Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: PARLAMENTARIER IM MEER VON ZWEIFELN. FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 22. Januar  2002
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Parlamentarier im Meer von Zweifeln

"Der Mensch kann sich über den Menschen nicht verständigen" / Vor der Entscheidung über Embryonenforschung / Von Linus S. Geisler
"Der Mensch kann sich über den Menschen nicht verständigen", schreibt der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Serre. Aber Politiker müssen so entscheiden, als ob dies möglich wäre. Parlamentarier müssen sich beispielsweise darüber verständigen, ob es mit dem Gewissen vereinbare Gründe gibt, dass die einen Menschen eine eigene Biografie entwickeln können und andere es nicht weiter bringen dürfen als zu einer Zellkultur in der Petrischale. Die Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen verpflichtet. Gewissen setzt Wissen und Gewissheiten voraus, aber wer sich auf die biopolitische Debatte einlässt, merkt bald, dass er durch ein Meer von Zweifeln watet. Zweifel allerdings, die häufig im Gewand von Ankündigungen, Visionen und Heilsversprechen daherkommen. 

Alle Argumente seien ausgetauscht, heißt es. Hohe Zeit für rasche Entscheidungen, zumal der "Kontext internationaler Verbindlichkeiten" - euphemistische Umschreibung für die globalisierten Kräfte des Marktes - ein Zuwarten nicht zulasse. Die Moral sei langsamer als die Vernunft, mahnt Michel Serre. Eben dieses lässt sich als unbemerkter Platzvorteil nutzen. 

1. Schwache Fundamente 

Pluripotenz wird der embryonalen Stammzelle zugeschrieben, die Fähigkeit also, sich in alle Körpergewebe zu differenzieren, aber keinen ganzen Organismus mehr zu bilden. Wäre sie totipotent, also zur Ganzheitsbildung fähig, müsste sie nach dem Wortlaut des Embryonenschutzgesetzes als Embryo bewertet werden. 

Für jeden Zugriff der Forschung wäre sie dann tabu. Beim Menschen gibt es allerdings aus ethischen Gründen keine Möglichkeit, experimentell auszuschließen, dass seine embryonalen Stammzellen totipotent sind. Der Analogieschluss von anderen Säugetieren, vor allem Mäusen, ist somit die einzige Grundlage dieser Prämisse, mit der die Zulässigkeit der Forschung mit embryonalen Stammzellen steht und fällt. Bei den vereinzelten Primatenversuchen (Thomson 1996, Weißbüscheläffchen) sind Zweifel an der Pluripotenz embryonaler Stammzellen aufgetreten, die bisher experimentell nicht ausgeräumt sind. Was spricht dagegen, neue klärende Experimente, wie die von Hans Denker in Essen, abzuwarten und sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, dass Eile nur ein Synonym für Markt ist? 

Wie ist bei solchen fundamentalen Zweifeln die Beweislast zu gestalten? Wer darf wovon ausgehen und wer muss die Mühen des Nachweises auf sich nehmen? Gibt es eine Begründungspflicht, dass Embryonen Menschenwürde oder Lebensrecht haben oder muss Gründe vorweisen, wer das Gegenteil behauptet? Ist das Lebensgrundrecht nicht eine natürliche Eigenschaft, und wer es dem Menschen an seinem Lebensanfang abspricht, sehr viel eher in der Beweispflicht? Kann über Leben oder Tod von Embryonen entschieden werden, bevor dieser Zweifel ausgeräumt ist? 

