Und Gott wird abwischen
alle Tränen von |
ihren Augen, und der
Tod wird nicht mehr |
sein, noch Leid, noch
Geschrei, noch |
Schmerz wird mehr sein
... |
Geheime Offenbarung,
21, 4
|
Sprechen über
Gott?
Soll der Arzt mit seinen Patienten in der
heutigen Zeit über Gott sprechen? Die Antwort lautet: ja. Das Leben
eines Menschen zu retten oder zu verlängern, ist nur eine Seite der
Medaille. Die andere Seite ist ebenso wesentlich, und der Arzt, der nur
eine Seite sieht, ist auch nur halbsehend oder halbblind. KIERKEGAARD meint
den gleichen Sachverhalt mit dem zunächst befremdlich klingenden Satz:
"Der Spaß, eines Menschen Leben für einige Jahre zu retten,
ist nur Spaß. Der Ernst ist, selig sterben."
Gott in der heutigen Zeit
Aus mittelalterlichen Darstellungen können
wir uns ein Bild damaliger Hospitäler machen: Die Kranken lagen an
Längswänden in großen Sälen und wurden von Ordensbrüdern
gepflegt. Der Priester ging im Hospital auf und ab, beugte sich zu den
Sterbenden, betete mit ihnen und reichte ihnen die Kommunion. Der Arzt
betrat nur selten den Raum, verordnete gelegentlich Medizin, und wenn die
Grenze der ärztlichen Kunst erreicht war, trat er respektvoll zurück.
So entstanden die Hospitäler aus den "Gottesherbergen", in denen der
Priester dominierte und dem Arzt nur eine bescheidene Nebenrolle zukam.
Im Krankenhaus von heute - und Krankenhäuser
sind immer auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Systeme und geistigen
Strukturen ihrer Zeit - existiert der Krankenhausseelsorger zwar immer
noch, ist aber nur noch einer unter den vielen nichtmedizinischen Helfern
neben Sozialarbeiter, Bademeister oder Klinikfriseur. Vor allem von jüngeren
Ärzten wird der Klinikpfarrer häufig als "Luxuserscheinung" angesehen
(H. BEGEMANN, Tagung der ev. Akademie Tutzing, Januar 1986). Allenfalls
wird dem Klinikseelsorger die Rolle des Psychologen, falls ein solcher
im Krankenhaus nicht tätig ist, zugeschoben. Der Krankenhausseelsorger
als Psychologenersatz - und der Arzt vielleicht ein Ersatzpriester?
In einem 1983 erschienenen Buch über
Patientenführung im Krankenhaus werden die Aufgaben von Krankenpfleger
über Hebamme, MTA, Krankengymnastin, Diätassistentin, klinischen
Soziologen, Ergo- und Logopäden, Sozialarbeiter bis zum Bibliothekar
beschrieben. Dem Krankenhausseelsorger ist nicht eine Zeile gewidmet. So
stellt sich die Frage, ob der kranke Mensch von heute überhaupt noch
einen "Bedarf" an Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten hat.
Die Statistik spricht im ersten Anschein dagegen. ENGELKE führt in
seinem Buch "Sterbenskranke und die Kirche" aus, dass nur 5% der Todkranken
religiöse Fragen ansprechen und auch nur 5% um religiösen Zuspruch
bitten. Sind andere Personen im Raum, schrumpft der Prozentsatz auf Null.
Allerdings fragen 46% der Todkranken nach dem Sinn ihrer Krankheit.
Elisabeth KÜBLER-Ross schildert zwar, dass Sterbende eine Phase des
Verhandelns durchmachen, in der sie meistens versuchen, mit Gott einen
Handel zu schließen. Diese Phase ist jedoch meist kurz, wird in der
Regel streng geheim gehalten oder höchstens dem Seelsorger angedeutet.
