderwunsches. Auf den Unterschied
zwischen "überzählig sein" und "überzählig machen"
von Embryonen hat die Politologin Ingrid Schneider hingewiesen. Alleine
in den USA sind heute mehr als 100 000 solcher "souls on ice" oder Gefrierfachwaisen
gelagert. Jährliche Zuwachsrate der "spare embryos": rund 20 000 Die
Zuschreibung der Überzähligkeit setzt einen fatalen Automatismus
in Gang, der auf die Optionen Tötung durch Verwerfen oder Tötung
zu Forschungszwecken hinausläuft. Die dritte Alternative, die in Deutschland
durch das Embryonenschutzgesetz nicht ausdrücklich verbotene Embryonenspende,
wird allenfalls als Notlösung gesehen. In praxi werden zahlreiche
Hinderungsgründe diskutiert (gespaltene Mutterschaft, Gefahr der verdeckten
Leihmutterschaft und des Einflusses auf IVF-Techniken sowie der Kommerzialisierung).
Gelegentlich werden die "Überzähligen" Opfer von Stichtagsregelungen:
Nach Ablauf der fünfjährigen Aufbewahrungsfrist für kryokonservierte
Embryonen wurden am 1. August 1996 in England 3300 tiefgefrorene Embryonen
durch Auftauen oder Auflösung in einem Gemisch aus Weinessig und Alkohol
zerstört. Die Frist wurde mittlerweile auf zehn Jahre verlängert.
4. Xanadu der Forschung
Der in vitro erzeugte Embryo
erfährt radikale Umdeutungen und metaphorische Verbiegungen. Er wird
zum Zellhaufen, dem nichts Menschliches anhaftet und gilt lediglich als
Symbol eines künftigen Menschen ("symbol of future human life"). Durch
Verbannung in die Unanschaulichkeit (kleiner als ein Körnchen auf
einer Nadelspitze) wird seine beliebige Nutzbarkeit suggeriert. Gleichzeitig
wird er mehr und mehr zum Wunschkind von Wissenschaftlern als von Eltern,
zum "Joker des Lebens", zu einem Xanadu (Wunderland) der Forschung. Wer
aber legt den Maßstab der Überzähligkeit an, der konkret
über Leben oder Tod entscheidet? Wer wird wodurch legitimiert, den
einen Embryo ins Leben zu entlassen, den anderen hingegen nicht. Wer definiert
jene magische Zahl, ab der menschliche Wesen "überzählig" oder
sogar überflüssig werden? Wer darf "jemand" zu "etwas" machen?
Wissenschaftler? Die leiblichen Eltern? Mit dem "Akt der Zeugung", so Kant,
setzen Eltern eine "Person" in die Welt, nicht ein "Gemächsel", das
sie "als ihr Eigentum zerstören" könnten. Das Fehlen einer Legaldefinition
von "überzähligen Embryonen" eröffnet ein Spiel ohne Grenzen.
Ein Embryo, auch in vitro
gezeugt, sei "das zukünftige Kind zukünftiger Eltern und sonst
nichts" (Margot von Renesse). Ein Satz, dessen Eindeutigkeit und normative
Kraft ein Lichtblick in der biopolitischen Debatte sein könnte, wird
hohl, wenn er anscheinend problemlos verknüpfbar ist mit einem dezidierten
Bekenntnis zum (regulierten) Import embryonaler Stammzellen für Forschungszwecke.
Auch die Beschwichtigung: "Für die deutsche Forschung darf kein Embryo
sterben" bedürfte ehrlicherweise der Korrektur "kein deutscher Embryo",
wenn embryonalen Stammzellen aus Israel, Singapur oder den USA, rechtlich
gedeckt, dann schließlich doch der Weg in deutsche Forschungsstätten
geöffnet werden soll. Über den Bedarf an "überzähligen
Embryonen" kann nur spekuliert werden.
Der US-Zellforscher James
Thomson gewann 1998 fünf embryonale Stammzell-Linien aus 36 "frischen
überzähligen", in den USA und Israel getöteten Embryonen.
Der britische Stammzellforscher
Austin Smith, für den Embryonen keine Menschen, sondern "Teil des
menschlichen Lebenszyklus" sind, hatte bisher eine weniger glückliche
Hand oder - seinem eigenen Lamento zufolge - die "schlechteren" Embryonen:
der Verbrauch von mehr als 200 "überzähligen" IVF-Embryonen führte
zu keiner eigenen Stammzell-Linie. In Großbritannien wurden zwischen
August 1991 und März 1998, also noch vor Ausbruch der großen
Goldgräberstimmung in der Stammzellforschung, ca. 48 000 sogenannte
"überzählige" IVF-Embryonen für wesentlich weniger "hochrangige"
Forschungszwecke verbraucht, nämlich vorwiegend zur Verbesserung von
IVF-Techniken.