2. Von der Freiheit des Forschungsmenschen 

Die Freiheit der Forschung ist ein Grundrecht. Die Freiheit der Forschung, so der Nationale Ethikrat, untersagt es dem Gesetzgeber ebenso wie einer Enquetekommission, den Forschern den Gegenstand ihrer Untersuchung vorzuschreiben. Die allgemeine Freiheitsvermutung des Grundgesetzes bedeute im "Zweifel für die Forschung". Das Unvorhersehbare sei ein Teil des wissenschaftlichen Arbeitens, argumentiert der designierte Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Peter Gruss. Deshalb könnten wir uns nicht einige Forschungsbereiche herausgreifen und andere verwerfen. Zweifel sind erlaubt. Dass gesetzliche Einschränkungen auch jenseits konkreter Kollisionen der Forschungsfreiheit mit anderen Grundrechten möglich sind, zeigt alleine schon die gesetzliche Einschränkung der Tierversuche für die Forschung durch das Tierschutzgesetz, das nicht im Grundgesetz verankert ist. Es lässt (Abs. 3 Tierschutzgesetz) Versuche an Wirbeltieren nur zu, wenn sie ethisch vertretbar sind. Sollte der Embryonenschutz dem Tierschutz nachgeordnet sein? Der Gesetzgeber kann mit Ge- und Verboten durchaus die Freiheit der Wissenschaft und Forschung begrenzen. Dies hat er z.B. mit dem Embryonenschutzgesetz vom 13. Dezember 1990 getan. Wohin mit der "forschungsstrategischen Bonitätsprüfung"? Sie gehört nach dem Willen des Nationalen Ethikrates in die Hände von Kontrollgremien "innerhalb der scientific community". Willkommen im Club! Die Aufhebung der Gewaltenteilung ermöglicht die Mitverwaltung der Sektion "ethische Bewertung". Zur embryonalen Stammzellforschung als "Übergangstechnologie" wird - all inclusive - die erforderliche Übergangsethik mitgeliefert, ethische Kollateralschäden eingerechnet. Die Freiheit der Wahl der Forschungsziele wird unterschiedslos verquickt mit der Freiheit der Wahl der Mittel. 

3. Materialien 

Mit der Abspaltung des Körpers vom Geist als Ding wird der Körper vogelfrei. In der Selbsterniedrigung des Menschen zum Körper, so Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung, rächt sich die Natur dafür "dass der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial gemacht hat". 

So erscheint es als folgerichtig, ja als zwangsläufig, dass der Versuch, den "Organmangel" als chronisches Kernproblem der Transplantationsmedizin zu überwinden, zur Therapie mit regenerativen Materialien, sprich Stammzellen, führt. In den embryonalen Stammzellen sieht der Pionier der Stammzellforschung Thomson "eine potenziell unerschöpfliche Quelle von Zellen für die Medikamentenentwicklung und für Transplantationstherapien". Eine Entwicklung, die im Übrigen modellhaft für das Phänomen steht, dass Problemlösungsversuche in bestimmten Bereichen der Hochtechnologie nahezu nahtlos in neue Problemfelder eines anderen Bereichs übergehen. Diese unerschöpfliche Quelle soll der menschliche Embryo im Reagenzglas sein. Er verdankt seine Existenz der Entleiblichung von Sexualität und Fortpflanzung, der Trennung von Zeugung und Reproduktion. Er ist Resultat einer radikalen Biologisierung und Medikalisierung der menschlichen Fortpflanzung. Der Prozess der Embryonenerzeugung erscheint steuerbar, gerät aber unversehens an Grenzen, die das System zum Kippen bringen. Plötzlich sind menschliche Geschöpfe auf dem Plan, die es zuvor nicht gegeben hat: "überzählige" Embryonen. 

Durch nichts unterscheiden sich diese Embryonen biologisch von solchen, die aus der Intimität der Umarmung hervorgegangen sind. Durch nichts unterscheiden sie sich von im gleichen Produktionsvorgang in der Retorte erzeugten potenziellen Geschwister-Embryonen, denen eine eigene Biografie zugestanden wurde. Den Status der "Überzähligkeit" erlangen sie aus unterschiedlichen Gründen: Die einen als zufällige oder gewollte Überschussprodukte der Fortpflanzungsmedizin, andere als lästiges Signum zerbrochener Beziehungen oder Scheidungen, wieder andere als Opfer eines ad acta gelegten Kinderwunsches. Auf den Unterschied zwischen "überzählig sein" und "überzählig machen" von Embryonen hat die Politologin Ingrid Schneider hingewiesen. Alleine in den USA sind heute mehr als 100 000 solcher "souls on ice" oder Gefrierfachwaisen gelagert. Jährliche Zuwachsrate der "spare embryos": rund 20 000 Die Zuschreibung der Überzähligkeit setzt einen fatalen Automatismus in Gang, der auf die Optionen Tötung durch Verwerfen oder Tötung zu Forschungszwecken hinausläuft. Die dritte Alternative, die in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz nicht ausdrücklich verbotene Embryonenspende, wird allenfalls als Notlösung gesehen. In praxi werden zahlreiche Hinderungsgründe diskutiert (gespaltene Mutterschaft, Gefahr der verdeckten Leihmutterschaft und des Einflusses auf IVF-Techniken sowie der Kommerzialisierung). Gelegentlich werden die "Überzähligen" Opfer von Stichtagsregelungen: Nach Ablauf der fünfjährigen Aufbewahrungsfrist für kryokonservierte Embryonen wurden am 1. August 1996 in England 3300 tiefgefrorene Embryonen durch Auftauen oder Auflösung in einem Gemisch aus Weinessig und Alkohol zerstört. Die Frist wurde mittlerweile auf zehn Jahre verlängert. 

