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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Arzt und Patient im Gespräch - der Schritt von der Theorie zum ärztlichen Alltag 
1. Schritt - Eine selbstkritische Frage
2. Schritt - Sich selbst zuhören
3. Schritt - Den Gesprächsrahmen optimal gestalten
4. Schritt - Aktives Zuhören und Spiegeln lernen
5. Schritt - Alle Botschaften einer Nachricht erkennen
6. Schritt - Fähigkeit zur Empathie
7. Schritt - Fragen lernen, zum Fragen anhalten
8. Schritt - Führen Sie Ihre Gespräche als geschlossenes Ganzes
9. Schritt - Eine gemeinsame Wirklichkeit aufbauen
 
Arzt und Patient im Gespräch - der Schritt von der Theorie zum klinischen Alltag
Der Leser, der dem Autor bis hierher geduldig gefolgt und nunmehr bereit ist, in Zukunft anders als bisher, nämlich verstehend, mit seinen Patienten zu sprechen, wird sich möglicherweise nicht ohne Beklemmung fragen, wie er unter dem Druck des ärztlichen Alltags seinen guten Willen in die Wirklichkeit umsetzen soll. Möglicherweise schwirren jetzt viele Begriffe noch ohne feste Ordnung und Zuordnung durch seinen Kopf: geschlossene und offene Fragetechnik, aktives Zuhören, Empathie, Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung. Wahrscheinlich bewegt ihn auch die Frage, ob bei allem guten Willen die zur Verfügung stehende Zeit überhaupt etwas anderes zulässt, als so wie bisher mit seinen Patienten zu sprechen.

Um die letzte Frage zuerst zu beantworten: Das erfolgreiche, weil verstehende Gespräch zwischen Arzt und Patient ist kein zeitraubendes Gespräch. Das Erfassen der individuellen Wirklichkeit eines Patienten durch Empathie, die Fähigkeit zuzuhören, eine richtige Gesprächstechnik und eine strukturierte Gesprächsführung kosten nicht zusätzlich Zeit, sondern können Zeit sparen.

Der Weg aus der Theorie in den klinischen Alltag lässt sich am besten systematisch in einzelnen Schritten gehen. Der folgende Vorschlag soll es dem Leser ermöglichen, in 9 Schritten, deren Länge er selbst bestimmen mag, diese Strecke zurückzulegen. Der Startpunkt ist eine selbstkritische Analyse der Qualität und Effizienz seiner bisherigen Gespräche. Weitere Etappen des Weges sind gesprächstechnische Lernprozesse, eine Neuorientierung des eigenen Standorts sowie der Einstellung zum Patienten. Die letzte Etappe ist die schwierigste, weil der Ballast alter Vorstellungen über das Wesen der Wirklichkeit abgeworfen werden muss, um schließlich zu erkennen, dass Kommunikation im eigentlichen Sinne zwischen Arzt und Patient nur möglich ist, wenn es gelingt, eine gemeinsame Wirklichkeit aufzubauen.

Wenn der Leser nunmehr bereit ist, sich auf diesen Weg zu begeben, sollte er diese Aufgabe ruhig und gelassen angehen. Alle Schritte lassen sich en passant im ärztlichen Alltag vollziehen und bedürfen keines zusätzlichen Zeitaufwands. Und je weiter der Leser auf diesem Weg vorankommt, um so mehr wird ihn das erfüllen, was in seinen bisherigen Gesprächen meist Seltenheitswert hatte, nämlich Freude. Freude, weil er erlebt, was sich mit dem wichtigsten, bislang aber meist vernachlässigten ärztlichen Instrument bewegen lässt, mit der Sprache.



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1. Schritt - Eine selbstkritische Frage
Der 1. Schritt setzt ein gerütteltes Maß an Fähigkeit zur Selbstkritik voraus. Er soll eine ehrliche Antwort auf die Frage ermöglichen: Wie viele der Gespräche mit meinen Patienten sind unbefriedigend - für den Patienten, für mich selbst oder für beide? Die Arbeitslast des ärztlichen Alltags ist häufig so groß, dass der Arzt schon froh ist, wenn er sein Pensum überhaupt geleistet hat. Die Frage, ob all die Gespräche auch noch dazu gute und für beide Gesprächspartner befriedigende Gespräche waren, tritt dann leicht in den Hintergrund. Aber unbefriedigende Gespräche lassen sich nicht sozusagen unter den Teppich kehren.