Gott scheint in unserer Zeit weniger "gefragt"
zu sein denn je. Dazu Hans SCHAEFER: "Wir sind eine glaubenslose Gesellschaft
geworden, jedenfalls, was die religiöse und sicherlich die kirchliche
Gläubigkeit anbelangt. Wir sind eine Gesellschaft geworden, in welcher
das Bewusstsein wachsender Gefährdung immer mehr Angst erzeugt und
immer weniger Hoffnung zulässt." Folgt man H. E. RICHTER (Der Gotteskomplex,
1979), dann hat sich der Mensch am Ende des Mittelalters, als er nicht
mehr sicher war, Gott zu haben, angeschickt, selbst Gott sein
zu wollen. "Nach Wegfall des göttlichen Schutzes wird das Selbstbewusstsein
des individuellen Ich zum Garanten eines modernen Sicherheitsgefühls."
Und weiter: "Die grandiose Selbstgewissheit des Ich ist an die Stelle der
Geborgenheit... getreten... das individuelle Ich wird zum Abbild Gottes."
Damit geht auch eine völlig veränderte Haltung gegenüber
dem Leiden einher. RICHTER nennt es das "Konzept der projektiven Leidensvernichtung".
Es
geht davon aus, dass Leiden grundsätzlich etwas von außen Zugefügtes
ist. Es stammt von Hexen, Asozialen, Extremisten, minderwertigen Rassen,
Parasiten oder Giften. Damit verbindet sich die Illusion: "Mit der Ausschaltung
der äußeren Verursacher wird das Leiden verschwinden. Die Leidensflucht
wird praktiziert, indem das Leiden durch Überspielen oder Abspaltung
verleugnet wird, mit Beschwichtigung durch Ersatzbefriedigungen, mit Verschleierung
durch Sozialtechnik. Der heutige Mensch übt sich darin, sein Leiden
zu verstecken, ein Phänomen, das besonders drastisch in den USA zu
beobachten ist. Ein extremer und grotesker Ausdruck dieser Haltung ist
die Unsitte, dass in Bestattungsinstituten Verstorbene durch Make-up zu
scheinbar nur schlummernden, blühenden Jugendlichen hergerichtet werden.
In einer phantastischen Illusion wird angenommen, dass man Leiden in Schach
halten kann, indem man es sich und anderen nicht mehr zeigt."
Mit der Verdrängung des Leidens,
mit
der Abschaffung Gottes, mit dem Bemühen des Menschen, "selbst Gott
sein" zu wollen (H. E. RICHTER), und einem verblendeten fortschrittssüchtigen
Starren auf alle Möglichkeiten der High-Tech-Medizin hat sich auch
das Verhältnis des Menschen zur Krankheit gewandelt. Gezüchtet
wird eine Atmosphäre der Ansprüche, die natürlich, weil
diese vielfach illusionär sind, zu bitteren Enttäuschungen führen
muss. Propagiert wird, dass der Mensch "ein Recht auf Gesundheit" hat.
Aber jeder weiß, "dass das Leben kein Amtsgericht ist, bei dem man
seinen Anspruch auf Gesundheit einklagen könnte" (W. STROH, Krankenhausseelsorger).
Diese Form der Leidensverdrängung gelingt natürlich nur oberflächlich
und ist im weiteren Sinne inhuman. Schon PASCAL erkannte: "Die Größe
des Menschen ist darin groß, dass er sich als elend erkennt. Der
Baum weiß nichts von seinem Elend."
Aber das Leiden lässt sich nur unter
die Oberfläche drücken, nicht jedoch durch selbsttäuscherische
Praktiken "vernichten". Für körperliche Leiden sind die Ärzte
da. Aber wohin mit den seelischen Problemen, den Leiden und Qualen, die
sich dem Auto-Analyser und den elektronischen Messfühlern entziehen?