4. Xanadu der Forschung 

Der in vitro erzeugte Embryo erfährt radikale Umdeutungen und metaphorische Verbiegungen. Er wird zum Zellhaufen, dem nichts Menschliches anhaftet und gilt lediglich als Symbol eines künftigen Menschen ("symbol of future human life"). Durch Verbannung in die Unanschaulichkeit (kleiner als ein Körnchen auf einer Nadelspitze) wird seine beliebige Nutzbarkeit suggeriert. Gleichzeitig wird er mehr und mehr zum Wunschkind von Wissenschaftlern als von Eltern, zum "Joker des Lebens", zu einem Xanadu (Wunderland) der Forschung. Wer aber legt den Maßstab der Überzähligkeit an, der konkret über Leben oder Tod entscheidet? Wer wird wodurch legitimiert, den einen Embryo ins Leben zu entlassen, den anderen hingegen nicht. Wer definiert jene magische Zahl, ab der menschliche Wesen "überzählig" oder sogar überflüssig werden? Wer darf "jemand" zu "etwas" machen? Wissenschaftler? Die leiblichen Eltern? Mit dem "Akt der Zeugung", so Kant, setzen Eltern eine "Person" in die Welt, nicht ein "Gemächsel", das sie "als ihr Eigentum zerstören" könnten. Das Fehlen einer Legaldefinition von "überzähligen Embryonen" eröffnet ein Spiel ohne Grenzen. 

Ein Embryo, auch in vitro gezeugt, sei "das zukünftige Kind zukünftiger Eltern und sonst nichts" (Margot von Renesse). Ein Satz, dessen Eindeutigkeit und normative Kraft ein Lichtblick in der biopolitischen Debatte sein könnte, wird hohl, wenn er anscheinend problemlos verknüpfbar ist mit einem dezidierten Bekenntnis zum (regulierten) Import embryonaler Stammzellen für Forschungszwecke. Auch die Beschwichtigung: "Für die deutsche Forschung darf kein Embryo sterben" bedürfte ehrlicherweise der Korrektur "kein deutscher Embryo", wenn embryonalen Stammzellen aus Israel, Singapur oder den USA, rechtlich gedeckt, dann schließlich doch der Weg in deutsche Forschungsstätten geöffnet werden soll. Über den Bedarf an "überzähligen Embryonen" kann nur spekuliert werden. 

Der US-Zellforscher James Thomson gewann 1998 fünf embryonale Stammzell-Linien aus 36 "frischen überzähligen", in den USA und Israel getöteten Embryonen. 

Der britische Stammzellforscher Austin Smith, für den Embryonen keine Menschen, sondern "Teil des menschlichen Lebenszyklus" sind, hatte bisher eine weniger glückliche Hand oder - seinem eigenen Lamento zufolge - die "schlechteren" Embryonen: der Verbrauch von mehr als 200 "überzähligen" IVF-Embryonen führte zu keiner eigenen Stammzell-Linie. In Großbritannien wurden zwischen August 1991 und März 1998, also noch vor Ausbruch der großen Goldgräberstimmung in der Stammzellforschung, ca. 48 000 sogenannte "überzählige" IVF-Embryonen für wesentlich weniger "hochrangige" Forschungszwecke verbraucht, nämlich vorwiegend zur Verbesserung von IVF-Techniken. 