5. "Strategische Embryonen",
Taliban und Fabergé-Eier
Die Bedarfsdeckung an Embryonen
dürfte in Zukunft sogar ohne den heiklen Weg der Nutzung "überzähliger
Embryonen" möglich werden. Inzwischen wurden in den USA Embryonen
gegen Bezahlung der Spenderpaare (je 2000 Dollar für die 12 Eizellspenderinnen,
50 bis 100 Dollar für die Spermaspender) erzeugt, die ausschließlich
zur Tötung für die Stammzellforschung bestimmt waren. Ihnen wurde
also a priori jede Chance zu einer eigenen Biographie verwehrt. Von den
aus 162 Eizellen erfolgreich kultivierten 40 Embryonen konnten drei Stammzell-Linien
entwickelt werden (Arbeitsgruppe um Susan Lanzendorf, Norfolk, Virginia).
Probleme könnte allenfalls
noch die Terminologie bereiten. In Saldo-Kategorien sind diese Embryonen
mangels "Überzähligkeit" nicht mehr zu erfassen. Möglicherweise
wäre "strategische Embryonen" dem Charakter des wissenschaftlichen
Planspiels am ehesten angemessen und gut kompatibel mit dem Klima der europäischen
Debatte zur Stammzellforschung, in der Kritiker der Stammzellforschung
von EU-Kommissar Philippe Busquin mit Taliban verglichen werden. Dieser
Versuch, Kritiker der Embryonenforschung mit einem menschenverachtenden
Regime auf eine Stufe zu stellen, ist bemerkenswert angesichts der Tatsache,
dass sich fast die Hälfte der Abgeordneten im Europäischen Parlament
dafür ausgesprochen haben, die Embryonenforschung grundsätzlich
von der EU-Förderung auszuschließen. Nahezu nostalgische Gefühle
erweckt der Versuch des Direktors des Instituts für Ethik am Dartmouth
College, Ronald Green, Embryonen ganz aus dem Sprachgebrauch verschwinden
zu lassen. Er spricht einfach von "dem, was wir 'Embryo' genannt haben".
Der Kostbarkeit weiblicher Eizellen könnte schließlich der gebührende
Tribut gezollt werden, indem man sie zu Fabergé-Eiern der Wissenschaft
erhöbe.
6. Stunde der Lücke?
Im Embryonenschutzgesetz
ist die Frage des Umgangs mit embryonalen Stammzellen, insbesondere deren
Import, nicht geregelt, weil zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes
(1990) noch keine menschlichen embryonalen Stammzellen existierten.
Ein definiertes Teilziel
des ESchG war es aber "fremdnützige Experimente mit menschlichem Leben
in der Retorte auszuschließen" (Kommentar zum EschG 1992), also genau
jenen Eingriff, der der Gewinnung embryonaler Stammzellen zu Grunde liegt.
Dem Geist des Gesetzes entsprach es, eine absolute Grenze der Verfügbarkeit
des Embryo gerade im Hinblick auf potenzielle, damals noch nicht konkretisierbare
missbräuchliche Zugriffe von Seiten der Fortpflanzungsmedizin und
Forschung festzulegen. Heinz Riesenhuber, früherer Bundesforschungsminister
und einer der geistigen Väter des Gesetzes, bewertet die gegenwärtige
Diskussion um die Vernutzung von Embryonen als gerade jenen Testfall, für
den das Gesetz gemacht worden sei. Die "Versuchung", aus Embryonen Ersatzgewebe
zu züchten, stelle das Gesetz in die Bewährungsprobe. Es ist
mehr als fragwürdig, die fundamentale Frage nach der Schutzwürdigkeit
frühen menschlichen Lebens, die unser Menschenbild und unser Selbstverständnis
als Gattungswesen berührt, durch die trickhafte Ausnutzung einer Gesetzeslücke
beantworten zu wollen, die der Absicht der ursprünglichen Gesetzesregelung
Hohn spricht. Das Operieren mit Gesetzeslücken sollte Abschreibungskünstlern
und Winkeladvokaten überlassen bleiben.