Wenn schon nicht Gott, so doch vielleicht Ersatzgötter? Die Flucht
zu Psychologen, Psychotherapeuten, Psychiatern? Dass fast jeder in den
USA, der es sich leisten kann, seinen eigenen Psychiater hat, ist wahrscheinlich
nicht Ausdruck dessen, dass Amerikaner psychisch besonders anfällig
sind, sondern dass hier ein nach außen hin deutlicher "Adressatenwechsel"
stattgefunden hat.
Der Arzt als Gott?
Es liegt im Wesen der ärztlichen Tätigkeit,
dass sie auch den Keim zur Verführung enthält, sich als Arzt
gottähnlich zu erleben oder gottähnlich erlebt zu werden. Je
mehr technische Macht der Arzt heute besitzt, um so mehr läuft er
Gefahr, ohne sein Zutun in einer Art Flucht in eine gottähnliche Rolle
zu geraten. A. B. BRENT beschreibt dieses Phänomen in seinem Artikel
"Die Schwierigkeit, Gott zu spielen" ("The stress of playing god"): "Unsere
einmalige Rolle im Leben unserer Mitmenschen plaziert uns auf die meist
privilegierte Position innerhalb der sozialen Ordnung dieser Welt. Wir
retten Leben und helfen, Leben in die Welt zu bringen. Vor kurzem wurde
mein Leben durch einen Laien bei einem Unfall im Gebirge gerettet. Das
ganze Ereignis war nach wenigen Stunden vorüber - in etwa derselben
Zeit, die ich gebraucht hätte, um einen Patienten mit anaphylaktischem
Schock zu retten... Ich sah meinen Retter als Heroen - und ich fühlte
ihm gegenüber eine Dankbarkeit, die ich niemals zuvor irgend jemand
gegenüber gefühlt hatte. Ich hatte Angst, wie ich den richtigen
Weg finden könnte, für dieses gottähnliche Geschenk zu danken.
Ich erkannte, dass vielleicht viele andere in der gleichen Situation mit
mir gewesen sind. Nachdem ich nun auf beiden Seiten dieser Art von Dankbarkeit
gestanden hatte, gewann ich Einblick in mein eigenes Verhalten als Arzt.
Wie nimmt man den Dank eines Patienten an, dessen Leben man gerettet hat...?
Manche Ärzte werden mit dieser Belastung fertig, indem sie ein omnipotentes,
kontrollierendes und bestimmendes Verhalten ihren Patienten gegenüber
einnehmen. Diese gottähnliche Haltung bedingt, dass wir für unsere
gottähnlichen Taten gelobt und für unser nicht gottähnliches
Versagen gescholten werden. Es ist ein Abwehrmechanismus, der uns isoliert,
der verhindert, dass wirklich warmherzige und menschliche Interaktionen
zustande kommen . . . Wie können wir in unserem Beruf vermeiden, dass
wir ein derartiges Verhalten nicht annehmen, wenn wir tatsächlich
doch in der Lage sind, unglaubliche Hilfe zu leisten, Schmerz dramatisch
zu beseitigen und Leben zu retten - und dies alles als Teil unserer täglichen
Arbeit? Indem wir teilnehmen am Leben und Sterben unserer Patienten. Vielleicht
besteht der beste Weg, den Dank von Patienten, denen wir geholfen haben,
anzunehmen, indem wir ihnen danken, dass sie uns Gelegenheit gegeben haben
zu helfen. Dies könnte ihr größtes Geschenk an uns sein."
Der kranke Mensch auf der Suche
nach Gott
Der Blick hinter die Fassaden zeigt: Wahrscheinlich
sucht und braucht auch der Kranke in der heutigen Zeit - wie zu allen Zeiten
- Gott. Vielleicht ist heute Krankheit sogar eine der ganz wenigen Situationen,
in denen der Mensch es wagt, nach Gott zu fragen. Eine Quelle dieser
Gottessuche ist die Angst. Angst ist ein dominierendes Phänomen
der heutigen Zeit, die geradezu als "Zeitalter der Angst" bezeichnet werden
könnte.