5. "Strategische Embryonen", Taliban und Fabergé-Eier 

Die Bedarfsdeckung an Embryonen dürfte in Zukunft sogar ohne den heiklen Weg der Nutzung "überzähliger Embryonen" möglich werden. Inzwischen wurden in den USA Embryonen gegen Bezahlung der Spenderpaare (je 2000 Dollar für die 12 Eizellspenderinnen, 50 bis 100 Dollar für die Spermaspender) erzeugt, die ausschließlich zur Tötung für die Stammzellforschung bestimmt waren. Ihnen wurde also a priori jede Chance zu einer eigenen Biographie verwehrt. Von den aus 162 Eizellen erfolgreich kultivierten 40 Embryonen konnten drei Stammzell-Linien entwickelt werden (Arbeitsgruppe um Susan Lanzendorf, Norfolk, Virginia). 

Probleme könnte allenfalls noch die Terminologie bereiten. In Saldo-Kategorien sind diese Embryonen mangels "Überzähligkeit" nicht mehr zu erfassen. Möglicherweise wäre "strategische Embryonen" dem Charakter des wissenschaftlichen Planspiels am ehesten angemessen und gut kompatibel mit dem Klima der europäischen Debatte zur Stammzellforschung, in der Kritiker der Stammzellforschung von EU-Kommissar Philippe Busquin mit Taliban verglichen werden. Dieser Versuch, Kritiker der Embryonenforschung mit einem menschenverachtenden Regime auf eine Stufe zu stellen, ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass sich fast die Hälfte der Abgeordneten im Europäischen Parlament dafür ausgesprochen haben, die Embryonenforschung grundsätzlich von der EU-Förderung auszuschließen. Nahezu nostalgische Gefühle erweckt der Versuch des Direktors des Instituts für Ethik am Dartmouth College, Ronald Green, Embryonen ganz aus dem Sprachgebrauch verschwinden zu lassen. Er spricht einfach von "dem, was wir 'Embryo' genannt haben". Der Kostbarkeit weiblicher Eizellen könnte schließlich der gebührende Tribut gezollt werden, indem man sie zu Fabergé-Eiern der Wissenschaft erhöbe. 

6. Stunde der Lücke? 

Im Embryonenschutzgesetz ist die Frage des Umgangs mit embryonalen Stammzellen, insbesondere deren Import, nicht geregelt, weil zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes (1990) noch keine menschlichen embryonalen Stammzellen existierten. 

Ein definiertes Teilziel des ESchG war es aber "fremdnützige Experimente mit menschlichem Leben in der Retorte auszuschließen" (Kommentar zum EschG 1992), also genau jenen Eingriff, der der Gewinnung embryonaler Stammzellen zu Grunde liegt. Dem Geist des Gesetzes entsprach es, eine absolute Grenze der Verfügbarkeit des Embryo gerade im Hinblick auf potenzielle, damals noch nicht konkretisierbare missbräuchliche Zugriffe von Seiten der Fortpflanzungsmedizin und Forschung festzulegen. Heinz Riesenhuber, früherer Bundesforschungsminister und einer der geistigen Väter des Gesetzes, bewertet die gegenwärtige Diskussion um die Vernutzung von Embryonen als gerade jenen Testfall, für den das Gesetz gemacht worden sei. Die "Versuchung", aus Embryonen Ersatzgewebe zu züchten, stelle das Gesetz in die Bewährungsprobe. Es ist mehr als fragwürdig, die fundamentale Frage nach der Schutzwürdigkeit frühen menschlichen Lebens, die unser Menschenbild und unser Selbstverständnis als Gattungswesen berührt, durch die trickhafte Ausnutzung einer Gesetzeslücke beantworten zu wollen, die der Absicht der ursprünglichen Gesetzesregelung Hohn spricht. Das Operieren mit Gesetzeslücken sollte Abschreibungskünstlern und Winkeladvokaten überlassen bleiben. 