Inzwischen sind die Möglichkeiten
des missbräuchlichen Umgangs mit Embryonen drastisch gestiegen, die
Schutzbedürftigkeit des schutzlosesten menschlichen Wesens, des Embryo
im Reagenzglas, somit erheblich gewachsen. Bei nüchternem Verstand
kann daraus nur eine adäquate Verschärfung des Embryonenschutzes
abgeleitet werden und nicht eine grundlegende Lockerung, die auf eine Aushöhlung
der ursprünglichen Intention des Gesetzes hinausliefe. Die Bejahung
des Imports von embryonalen Stammzellen ist das Wegschauen von der bereits
begangenen Untat und ihre nachträgliche, letztlich auch ihre zukünftige
Billigung. Dass durch den Import von ausschließlich bereits bestehenden
Stammzell-Linien ("Bush-Modell") die "Tötung weiterer Embryonen zu
Forschungszwecken verhindert wird" (Minderheitenmeinung in der Enquetekommission
Recht und Ethik der modernen Medizin) ist nicht ernsthaft zu garantieren.
Dafür sorgt die Gleichsetzung von Wissenszuwachs und Machbarkeitszuwachs.
In einer fatalen Scheinlogik könnte die Zulassung des Imports die
Forderung untermauern, die Herstellung embryonaler Stammzell-Linien müsse
letztlich deshalb auch in Deutschland ermöglicht werden (Edzard Schmidt-Jortzig).
Das Embryonenschutzgesetz
steht aber für mehr: es steht als Symbol für den Schutz des Menschen,
der nicht in der Lage ist, sich selbst zu schützen, für sich
selbst zu sprechen. Im Umgang mit Embryonen wird, wie Ulrich Beck es formuliert,
die "lautlose Unterjochung des Lebens" geübt, nicht ohne Tücke,
im quasi Unsichtbaren, in der Geräuschlosigkeit.
7. Utopien und Alternativen
Drei Regeln, so lehrt der
Philosoph Martin Seel, gelten für Utopisten. Für den utopischen
Entwurf haben Denkbarkeit, Erfüllbarkeit und Erreichbarkeit zu gelten.
Wie für das politische Denken ist die utopische Reflexion auch für
das wissenschaftliche Denken ein gewaltiger Stimulus. Die "rationalen Hoffnungen"
der "guten Utopie" sind für die Wissenschaft und ihre Klienten der
himmlische Mannaregen, der ihnen Zuversicht gibt. Als vierte, besser noch
als erste Regel aber ist die Verantwortbarkeit zu nennen, damit himmlisches
Manna nicht zur vergifteten Nahrung wird. Das Pochen auf der unbestrittenen
Tatsache, dass Grundlagenforschung einen prinzipiell erkenntnisoffenen
Prozess darstellt, beinhaltet für den Forscher gerade auch, die Verantwortbarkeit
der eingesetzten Mittel streng zu überprüfen. Dieses "Mittel"
ist in der embryonalen Stammzellforschung nichts anderes als der Mensch
selbst. In der Argumentation für die Forschung an embryonalen Stammzellen
dominieren zwei Stichworte den Diskurs: Hochrangigkeit und Alternativlosigkeit
der Forschungsziele.
"Hochrangigkeit" ist ihrer
Natur nach spekulativ und häufig nur a posteriori zu belegen. Die
Biologin und Ethikerin Gisela Badura-Lotter hat deutlich gemacht, dass
der Begriff der hochrangigen Forschung viel verwendet wird, aber "notorisch
unpräzise" ist und für den konkreten Fall der normativen Abwägung
eine bloße Leerformel darstellt. Gerade im Bewusstsein der argumentativen
Schwäche des Hochrangigkeitsbegriffs erfolgt häufig der dubiose
Rückgriff auf klinische Beispiele, wie die potenzielle Heilung der
"an MS (multiple Sklerose) leidenden achtunddreißigjährigen
Mutter mit drei kleinen Kindern".
Die Wirksamkeit solcher Beispiele
ist unbestritten. Bei der Debatte im britischen Parlament um das therapeutische
Klonen und die Forschung mit embryonalen Stammzellen war im Winter 2000
die emotionale Rede der selbst an multipler Sklerose leidenden Abgeordneten
Fiona McTaggart von entscheidendem Einfluss auf das positive Votum der
Abgeordneten.
Eine "Heilung" von MS wird
aber selbst im günstigsten Ergebnis der Stammzellforschung von Expertenseite
wegen des diffusen Befalls des Nervensystems als unwahrscheinlich eingestuft.
Gleiches gilt für die Alzheimersche Krankheit, die unvermindert als
ein therapeutisches Hauptziel der Stammzellforschung zitiert wird. Wer
die Chronologie der Darstellung der Forschungsziele genau verfolgt, kann
allerdings nicht verkennen, dass die Szenarien vom "Herz aus der Retorte"
schrittweise über eine vorwiegend regenerative Therapie in Gewebsverbänden
bis zur bloßen Übergangstechnologie entmystifiziert wurden.