In diesem Zeitalter der Angst wird Krankheit,
wenn der Mensch sie konkret erlebt, dass ihn der Körper irreparabel
im Stich lässt, dass das Leben unaufhaltsam zu Ende geht, zu einer
besonders tiefen Quelle der Ängste. Der Arzt, der sich Zeit nimmt
zuzuhören, stößt dann sehr wohl auf die uralten Fragen,
die hinter diesen Ängsten stehen. Was ist der Sinn des Lebens und
Leidens? Hilft beten? Existiert Gott? Gibt es das ewige Leben? Gibt es
Wunder?
Die Auseinandersetzung mit der Frage nach
dem Sinn, der Möglichkeit von Wundern, die Gedanken an ein Weiterleben
nach dem Tode können nicht mit vordergründigen Argumenten aus
der Kompetenz des Arztes ausgeklammert werden. Der Arzt muss sich diesen
Fragen stellen, gleichgültig, ob er selbst glaubt oder ungläubig
ist. Nicht etwa, weil er auch noch die Rolle des Priesters zu übernehmen
hat, sondern weil es im Wesen der ärztlichen Tätigkeit liegt,
"Seelsorger" des Patienten zu sein.
Fragen und Hoffnungen
Schwerkranke konfrontieren ihre Umgebung häufig
mit 2 Fragen, die mit Glauben oder Nichtglauben zusammenhängen:
Warum lässt (der liebe) Gott dieses Leid zu? Warum gerade ich?
Nirgendwo im Alten oder Neuen Testament
gibt es einen Hinweis darauf, dass Gott Krankheiten oder Böses in
dieser Welt "gewollt" hat. Die Evangelien zeichnen vielmehr ein Bild von
Jesus von Nazareth, das geprägt ist durch Auflehnung und Kampf gegen
die Krankheit. Nirgendwo im Neuen Testament erklärt Jesus einem Kranken
seine Krankheit als tiefere göttliche Weisheit oder belehrt er Kranke,
sie müssten ihr Leiden als Gottes Willen erdulden. Er hat im Gegenteil
die Kranken ermutigt, sich ihrer Krankheit zu erwehren. Er hat Krankheiten
nicht als Sache Gottes, sondern als etwas Widergöttliches dargestellt.
KÄUNICKE (1987, Seelsorger in einer
Tumorklinik) sagt zu der Frage: "Warum gerade ich?": "Obwohl mit Vorliebe
an den Pfarrer gestellt, ist diese Frage übrigens bei Licht betrachtet
keine theologische Frage, sondern eine allgemein anthropologische ... Ich
persönlich halte diese Frage nicht einmal für eine typisch religiöse
Frage. Es ist die ganz normale psychische Abwehrreaktion auf eine böse
Überraschung... Natürlich kann die ,Warum-ich-Frage' in allerlei
religiöse Gewänder schlüpfen, gleichsam religiöse Variationen
bilden, so z. B. in Form des uralten Schuld-Sühne-Glaubens. Sie lautet
dann: ,Womit habe ich das verdient?' Dahinter steht nicht selten die Vorstellung
von einem Rachegott, der den Menschen mit Krankheiten schlägt und
foltert. Dieses Bild vom krankmachenden Rachegott ist aber gerade durch
Jesus von Nazareth im Neuen Testament widerlegt worden. Dort wird deutlich
gemacht, dass Rache krank macht, Vergebung aber die Kräfte der Heilung
freisetzt." KÄUNICKE weist im übrigen darauf hin, dass sich die
geschilderte religiöse Variante der "Warum-gerade-ich-Frage" eigenartigerweise
besonders bei halbsäkularisierten Traditionschristen mit diffuser
allgemeiner Gläubigkeit an "einen allmächtigen Herrgott", der
nicht selten autoritäre Züge trägt, hält.