Inzwischen sind die Möglichkeiten des missbräuchlichen Umgangs mit Embryonen drastisch gestiegen, die Schutzbedürftigkeit des schutzlosesten menschlichen Wesens, des Embryo im Reagenzglas, somit erheblich gewachsen. Bei nüchternem Verstand kann daraus nur eine adäquate Verschärfung des Embryonenschutzes abgeleitet werden und nicht eine grundlegende Lockerung, die auf eine Aushöhlung der ursprünglichen Intention des Gesetzes hinausliefe. Die Bejahung des Imports von embryonalen Stammzellen ist das Wegschauen von der bereits begangenen Untat und ihre nachträgliche, letztlich auch ihre zukünftige Billigung. Dass durch den Import von ausschließlich bereits bestehenden Stammzell-Linien ("Bush-Modell") die "Tötung weiterer Embryonen zu Forschungszwecken verhindert wird" (Minderheitenmeinung in der Enquetekommission Recht und Ethik der modernen Medizin) ist nicht ernsthaft zu garantieren. Dafür sorgt die Gleichsetzung von Wissenszuwachs und Machbarkeitszuwachs. In einer fatalen Scheinlogik könnte die Zulassung des Imports die Forderung untermauern, die Herstellung embryonaler Stammzell-Linien müsse letztlich deshalb auch in Deutschland ermöglicht werden (Edzard Schmidt-Jortzig). 

Das Embryonenschutzgesetz steht aber für mehr: es steht als Symbol für den Schutz des Menschen, der nicht in der Lage ist, sich selbst zu schützen, für sich selbst zu sprechen. Im Umgang mit Embryonen wird, wie Ulrich Beck es formuliert, die "lautlose Unterjochung des Lebens" geübt, nicht ohne Tücke, im quasi Unsichtbaren, in der Geräuschlosigkeit. 

7. Utopien und Alternativen 

Drei Regeln, so lehrt der Philosoph Martin Seel, gelten für Utopisten. Für den utopischen Entwurf haben Denkbarkeit, Erfüllbarkeit und Erreichbarkeit zu gelten. Wie für das politische Denken ist die utopische Reflexion auch für das wissenschaftliche Denken ein gewaltiger Stimulus. Die "rationalen Hoffnungen" der "guten Utopie" sind für die Wissenschaft und ihre Klienten der himmlische Mannaregen, der ihnen Zuversicht gibt. Als vierte, besser noch als erste Regel aber ist die Verantwortbarkeit zu nennen, damit himmlisches Manna nicht zur vergifteten Nahrung wird. Das Pochen auf der unbestrittenen Tatsache, dass Grundlagenforschung einen prinzipiell erkenntnisoffenen Prozess darstellt, beinhaltet für den Forscher gerade auch, die Verantwortbarkeit der eingesetzten Mittel streng zu überprüfen. Dieses "Mittel" ist in der embryonalen Stammzellforschung nichts anderes als der Mensch selbst. In der Argumentation für die Forschung an embryonalen Stammzellen dominieren zwei Stichworte den Diskurs: Hochrangigkeit und Alternativlosigkeit der Forschungsziele. 

"Hochrangigkeit" ist ihrer Natur nach spekulativ und häufig nur a posteriori zu belegen. Die Biologin und Ethikerin Gisela Badura-Lotter hat deutlich gemacht, dass der Begriff der hochrangigen Forschung viel verwendet wird, aber "notorisch unpräzise" ist und für den konkreten Fall der normativen Abwägung eine bloße Leerformel darstellt. Gerade im Bewusstsein der argumentativen Schwäche des Hochrangigkeitsbegriffs erfolgt häufig der dubiose Rückgriff auf klinische Beispiele, wie die potenzielle Heilung der "an MS (multiple Sklerose) leidenden achtunddreißigjährigen Mutter mit drei kleinen Kindern". 

Die Wirksamkeit solcher Beispiele ist unbestritten. Bei der Debatte im britischen Parlament um das therapeutische Klonen und die Forschung mit embryonalen Stammzellen war im Winter 2000 die emotionale Rede der selbst an multipler Sklerose leidenden Abgeordneten Fiona McTaggart von entscheidendem Einfluss auf das positive Votum der Abgeordneten. 

Eine "Heilung" von MS wird aber selbst im günstigsten Ergebnis der Stammzellforschung von Expertenseite wegen des diffusen Befalls des Nervensystems als unwahrscheinlich eingestuft. Gleiches gilt für die Alzheimersche Krankheit, die unvermindert als ein therapeutisches Hauptziel der Stammzellforschung zitiert wird. Wer die Chronologie der Darstellung der Forschungsziele genau verfolgt, kann allerdings nicht verkennen, dass die Szenarien vom "Herz aus der Retorte" schrittweise über eine vorwiegend regenerative Therapie in Gewebsverbänden bis zur bloßen Übergangstechnologie entmystifiziert wurden. 

