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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Das Gespräch mit dem psychosomatisch Kranken
Der psychosomatisch Kranke
Der diagnostische Zugang
Das diagnostisch-therapeutische Gespräch
 
 
Mancher hat ein großes Feuer in seiner Seele,
und niemand kommt jemals, sich daran zu wärmen,
und die Vorübergehenden gewahren nur ein
klein wenig Rauch oben über dem Schornstein
- und sie gehen ihres Weges.
Vincent van Gogh
Das Gespräch mit dem psychosomatisch Kranken
Die Psychosomatik geht von der körperlich-seelischen Ganzheit des kranken Menschen aus. Sie berücksichtigt die Wechselwirkungen, die in der Einheit von Leib und Seele bestehen. Was die Seele als sinnvoll oder sinnlos erlebt, findet ihr Ausdrucksgeschehen im Leib (LUBAN-PLOZZA). Weitergefasst geht es in der Psychosomatik um ein Verständnis von Gesundheit und Krankheit, das vom Zusammenwirken somatischer, psychischer und sozialer Faktoren ausgeht (LIPOWSKI 1984).

Der Begriff psychosomatische Störung kann in einem engeren und einem weiteren Sinne verstanden werden. Im engeren Sinne sind Krankheiten mit nachweisbarer Organschädigung gemeint, von denen angenommen wird, dass psychische oder psychosoziale Faktoren eine ursächliche Rolle spielen (z. B. Colitis ulcerosa). Für diese Krankheiten ist auch der Begriff Psychosomatosen geprägt worden. Bei den funktionellen Störungen (z. B. Tachykardie) ist kein organischer Befund nachweisbar. Es sind die in der Praxis so häufigen - und gefürchteten - sogenannten Nullbefund-Kranken oder "o.B."-Patienten.

Natürlich spielen bei jeder Krankheit psychosoziale Faktoren eine Rolle: "Der Patient kann nicht nicht psychosozial reagieren". Charakteristisch für psychosomatische Störungen aber ist, dass ihnen Störungen der Emotionalität zugrunde liegen.

Die Erkenntnis, dass bestimmte Krankheiten durch Psychotherapie positiv beeinflusst werden können, ist nicht neu. So galt ANTIPHON von Athen (480 -411. v. Chr.) als Erfinder einer "Tröstungskunst". Wie PAUL WATZLAWICK ausführt, ließ ANTIPHON den Kranken zuerst von seinem Leiden sprechen und half ihm dann mit einer Form von Rhetorik, die sich eben diese Äußerungen des Kranken, ihrer Form wie ihrem Inhalt nach, nutzbar machte und die so in ganz modernem Sinne im Dienste der Umdeutung dessen stand, was der Kranke für "wirklich" oder "wahr" hielt - also der Änderung des Weltbildes an dem er litt. ANTIPHON, der später ein Haus neben der Agora in Korinth hatte, brachte dort ein Schild an, auf dem sinngemäß stand: "Ich kann Kranke durch Worte heilen."

Der Begriff "Psychotherapie" taucht zum ersten Mal im Jahre 1872 in dem Buch "Illustrations of the influence of the mind upon the body" des Engländers DANIEL HACK TUKE auf. Die Grundlagen zur psychosomatischen Theorie schuf SIGMUND FREUD. VICTOR VON WEIZSÄCKER prägte1930 den Begriff der sozialen Krankheit. Er führte das Subjekt in die Medizin ein. Zu den großen Wegbereitern der Psychosomatik zählt THURE VON UEXKÜLL mit seinen Mitarbeitern, der immer wieder vor der Gefahr warnte, dass sich eine "Medizin für Seelen ohne Körper" neben einer "Medizin für Körper ohne Seelen" entwickeln könnte.

Psychosomatische Störungen stellen eine der größten Anforderungen für den Arzt dar. Das verstehende Gespräch zwischen Arzt und Patient ist die Grundlage für die Aufdeckung und Behandlung psychosomatischer Krankheiten. Fast die Hälfte der Patienten in der Praxis haben (auch) psychosomatische Störungen (K. HÖHLE 1988). Auch unter Klinikpatienten sind psychosomatische Störungen häufiger als angenommen. Nach Angaben von PETER HAHN (1988) betrug beispielsweise die Zahl der psychosomatisch Betroffenen an der medizinischen Hochschule in Hannover im Bereich der inneren Medizin 49,2%, in der Chirurgie 38%, in der Orthopädie 35%. Bis zu 30% der Patienten weisen schwerwiegende soziale Ängste auf.