Die Frage "Warum gerade ich?" ist eine
erlaubte Frage, nur - Gott ist der falsche Adressat. Selbst Jesus von Nazareth
hat im Garten von Gethsemane mit Gott um sein Schicksal gehadert und ihn
angefleht, den Kelch an ihm vorübergehen zu lassen. Auf die Frage
"Warum gerade ich?" gibt es zunächst keine akzeptable Antwort,
und
darum ist es für den, an den diese Frage gerichtet wird, legitim,
eine Antwort darauf zu verweigern. Und es ist wichtig, klarzumachen, dass
es keine Gründe gibt, diese Frage an Gott zu richten und damit
in einen nutzlosen Hader zu geraten. Jesus hat einerseits das Leid mit
großer Kraft bestritten. Er hat für den Kranken plädiert
("Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden",
Matthäus 5, 4), andererseits hat er Leiden und Tod im Namen Gottes
akzeptiert ("Fürwahr, er trug unsere Krankheit und nahm auf sich unsere
Schmerzen", Jes. 53, 4).
In seinem Beitrag "Als Seelsorger in einer
Tumorklinik" schreibt KÄUNICKE: "Wenn ich dies Patienten so zuspreche,
dann spüre ich manchmal, wie die dogmatische Distanz zwischen Gott
und Mensch, zwischen Himmel und Erde wegschrumpft. Ja, zu einem Gott, der
weiß, wie einem zumute ist, wenn man um sein Leben kämpft und
doch den Tod fürchtet, kann auch ich wieder beten. Der ist nahe. Jener
angeblich allmächtige liebe Herrgott dagegen, der erstens nicht 'allmächtig',
zweitens nicht 'lieb' und drittens offenbar auch nicht der 'Herr' ist angesichts
des realen Leidens, der mag sich in seiner Allmacht wo auch immer um sich
selbst drehen. Der ist fern. Aber der Gott, den Jesus im Leben und Sterben
verkörperte, den er anflehen durfte in Gethsemane: 'Bitte nicht ich!'
... der weiß, wie das ist, wenn man mit seinem Leben ans Ende kommt,
der ist gerade dann hautnah an meiner Seite."
Aus diesem Beten und Glauben lassen sich
auch Hoffnungen schöpfen. Wenn ich glaube, dass der Tod "als
Ende nicht gilt", dass er nicht das letzte Wort hat, dass ich wieder dahin
gehe, wo ich hergekommen bin, dann ist Hoffnung wieder möglich. Das
"Siehe, ich mache alles neu" ist die tiefste Quelle aller Hoffnungen. Zu
dem Gestalten der Hoffnung des Todkranken und Sterbenden führt KÄUNICKE
aus: "Ohne Hoffnung kann man nicht leben - aber erst recht nicht sterben.
Solche Hoffnung kann freilich mancherlei Gestalt haben: Hoffnung, dass
meine Lieben es nun auch ohne mich schaffen; Hoffnung, in den Kindern weiterzuleben;
Hoffnung, die vor mir Gestorbenen wiederzusehen, Hoffnung, dass die Ärzte
durch meinen Fall eines Tages noch erfolgreicher therapieren; Hoffnung,
dass ich im Sterben nicht allein gelassen werde; Hoffnung, dass kein Tod
den Sinn meines Lebens zerstören kann; Hoffnung, nun zur Ruhe zu kommen,
und Hoffnung, für immer bei Gott zu sein."
Versuche und Wege
Meistens genügt es schon, einfach zuzuhören.
Vielleicht
will der Patient überhaupt nur die Möglichkeit bekommen, lange
verschüttete Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gott, nach einem
Leben nach dem Tode für einen anderen hörbar zu formulieren,
statt sich schamhaft in Schweigen zu hüllen.
Manchmal fragen Patienten, wenn alles nicht
mehr zu helfen scheint, ob wenigstens Beten hilft oder vielleicht
auch nur, dass jemand für sie betet. Ich antworte meinen Patienten,
dass ich persönlich von der Kraft des Gebetes überzeugt bin.