Ebenso brüchig erscheint das Operieren mit der "Alternativlosigkeit" von Therapieformen. Im Hinblick auf den Zell- und Gewebeersatz sind Alternativen zur Stammzellforschung im Vergleich zu konkret existierenden therapeutischen Verfahren und Präventionsstrategien zu prüfen. Bei Herzinfarkten und verschiedenen Formen der Herzinsuffizienz stehen Arzneimittel zur Verfügung, die kontinuierlich weiter entwickelt werden. Die Verfügbarkeit von Stammzellen zur Transplantation könnte hier zwar durch die Regeneration von Zellen und Geweben einen Fortschritt bedeuten. Eine "Heilung" dürfte mit Stammzellen jedoch nicht zu realisieren sein. Gleiches gilt für die immer wieder zitierte Zuckerkrankheit: Könnte z.B. durch Stammzelltherapie die Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse bei jugendlichen Diabetikern normalisiert werden, so bliebe der zu Grunde liegende immunologische Prozess, der sich als Systemkrankheit gegen jede insulinproduzierende Zelle richtet, dennoch unverändert weiter bestehen und würde das Transplantat ebenfalls schädigen. 

Die Analyse zeigt, dass in der modernen Medizin konkrete Fortschritte so gut wie nie durch ein einziges "alternativloses" Verfahren erzielt wurden, sondern durch die Summation einzelner erfolgreicher Strategien. Für den beeindruckenden Rückgang der Sterblichkeit am akuten Herzinfarkt war nicht ein bestimmtes Verfahren ausschlaggebend, sondern effizientere Reanimationsmethoden, Verbesserungen in der Behandlung lebensbedrohlicher Rhythmusstörungen, die Optimierung der gerinnselauflösenden Therapieprinzipen, die Einpflanzung von Stents (gefäßstabilisierende feine Drahtgeflechte) in die Herzkranzgefäße und eine raschere Erstversorgung. Das Gleiche gilt im Prinzip für Fortentwicklungen in der Krebstherapie. Die Fokussierung auf sog. alternativlose Therapieprinzipen beinhaltet eine ethisch (und ökonomisch) bedenkliche Verzerrung der Forschungslandschaft. Mit dem geflügelten Kanzlerwort von der "Ethik des Heilens" - es gibt allenfalls ein Ethos des Heilens - werden argumentatorische Nebelkerzen geworfen, statt Licht in die Debatte zu bringen. 

8. Kostbarer Zweifel 

Aber selbst im günstigsten, allerdings unwahrscheinlichen Fall, dass Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen die schlagwortartig beschworene "Heilung für Millionen" brächte, bleibt - losgelöst von der Betrachtung der Stammzellforschung - der fundamentale Zweifel bestehen, ob Heilung ein Gut darstellt, das die Tötung nicht einwilligungsfähiger menschlicher Lebewesen rechtfertigen kann. Deswegen entscheidet das Parlament über weit mehr als die Zulässigkeit oder die Modalitäten des Imports menschlicher embryonaler Stammzellen. Es entscheidet darüber, ob der Mensch sich wenigstens so weit über den Menschen verständigen kann, dass er ihn davor bewahrt, sein eigenes Opfer zu werden. 

Es geht im weitesten Sinne um das Aufgeben des Menschen durch den Menschen. Das gilt für den Anfang des Lebens wie für das Ende. Was in der Frage der Vernutzung von Embryonen entschieden wird, wird zwangsläufig den Blick auf den Menschen am Ausklang seines Lebens bestimmen. Wer den Zweifel von heute als Gewissheit von morgen ausgibt, lässt sich auf ein Risikounternehmen ein, aus dem es, anders als bei der Atomkraft, kaum mehr einen Ausstieg gibt. Atomkraftwerke lassen sich nach Jahrzehnten abschalten. Die einmal begonnene Manipulation des Menschen droht hingegen zum Endlosexperiment seiner Selbstinstrumentalisierung zu werden. Der Zweifel erweist sich vielleicht als das kostbarste Element in Zeiten ethischer Unabwägbarkeiten. Er gibt dem Gleichziehen von Moral und Vernunft eine Chance. 


Geisler, Linus S.: Parlamentarier im Meer von Zweifeln. Frankfurter Rundschau, 22.01.2002
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2002/0122fr-stammzellen.html

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