War der Patient unbefriedigt, so kann sich dies in vielfacher Weise ausdrücken: Nur im Ausnahmefall wird der Patient direkt sagen, dass er mit dem Gespräch nicht zufrieden war. Durch nonverbale Kommunikation kommt dies möglicherweise schon eher zum Ausdruck. Die Folgen eines unbefriedigenden Gesprächs äußern sich sehr viel eher im Verhalten des Patienten: Er reagiert mit Aggressionen, Ablehnung oder Ängsten. Er stellt immer wieder die gleichen Fragen. Seine Compliance ist unbefriedigend. Er lehnt sinnvolle Untersuchungs- und Behandlungsvorschläge ab. Er erweckt den Eindruck, als verstände er uns nicht und als verstünden wir ihn nicht. Er verhält sich "schwierig". Er kommt immer wieder mit dem gleichen Anliegen. Er kommt nicht mehr wieder.

Natürlich gibt es Gespräche, an deren Ende der Arzt ganz klar erkennt, dass das Gespräch ein Fehlschlag war. Sehr viel häufiger aber wird ihm nur unbewusst klar, dass er ein unbefriedigendes Gespräch geführt hat. Unbefriedigende Gespräche wirken besonders belastend, sie erschöpfen leicht, machen reizbar und aggressiv. Sie wecken den Wunsch, diesen Patienten möglichst nicht so bald wiederzusehen. Kommt er wieder, lösen sie innere "Stoßseufzer" und ein Gefühl der Ablehnung aus. Es bleibt nach dem Gespräch ein schales Gefühl zurück, das Empfinden, dass das ganze Gespräch ein Schlag ins Leere war. Es ist nichts bewegt worden, im Gegenteil, die Situation hat sich festgefahren, oder das Gespräch hat eher neue Schwierigkeiten auf den Plan gerufen als ursprüngliche beseitigt. Das für den Arzt unbefriedigende Gespräch - und dies ist eine tückische Falle - kann für den Patienten oberflächlich betrachtet, durchaus zufriedenstellend gewesen sein, weil er vordergründig "ruhiggestellt wurde" und gerade deshalb nicht bemerkt, dass die eigentlich anstehende Problematik ausgeklammert, verschoben oder bagatellisiert wurde.

Fragen Sie sich nach jedem Gespräch einige Tage lang so offen wie möglich: War es befriedigend oder unbefriedigend, und wenn es unbefriedigend war, war es unbefriedigend für den Patienten, für mich selbst oder für beide Gesprächspartner? Das Ergebnis dieser "internen Analyse" kann für Ihre Motivation ausschlaggebend sein, Ihre Gesprächsführung in Zukunft anders zu gestalten. Eine weitere Möglichkeit, die Qualität der eigenen Gespräche zu beurteilen, besteht darin, Mitarbeiter um offene Kritik zu bitten. Sehr aufschlussreich können schließlich - wenn der Patient damit einverstanden ist - Videoaufzeichnungen sein.



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2. Schritt - Sich selbst zuhören
Sich selbst zuhören ist ebenfalls ein selbstkritischer Prozess, der Aufschlüsse darüber geben kann, ob und wieweit die eigene Gesprächsführung und -technik verbesserungsbedürftig sind. Beim kritischen Sich-selbst-Zuhören sollten Sie besonders auf folgende Punkte achten: Ist meine Fragetechnik adäquat und erfolgreich? Kommt in meinem Verhalten Empathie zum Ausdruck? Höre ich aktiv zu? Lege ich Gesprächspausen ein, und bin ich in der Lage, Pausen zu tolerieren und richtig zu interpretieren? Welche Terrninologie verwende ich? Befinden sich darunter "kommunikative Unverbindlichkeiten"? Wie häufig verwende ich Man-Appelle, unbestimmte Einschränkungen, Verallgemeinerungen, Es-Aussagen, Übertreibungen, Wir-Aussagen, Ja-aber-Formulierungen, "Trojanische Pferde" oder sogenannte "Killer-Phrasen"? Ist meine Gesprächsführung angsterzeugend? Benutze ich Abweisungsstrategien (Ablenken, Ausweichen, Bagatellisieren, Entmündigen)?