Ich sage ihnen aber auch, dass es heute wissenschaftliche Hinweise für
die Hilfe des Gebetes gibt. Der amerikanische Kardiologe Randy BIRD, ehemaliger
Professor an der University of California in San Francisco, ist dieser
Frage mit wissenschaftlichen Methoden (1985) nachgegangen. Er organisierte
in einer doppelblinden, randomisierten Studie für 192 Patienten der
Koronarstation des San Francisco General Hospitals Gebetsgruppen. Im ganzen
Land wurden Fürbitter (Protestanten, Katholiken und Juden) mobilisiert.
Ihnen wurden die Namen, die Diagnosen und der Gesundheitszustand der Patienten
mitgeteilt, für die sie beten sollten. Auf jeden Patienten der "Verumgruppe"
entfielen 5 - 7 allein oder in Gruppen Betende. Das Ergebnis der Studie
war verblüffend. Patienten, die sich in der Gruppe befanden, für
die gebetet wurde, benötigten signifikant seltener Antibiotika (3
gegenüber 16), erlitten seltener Lungenödeme (6 gegenüber
18) und mussten im Gegensatz zu 12 Patienten der Kontrollgruppe in keinem
einzigen Falle intubiert werden. BIRD, gleichzeitig medizinischer Direktor
der Fellowship For World Christians (FWC), zu dem Resultat: "Diese Studie
liefert den wissenschaftlichen Beweis für das, was Christen seit jeher
glauben - dass Gott sie erhört."
Zwei amerikanische Kardiologen, A. KENNEL
von der Mayo-Medical School in Rochester, und John E. MERRIMAN am Doctors
Medical Center in Tulsa, Oklahoma, sehen in den Ergebnissen der Studie
von BIRD nichts Erstaunliches. Beide beten regelmäßig für
ihre Patienten und haben, wie sie versichern, durchaus den Eindruck, dass
Beten hilft. Laut MERRIMAN schnitten Patienten, die in Gebete eingeschlossen
waren, besser ab als solche, für die niemand an Gott appelliert hatte.
Die Kraft für seine Gebete zieht MERRIMAN aus der Bibel: "Betet füreinander,
dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich
ist." (Jakobus, 5, 16). Für den Nichtgläubigen kann diese Studie
keinen Beweischarakter haben. Für den Gläubigen - ist
sie in ihrem Ergebnis letztlich selbstverständlich. Im Kern geht es
nicht darum, zu "beweisen", ob Beten hilft oder nicht. Außer Zweifel
steht jedoch, dass Beten ein hochwirksames Instrument der Hoffnung darstellt.
"Im Gebet spricht sich, natürlich
nicht immer und ausschließlich, so doch in der Mehrzahl der Fälle,
Hoffnung aus" (H. SCHAEFER). Hoffnung ist das stärkste Gegengewicht
zur Angst. Denn die Angst befürchtet die Veränderung, die Hoffnung
bejaht sie. Menschliche Existenz ohne Hoffnung ist wahrscheinlich nicht
möglich. GOETHE schrieb 1807 an REINHARDT: "Es scheint, dass die menschliche
Natur eine völlige Resignation nicht allzu lange ertragen kann." Und
in einem Brief an Frau von STEIN führt er aus: "Die Hoffnung ist bei
den Lebendigen, ohne Hoffnung sind die Toten." Bei NIETZSCHE findet sich
der Satz: "Die starke Hoffnung ist ein viel größeres Stimulanz
des Lebens als irgendein einzelnes, wirklich eintretendes Glück."
Gabriel MARCEL sagt, Hoffnung sei "wahrscheinlich der Stoff selbst, aus
dem unsere Seele gemacht ist". Zur Hoffnung ist im Prinzip jeder Mensch
fähig. Ob es ihm aber gelingt, die höchste Stufe der Hoffnung,
nämlich die auf das Jenseitige (Transzendente) gerichtete Hoffnung
zu erreichen, ist eine Frage seines Glaubens. H. SCHAEFER: "Hoffnung bricht
in der tiefsten menschlichen Verzweiflung aus der Gewissheit eines Heiles
aus der Welt der Transzendenz hervor. Wer den Glauben an die Macht des
Transzendenten verliert, der hat den tiefsten Quell der Hoffnung verloren.