Ebenso brüchig erscheint
das Operieren mit der "Alternativlosigkeit" von Therapieformen. Im Hinblick
auf den Zell- und Gewebeersatz sind Alternativen zur Stammzellforschung
im Vergleich zu konkret existierenden therapeutischen Verfahren und Präventionsstrategien
zu prüfen. Bei Herzinfarkten und verschiedenen Formen der Herzinsuffizienz
stehen Arzneimittel zur Verfügung, die kontinuierlich weiter entwickelt
werden. Die Verfügbarkeit von Stammzellen zur Transplantation könnte
hier zwar durch die Regeneration von Zellen und Geweben einen Fortschritt
bedeuten. Eine "Heilung" dürfte mit Stammzellen jedoch nicht zu realisieren
sein. Gleiches gilt für die immer wieder zitierte Zuckerkrankheit:
Könnte z.B. durch Stammzelltherapie die Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse
bei jugendlichen Diabetikern normalisiert werden, so bliebe der zu Grunde
liegende immunologische Prozess, der sich als Systemkrankheit gegen jede
insulinproduzierende Zelle richtet, dennoch unverändert weiter bestehen
und würde das Transplantat ebenfalls schädigen.
Die Analyse zeigt, dass in
der modernen Medizin konkrete Fortschritte so gut wie nie durch ein einziges
"alternativloses" Verfahren erzielt wurden, sondern durch die Summation
einzelner erfolgreicher Strategien. Für den beeindruckenden Rückgang
der Sterblichkeit am akuten Herzinfarkt war nicht ein bestimmtes Verfahren
ausschlaggebend, sondern effizientere Reanimationsmethoden, Verbesserungen
in der Behandlung lebensbedrohlicher Rhythmusstörungen, die Optimierung
der gerinnselauflösenden Therapieprinzipen, die Einpflanzung von Stents
(gefäßstabilisierende feine Drahtgeflechte) in die Herzkranzgefäße
und eine raschere Erstversorgung. Das Gleiche gilt im Prinzip für
Fortentwicklungen in der Krebstherapie. Die Fokussierung auf sog. alternativlose
Therapieprinzipen beinhaltet eine ethisch (und ökonomisch) bedenkliche
Verzerrung der Forschungslandschaft. Mit dem geflügelten Kanzlerwort
von der "Ethik des Heilens" - es gibt allenfalls ein Ethos des Heilens
- werden argumentatorische Nebelkerzen geworfen, statt Licht in die Debatte
zu bringen.
8. Kostbarer Zweifel
Aber selbst im günstigsten,
allerdings unwahrscheinlichen Fall, dass Forschung mit menschlichen embryonalen
Stammzellen die schlagwortartig beschworene "Heilung für Millionen"
brächte, bleibt - losgelöst von der Betrachtung der Stammzellforschung
- der fundamentale Zweifel bestehen, ob Heilung ein Gut darstellt, das
die Tötung nicht einwilligungsfähiger menschlicher Lebewesen
rechtfertigen kann. Deswegen entscheidet das Parlament über weit mehr
als die Zulässigkeit oder die Modalitäten des Imports menschlicher
embryonaler Stammzellen. Es entscheidet darüber, ob der Mensch sich
wenigstens so weit über den Menschen verständigen kann, dass
er ihn davor bewahrt, sein eigenes Opfer zu werden.
Es geht im weitesten Sinne
um das Aufgeben des Menschen durch den Menschen. Das gilt für den
Anfang des Lebens wie für das Ende. Was in der Frage der Vernutzung
von Embryonen entschieden wird, wird zwangsläufig den Blick auf den
Menschen am Ausklang seines Lebens bestimmen. Wer den Zweifel von heute
als Gewissheit von morgen ausgibt, lässt sich auf ein Risikounternehmen
ein, aus dem es, anders als bei der Atomkraft, kaum mehr einen Ausstieg
gibt. Atomkraftwerke lassen sich nach Jahrzehnten abschalten. Die einmal
begonnene Manipulation des Menschen droht hingegen zum Endlosexperiment
seiner Selbstinstrumentalisierung zu werden. Der Zweifel erweist sich vielleicht
als das kostbarste Element in Zeiten ethischer Unabwägbarkeiten. Er
gibt dem Gleichziehen von Moral und Vernunft eine Chance.
Geisler, Linus S.: Parlamentarier
im Meer von Zweifeln. Frankfurter Rundschau, 22.01.2002 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2002/0122fr-stammzellen.html |
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