Neben diesen gesprächstechnischen Aspekten ist die inhaltliche Analyse wichtig: Wird das Gespräch der jeweils speziellen Zielsetzung gerecht? Beispiele: Gelingt es, den Patienten zu motivieren? Zeigt der Patient Ängste, und ist das Gespräch gegen seine Angst gerichtet? Wird der sogenannte schwierige Patient im Gespräch angenommen? Liegt eine inhaltliche oder beziehungsmäßige Konfliktsituation vor, und gelingt es im Gespräch, aus dem nichtlösbaren Konflikt ein lösbares Problem zu machen? Berücksichtigt das Gespräch, dass es sich um einen chronisch Kranken oder alten Menschen handelt? Berücksichtigt das Visitengespräch die Belange von Team und Patient? Wird das Gespräch den Kommunikationsbedürfnissen des Intensivpatienten gerecht? Ist das Gespräch mit dem Todkranken oder Sterbenden seinem Wesen nach wahrhaftig? Weicht das Gespräch bei eventuell auch nur indirekt gestellten Fragen nach dem Sinn von Krankheit oder Sein, nach Gott oder dem "Drüben" aus?



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3. Schritt - Den Gesprächsrahmen optimal gestalten
Oft ist der Wille zum guten Gespräch vorhanden, aber der Gesprächsrahmen und die äußeren Umstände stehen einem befriedigenden Gespräch im Wege. Die Erfahrung zeigt, dass der Gesprächsrahmen in der Medizin, gleichgültig, ob in der Praxis oder in der Klinik, nicht selten sträflich vernachlässigt wird. Was sich keine Behörde, Bank oder Fluggesellschaft leisten dürfte, ohne Schiffbruch zu erleiden, ist in der Medizin gang und gäbe. Der Gesprächsrahmen ist aber wesentlich mitbestimmend, unter welchem "Stern" das Gespräch steht und wie erfolgreich es verläuft.

Achten Sie daher auf folgende Punkte: Laufen Ihre Gespräche so ungestört wie möglich ab? Werden Unterbrechungen durch Mitarbeiter, Telefon, Gegensprechanlage oder andere Patienten unterbunden oder minimiert? Ist der Ort des Gesprächs adäquat (keine Flurgespräche, kein "Zwischen-Tür-und-Angel-Syndrom")? Stimmen Distanz und Sitzordnung? Ist der Zeitpunkt des Gesprächs richtig gewählt (zum Beispiel kein Aufklärungsgespräch mit dem Krebspatienten am Abend, keine Mitteilung eines positiven HIV-Testergebnisses am Freitag)? Werden Hektik und erkennbarer Zeitdruck vermieden? Stimmt das Gesprächsklima?



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4. Schritt - Aktives Zuhören und Spiegeln lernen
Ein wesentliches Merkmal des guten Arztes ist eine gute Zuhörtechnik. Aktives Zuhören zählt zu den wichtigsten ärztlichen Fähigkeiten im Gespräch mit dem Patienten. Prüfen Sie zunächst, ob Sie generell ein guter Zuhörer sind. Machen Sie sich bewusst, dass Sie durch aufmerksames Zuhören oft mehr erfahren können als durch eine gute Fragetechnik.

Achten Sie auf Ihr Verhalten in Gesprächen: Neigen Sie dazu, dem Patienten ins Wort zu fallen oder Sätze abzuschneiden? Sind Sie in der Lage, mit Gesprächspausen richtig umzugehen? Setzen Sie gesprächsfördernde Pausen (Entscheidungspausen, kommunikative Pausen) genügend ein? Erkennen Sie die verschiedenen Ursachen gesprächshemmender Pausen (Blockierungen)? Sind Sie in der Lage, Gesprächspausen oder Schweigen auszuhalten?