Wer diesen Glauben zerstört, sät Hoffnungslosigkeit und zerstört
die Lebensfähigkeit des Menschen." Hoffnung ist nicht Sache des Habens,
sondern
des Seins (E. FROMM). Da es zu den wesentlichen Aufgaben des Arztes
gehört, die Hoffnung seines Patienten unter allen Umständen zu
erhalten, muss er, auch wenn er selbst nicht glaubt, seinem Patienten den
Glauben als Quelle der Hoffnung zugestehen. Dies gilt selbst dann,
wenn es sich - wie beispielsweise beim Todkranken - um letzte Formen der
Hoffnung, nämlich die Hoffnung wider alle Hoffnung (spes contra
spem), handelt.
Auf Wunder hoffen?
In verzweifelten Krankheitsphasen können
Gedanken an ein "Wunder" zum letzten Rettungsanker werden. Dieser Rettungsanker
kann nur halten, wenn der Glaube an das Wunder nicht zerstört
wird. Niemand hat daher das Recht, gleichgültig, wie er zu Wundern
steht, den Glauben eines anderen an Wunder zu erschüttern.
Das Neue Testament ist eine reiche Quelle
von Berichten über an Wunder grenzende Heilungen. Im Markus-Evangelium
findet sich der Bericht der Heilung eines epileptischen Jungen. Dem skeptischen
Vater antwortet Jesus: "Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt."
Der Vater des Kindes antwortete: "Ich glaube; hilf meinem Unglauben!" (Markus,
9, 23-24). Im Lukas-Evangelium wird von der Heilung des Blinden von Jericho
berichtet: "Jesus aber stand still und hieß ihn zu sich führen.
Da sie ihn aber nahezu hinbrachten, fragte er ihn und sprach, was willst
du das ich dir tun soll? Er sprach: Herr, dass ich wieder sehen möge.
Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und
alsbald ward er sehend" (Lukas 18, 40-42).
Dass sich durch rein psychische Einflüsse
körperliche Phänomene induzieren lassen, ist wissenschaftlich
lange belegt. Dies lässt sich beispielsweise durch Experimente in
Hypnose zeigen. Wird einem Menschen in Hypnose suggeriert, dass man seine
Hand mit einem glühenden Eisen berührt, in Wirklichkeit aber
nur einen Stab von Zimmertemperatur benutzt, so empfindet der Proband einen
heftigen Schmerz, und es entwickelt sich an der Berührungsstelle eine
tiefe Rötung, u.U. eine echte Brandblase (G. L. PAUL). Ein Reiz, der
physiologischerweise eine pathologische Reaktion nicht auslösen kann,
führt offensichtlich dann zu einer abnormen Hautreaktion, wenn die
Einbildungskraft der Versuchsperson als rein seelischer Faktor diesen Reiz
"verändert".
In Lourdes werden vom dortigen Bureau des
constatations alle sogenannten "wundersamen Heilungen" dokumentiert.
Derartige wundersame Heilungen unterscheiden sich von dem Brandblasenexperiment
in Hypnose sozusagen nur durch die Richtung ihres Ablaufs. Während
im Hypnoseexperiment pathologische Reaktionen induziert werden, werden
bei der Wunderheilung pathologische organische Befunde, nämlich Krankheiten,
durch psychische Einflüsse normalisiert. F. SCHLEYER hat 232 Fälle
von Wunderheilungen in Lourdes einer gründlichen Analyse zugeführt.
Es zeigte sich, dass die Mehrzahl der "Wunder" letztlich medizinisch doch
erklärbar war. Immerhin aber fanden sich unter den 232 Fällen
33 (14%), welche auch den strengen Anforderungen an die Kennzeichnung als
"unerklärbar nach üblichen medizinischen Gesichtspunkten" genügten.
Offenbar gibt es Heilungen, die nicht anders als durch seelische Einflüsse
zu erklären sind.
Auch das umgekehrte Phänomen ist belegt,
nämlich der rein seelisch bedingte Tod. Es gibt eine Reihe gut dokumentierte
Berichte über den sogenannten Voodoo-Tod bei Naturvölkern. Bekommt
beispielsweise ein Eingeborener Streit mit einem Medizinmann, so kann es
geschehen, dass dieser ihm prophezeit, er werde in Kürze zu einer
genau angegebenen Stunde sterben. Der Eingeborene zieht sich kurz vorher
in seine Sippe zurück und stirbt zum vorhergesagten Zeitpunkt. Über
den Mechanismus, der dieser Art von "psychogenem Tod" zugrunde liegt, ist
nichts Sicheres bekannt. Es wird diskutiert, dass eine überwältigende
Angst als primär psychische Ursache zum Tod führt (möglicherweise
über eine abnorme Sympathikusaktivierung mit Kammerflimmern).
Glaube und Hoffnung des wirklich Gläubigen
bedürfen natürlich nicht derartiger Phänomene als Beleg.
Für den Menschen in der Krise, der vielleicht wieder glauben möchte,
ohne es zu können, stellen sie jedoch möglicherweise argumentative
Hilfen dar.
Ewiges Leben?
Gedanken und Gespräche über letzte
Dinge münden häufig in die Frage ein: Was kommt nach dem Tod?
Gibt es ein Leben nach dem Tod? Gibt es ein ewiges Leben? Auch mit diesen
Fragen kann der Patient seinen Arzt konfrontieren. Antworten, die Philosophen
auf diese Fragen gegeben haben, reichen von "Wunschdenken", "Opium" oder
"Illusion" über das "große Vielleicht" von Ernst BLOCH bis zum
uneingeschränkten Ja der Theologie.
Wie intensiv die Frage nach einem ewigen
Leben die Menschen auch heute bewegt, kommt u.a. auch dadurch zum Ausdruck,
dass Bücher wie die des amerikanischen Psychiaters Raymond A. MOODY
"Life after Life" (Leben nach dem Tode) in den Weltbestsellerlisten ganz
oben rangieren.
Ewigkeitsglaube ist grundsätzlich
nicht
beweisbar, aber wie Hans KÜNG es formuliert, "doch zu bewahrheiten".
KÜNG hat in seinem faszinierenden Buch "Ewiges Leben?" das ganze Panorama
historischer, philosophischer, medizinischer und theologischer Aspekte
der Frage eines Lebens nach dem Tod entworfen. Die wichtigste Passage dieses
Buches lautet: "An ein ewiges Leben glauben heißt, mich in vernünftigem
Vertrauen, in aufgeklärtem Glauben, in geprüfter Hoffnung darauf
verlassen, dass ich einmal voll verstanden, von Schuld befreit und definitiv
angenommen sein werde und ohne Angst ich selber sein darf... Glaube ich
an ein ewiges Leben, dann ist mir immer wieder neu in meinem Leben und
im Leben der anderen Sinnstiftung möglich... Ewiges Leben: Dies meint
Befreiung ohne neue Versklavung. Mein Leiden, das Leiden der Menschen,
ist aufgehoben, der Tod des Todes ist eingetreten ...".
Auf der letzten Seite des Neuen Testaments,
am Ende der geheimen Offenbarung, findet sich, ausgedrückt in Sätzen
der Verheißung und der Hoffnung, die Vision dieser anderen, wirklich
neuen Welt: "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn
der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht
mehr... Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der
Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Schmerz wird mehr sein... Und
der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!"
Linus
Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage,
Frankfurt a. Main, 1992
©
Pharma Verlag Frankfurt
Autorisierte
Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de
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