Beachten Sie als nächsten Schritt, an welche Voraussetzungen aktives Zuhören gebunden ist, nämlich: Interesse an der Sache, die Bereitschaft zuzuhören, die Fähigkeit zuzuhören und die Fähigkeit, völlig präsent zu sein. Signalisieren Sie Ihrem Gesprächspartner unmissverständlich, dass Sie ihm wirklich und ganz auf ihn eingestellt zuhören (aufnahmebereite Zuwendung). Erst die Verflechtung von Sprechen und aktivem Zuhören bildet die Grundlage jedes erfolgreichen Gesprächs. Unterbrechen Sie den Gesprächspartner niemals, denn Unterbrechen ist als extremes Gegenteil des aktiven Zuhörens ein "Gesprächszerstörer" ersten Ranges. Macht aktives Zuhören Sie anfangs ungeduldig, weil Sie glauben, nicht genügend Zeit dafür zu haben, sollten Sie bedenken, dass die Erfahrung genau das Gegenteil belegt: Aktives Zuhören spart Zeit, Nichtzuhören kostet Zeit.

Aktives Zuhören und Spiegeln vor allem durch Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte sind miteinander auf das Engste verzahnt: das Wechselspiel von Zuhören und das Verstandene ausdrücken ist der ideale Motor für das verstehende Gespräch.



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5. Schritt - Alle Botschaften einer Nachricht erkennen
Lösen Sie sich von der Vorstellung, dass eine Nachricht nur eine Botschaft enthält (Sachinhalt). Denken Sie daran, dass Sprechen mehr ist als ein Geschehen zwischen zwei EDV-Anlagen, weil jede Nachricht bis zu 4 Botschaften enthalten kann:1. Sachinhalt (Information), 2. Selbstoffenbarung, 3. Beziehung (Kontakt), 4. Appell. Versuchen Sie, im nächsten Schritt die Aussagen Ihrer Patienten systematisch unter folgenden 4 Fragestellungen zu analysieren:
  1. Was ist der Sachinhalt der Nachricht?
  2. Was sagt sie über meinen Gesprächspartner aus?
  3. Was will mein Gesprächspartner mit dieser Nachricht über mich und unsere Beziehung zueinander aussagen?
  4. Möchte er etwas erreichen und gegebenenfalls was?
Der häufigste Fehler besteht darin, dass nur die Botschaft "Sachinhalt" gehört wird und die eigentliche Botschaft "Beziehung" ungehört bleibt. Prüfen Sie daher, was die wirkliche Hauptbotschaft einer Nachricht ist. Entwickeln Sie ein Ohr dafür, ob die Nachricht neben den expliziten auch implizite Botschaften enthält. Vergessen Sie nicht, dass auch Schweigen als besondere Form des Nichtsprechens eine Nachricht darstellt, die alle Botschaften des gesprochenen Wortes enthalten kann. Prüfen Sie, ob nicht eines Ihrer Ohren überdimensioniert ist (häufig das Beziehungsohr), wobei Frauen eher die Tendenz haben, mit einem besonders geschärften Beziehungsohr zu hören, während Männer dazu neigen, Nachrichten nur mit dem Sachohr zu empfangen. Machen Sie sich immer klar, dass die bei Ihnen ankommende Nachricht Ihr "Machwerk" ist. Vergessen Sie nicht, dass parallel zur Kommunikation auf der Mitteilungsebene auch Kommunikation auf der Metaebene im Sinne einer impliziten Metakommunikation abläuft, das heißt, achten Sie auf den "So-ist-das-gemeint-Anteil" einer Nachricht.


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6. Schritt - Fähigkeit zur Empathie
Empathie ist eine Grundvoraussetzung des verstehenden Gesprächs. Sie ist die Brücke, die aus der eigenen Wirklichkeit in die Wirklichkeit des Patienten führt und es ermöglicht, eine gemeinsame Wirklichkeit zu finden. Zunächst: Fürchten Sie sich nicht vor empathischem Verhalten! Sie gewinnen dadurch mindestens so viel, wie Sie geben müssen. Machen Sie sich klar, dass Empathie nicht verwechselt werden darf mit Sympathie, Gefühlsansteckung, Mitgefühl oder Identifikation. Machen Sie sich deutlich, was mit Empathie gemeint ist: "Empathie bedeutet, das Erleben eines anderen so vollständig und genau nachzuvollziehen, als ob es das eigene wäre, ohne jemals diesen ,Als-ob-Status' zu verlassen". Geht der Als-ob-Status verloren, handelt es sich nicht mehr um Empathie, sondern um den Zustand der Identifikation.

Wenn Sie Schwierigkeiten haben, sich empathisch zu verhalten, sollten Sie sich daran erinnern, dass für die Berufswahl der meisten Ärzte gerade der Wunsch, sich mitfühlend zu verhalten, bestimmend war. Spätere Erfahrungen und Selbstschutzprozesse haben dieses oftmals verhindert.

Berücksichtigen Sie ferner die zwei wesentlichen Hürden, die der Fähigkeit zur Empathie entgegenstehen können: nämlich das Bedürfnis nach "emotionaler Neutralität" und ein dominantes Rollenverständnis. Ein gutes Kontrollkriterium dafür, ob Sie zur Empathie fähig sind, ist die "Echtheit" Ihres Gesprächs mit Ihren Patienten.



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7. Schritt - Fragen lernen, zum Fragen anhalten
Nachdem Sie nun die Schwächen Ihrer Gesprächsführung genauer kennen, für einen möglichst optimalen Gesprächsrahmen gesorgt haben, imstande sind, aktiv zuzuhören, Nachrichten "vierohrig" zu empfangen und sich empathisch zu verhalten, müssen Sie sich Ihrer Gesprächstechnik zuwenden und die Kunst der Frage erlernen. Dazu ist es notwendig, nach geschlossenen und offenen Fragen zu differenzieren und sich die Vor- und Nachteile beider Frageformen deutlich zu machen. Geschlossene Fragen eignen sich besonders, um rasch gezielte Informationen zu gewinnen, weniger jedoch zur Gesprächseröffnung und -vertiefung. Offene (nichtstrukturierte) Fragen bilden die richtige Fragetechnik bei der Gesprächseröffnung und zur Vertiefung des Gesprächs. Halbstrukturierte Fragen (W-Fragen) eignen sich zur Verdeutlichung bestimmter Punkte.

Ihre Fragetechnik ist gut, wenn es Ihnen gelingt, den Patienten zu stimulieren, mit eigenen Worten zu schildern, was ihn bewegt oder belastet. Eine Hilfestellung können dosiert eingesetzte Sondierungs-, Katalog- und Reflexions-(Echo-)Fragen darstellen. Verbannen Sie systematisch ungeeignete Fragetechniken aus Ihrer Gesprächsführung. Dazu zählen Suggestiv-, Doppel- und Überfallfragen (unproduktive Fragen) und die ganze Reihe der verbotenen Fragen (Fang-, Neugier-, Wertungs-, Aggressions- und Floskelfragen). Je mehr es Ihnen gelingt, Ihre Fragetechnik zu verbessern, desto mehr werden Sie erkennen: Die gute Frage ist bereits ein Teil der Therapie. Aber auch wenn Ihre Fragetechnik optimal ist, sollten Sie sich der Tatsache bewusst bleiben, dass aktives Zuhören nicht selten mehr zutage fördert als noch so geschicktes Fragen.

Vergessen Sie schließlich nicht, das Frageverhalten Ihres Patienten zu durchleuchten: Warum fragt der Patient wirklich (Informationsbedürfnis? Wunsch nach Zuwendung? Hilferuf?)? Warum fragt er gerade jetzt? Handelt es sich um eine "Frage hinter der Frage"? Warum wiederholt der Patient eine Frage immer wieder? Und werden Sie hellhörig, wenn Ihr Patient keine Fragen stellt (Angst? Zeitdruck? Kommunikationsbarrieren? verschiedene Wirklichkeiten?).



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8. Schritt - Führen Sie Ihre Gespräche als geschlossenes Ganzes
Viele Gespräche zwischen Arzt und Patient sind nur ein Torso: Es fehlt ein "konstruktiver Anfang", der Gesprächsverlauf wird nicht von einer durchgängigen Thematik bestimmt, es fehlt auch ein klarer Gesprächsabschluss. Gehen Sie systematisch vor. Berücksichtigen Sie zunächst, dass jedes Gespräch seine "Vorgeschichte" hat und in einer gegenseitigen Erwartungshaltung geführt wird. Bis auf Ausnahmen umfasst jedes Gespräch folgende Phasen: Eröffnung - Adaptation - Thematisierung - Abschluss.

Die einzelnen Gesprächsphasen weisen unterschiedliche Schwierigkeitsgrade auf und bedürfen einer unterschiedlichen Gesprächstechnik. Die schwierigste Phase ist der Gesprächsanfang. Er ist häufig richtungsweisend für alle weiteren Gespräche. Denken Sie an die GOETHEsche Maxime: "Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zurande". Ermitteln Sie am Gesprächsanfang vor allem den inneren Standort Ihres Patienten. Fangen Sie dort an, wo der Patient steht und nicht, wo Sie selbst stehen. Holen Sie ihn von seinem Standort ab! Berücksichtigen Sie das "Trichterprinzip" der Gesprächsführung: offener Anfang und breite Entfaltung (offene Fragetechnik), dann fragetechnische Verengung des Antwortenspielraums, um schließlich zur thematischen Fokussierung zu kommen. Führen Sie Ihre Gespräche in der "zweipersonalen" Situation. Bedenken Sie, dass sich nur mit dem gesprächsfähigen und gesprächsbereiten Patienten und unter Gesprächsumständen, die nicht gegen das Gespräch gerichtet sind, ein erfolgreiches Gespräch führen lässt. Der Erfolg Ihres Gesprächs hängt weitgehend davon ab, ob es Ihnen gelingt, das Gespräch in der optimalen Kombination von Fragen, Zuhören und Intervenieren zu führen und gleichzeitig die verbalen und nonverbalen Mitteilungen Ihres Patienten richtig einzuordnen. Erkennen Sie, wenn Ängste Ihren Patienten bestimmen. Bedenken Sie, dass es leichter ist, eine Krankheit zu diagnostizieren, als sie zu deuten.

Vernachlässigen Sie in Ihrem Gespräch mit Ihren Patienten nicht jenen Gesprächsabschnitt, der bei anderen "professionellen" Gesprächen (beim Autokauf oder Gewähren eines Bankkredits) der wichtigste ist, nämlich der Gesprächsabschluss. Er hat mehrere Funktionen: Was wurde erreicht, aber auch was wurde nicht erreicht? Auf welchem Standort befindet sich der Gesprächspartner jetzt? Ist das Gespräch in einer gemeinsamen Wirklichkeit der Gesprächspartner abgelaufen? Die Gesprächsbilanz ist Voraussetzung für den konstruktiven Plan, das heißt Verordnungen, Ratschläge und Empfehlungen, Hinweise und Feststellungen, wie diese Anordnungen realisiert werden können, und schließlich, falls erforderlich, eine weitere Gesprächsterminierung. Das befriedigende Gespräch ist ein formal, strukturell, inhaltlich und thematisch geschlossenes Gespräch.



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9. Schritt - Eine gemeinsame Wirklichkeit aufbauen

Der letzte Schritt auf dem Weg zum verstehenden Gespräch ist der schwierigste. Denn er erfordert ein grundlegendes Umdenken in zweierlei Hinsicht: Umdenken einmal, weil Sie lernen müssen, Ihre meist tiefverwurzelten Vorstellungen darüber, was Wirklichkeit ist, radikal zu ändern. Umdenken auch, weil sich auf der Grundlage dieses neuen Wirklichkeitsbegriffs der Zugang zum Patienten vollkommen ändert. Dieser letzte Schritt, nämlich aus einem neuen Wirklichkeitsverständnis heraus mit dem Patienten zu kommunizieren, ist der alles entscheidende Schritt zum verstehenden Gespräch. Gelingt er nicht, so ist dem Arzt der Brückenschlag in die Welt seines Patienten grundsätzlich versperrt.

Die erste Voraussetzung für das Gelingen dieses letzten Schrittes ist es, den Ballast einer altgewohnten Vorstellung abzuwerfen, nämlich den Glauben, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ein Glaube, den WATZLAWICK "die gefährlichste aller Selbsttäuschungen" nennt. Erst wenn Sie verstanden haben, dass es keine absolute Wirklichkeit, sondern nur subjektive Wirklichkeitsauffassungen gibt, die völlig widersprüchlich sein können, werden Sie sich von der Annahme freimachen können, dass die eigene subjektive Wirklichkeit der "wirklichen" Wirklichkeit entspricht. Sie müssen sich mit der Tatsache vertraut machen, dass es Wirklichkeiten verschiedener Ordnung gibt. Die Wirklichkeit 1. Ordnung beruht auf dem Konsens der Wahrnehmung der Beteiligten und auf experimentellen, wiederholbaren und daher verifizierbaren Nachweisen. Die eigene, das heißt aber auch subjektive Wirklichkeit ist stets eine Wirklichkeit 2. Ordnung. Das heißt, es gibt von ein und derselben Sache sehr viele Wirklichkeiten 2. Ordnung, von denen jede für sich gesehen "wirklich" ist. Weil die Wirklichkeit 2. Ordnung genauso überzeugend "wirklich" ist wie die Wirklichkeit 1. Ordnung, ist die Gefahr sehr groß, dass wir diesen Unterschied völlig aus den Augen verlieren und uns überhaupt nicht bewusst sind, dass es zwei verschiedene Wirklichkeitsordnungen gibt. Wir werden einen Patienten überhaupt erst dann verstehen können, wenn wir bereit sind, einzuräumen, dass die Wirklichkeit seiner Krankheit höchstwahrscheinlich eine völlig andere Wirklichkeit als die unsere ist, und dass jede dieser subjektiven Wirklichkeiten, die des Arztes und die des Patienten, ebenso "wirklich" ist wie die andere.

Wenn Sie sich diese Erkenntnis zu eigen gemacht haben, haben Sie die entscheidende Hürde überhaupt genommen. Jetzt besteht nicht mehr die Gefahr, dass Sie sich in Ihrem Gespräch mit dem Patienten verhalten wie die zwei Spieler, die vor einem Brettspiel sitzen aber unfähig sind, ein gemeinsames Spiel zu spielen, weil der eine nach den Regeln des Schachspiels und der andere nach den Backgammonregeln zu spielen versucht. Solange die beiden Spieler unfähig sind, einen gemeinsamen Code, gemeinsame Spielregeln zu verwenden, das heißt eine gemeinsame Wirklichkeit zu finden, wird eine Verständigung zwischen ihnen nicht möglich sein.

Stufen
Die 9 Schritte zum erfolgreichen Gespräch zwischen Arzt und Patient

Nachdem Sie diese begriffliche Hürde genommen haben, wissen Sie, dass das Problem der Kommunikation nichts anderes ist als die Suche nach gemeinsamen Spielregeln oder gemeinsamen Codes. Solange jeder Outsider der Wirklichkeit des anderen bleibt, ist Kommunikation nicht möglich. Kommunikation ist die Verbindung von zwei individuellen Wirklichkeiten dadurch, dass es gelingt, eine gemeinsame Wirklichkeit aufzubauen.

Jetzt, da Sie akzeptiert haben, dass die Wirklichkeit Ihres Patienten und Ihre eigene Wirklichkeit verschieden sind, ist das nächste Wegstück vor dem Ziel klar: Sie müssen die Wirklichkeit Ihres Patienten ergründen: woher er kommt, wo er steht, was ihn bewegt, was er sich wünscht, dies alles aus der Sicht seines Erlebens. Der Schlüssel dazu ist, sich empathisch zu verhalten.

Das allerletzte Wegstück besteht darin, dass Sie, nachdem Sie die Wirklichkeit Ihres Patienten begriffen haben, mit ihm zusammen eine gemeinsame Wirklichkeit aufbauen. Diese Identität der Wirklichkeiten von Arzt und Patient eröffnet nunmehr die Möglichkeit, in einem gemeinsamen Bezugssystem zu kommunizieren und sich gegenseitig zu begreifen. Ist dies erreicht, haben Arzt und Patient in ihrem Gespräch die höchstmögliche Stufe erreicht.
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
© Pharma Verlag Frankfurt 

Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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