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Der psychosomatisch Kranke
Psychosomatische Krankheit ist ein Geschehen zwischen Emotion und Körper. Ein Wesenszug des psychosomatisch Kranken aber ist seine Unfähigkeit, erlebte Gefühle auszudrücken ("emotionaler Analphabet"). Dieses Unvermögen, Gefühle hinreichend wahrzunehmen und zu beschreiben, ist von dem Amerikaner SIFNOES und seinen Mitarbeitern mit dem Begriff "Alexithymie", belegt worden (von: A = Verneinung; Lexis-Lego = Sprechen; Thymos = Gemüt). Diese eingeschränkte Wahrnehmung von Gefühlen und die Unfähigkeit, sie zu beschreiben, wird dem psychosomatischen Patienten häufig zum Verhängnis. Das sich aus dem Konflikt entwickelnde "somatische Entgegenkommen" (S. FREUD) wird zum Vorzeigesymptom, sozusagen zur "Eintrittskarte" für die ärztliche Betreuung. Ihr mechanistisches, konkretisierendes Denken und die Einschränkung der Phantasiefähigkeit bewirkt, dass diese Patienten durch Störungen ihrer Emotionalität ganz überwiegend nur körperliche Sensationen und Missempfindungen äußern können. Im Gespräch mit psychodynamischer Zielsetzung sind sie unfähig sich mitzuteilen. Ihr gelegentlich hölzernes "Gliederpuppenhaftes" hat in Anlehnung an die Gliederpuppe in Carlo Collodis Märchen "Pinocchio" auch zu dem Begriff "Pinocchio-Syndrom" geführt.

Da der psychosomatisch Kranke in erster Linie körperliche Symptome schildert und weder über seine Wahrnehmung noch über das Gespräch Zugang zu seiner Emotionalität findet bzw. zulässt, ist für Diagnostik und Therapie häufig die "somatische Schiene" mit großer Hartnäckigkeit vorprogrammiert, die dann zu dem Ergebnis "o.B. -"Patient führt. Das Urteil "Normalbefund" oder "o.B." wird als Kränkung erlebt und löst Scham und Ängste aus. Die Folge ist eine Verschlechterung des Arzt-Patienten-Verhältnisses, die sehr häufig - bis zu 10mal und mehr - zum Arztwechsel führt. Der Patient sagt dann typischerweise immer wieder: "Herr Doktor, mir kann ja keiner helfen ..." Dies löst beim Arzt Hilflosigkeit aus und den Wunsch nach "Delegation" in den sogenannten "Psycho"-Bereich oder zumindest zur Kur mit dem unausgesprochenen Wunsch, zumindest für eine Zeit Ruhe von diesem Patienten zu haben.



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Der diagnostische Zugang
Der psychosomatisch Kranke spricht nicht von Problemen oder Konflikten. Im Gegenteil: zu früh darauf angesprochen, entwickelt er starke Abwehrreaktionen. Die (voreilige) psychosomatische Diagnose wird als "Kampfansage" (G. RUDOLF, 1988) aufgefasst, die rasch zur Problematisierung der Arzt-Patienten-Beziehung und schließlich zum Arztwechsel führt. Häufig hat der Patient eine Theorie "der Entstehung seiner Krankheit" parat. Die Schilderung der körperlichen Symptome kann sehr vage sein: "Alles tut weh .. ." oder "Bei mir stimmt die ganze linke Seite nicht ...". Oft ist aber gerade die Klaglosigkeit ein typisches Merkmal des psychosomatisch Kranken (MICHAEL VON RAD,1988): "Es sind nur die Durchfälle, Herr Doktor, sonst habe ich überhaupt keine Probleme ..." Immer wenn sich - meist indirekt - Hinweise auf Angst ergeben, muss der Arzt hellhörig werden. Die Angst wird häufig zum diagnostischen Leitfaden beim psychosomatisch Kranken ("Wo die Angst ist, geht's lang"). Aber häufig hat der Arzt gerade beim Angstpatienten selber Angst, die somatische Ebene zu verlassen.

Psychosomatisch Kranke reagieren häufig weit intensiver auf körpereigene Vorgänge und Reize als der Gesunde. Sie spüren beispielsweise jeden Herzschlag. Typisch sind zum Beispiel Panikattacken mit "Herzrasen wie aus heiterem Himmel". Gleichzeitige EKG-Registrierungen zeigen jedoch meist, dass die Herz-Frequenz nur um 10 bis 15 Schläge pro Minute erhöht ist. Die typische Schilderung läuft häufig so ab, dass zunächst nur die körperliche Missempfindung ("Herzrasen") gespürt wird. Darüber spricht der Patient offen und immer wieder. Zögernder ist er bei der Schilderung, dass durch das körperliche Symptom Gedanken der Gefährdung ausgelöst wurden, gefolgt von massiver Angst (Lebensangst). Die Angst muss vorsichtig angesprochen werden: "Was war ganz am Anfang des Anfalls: das Herzrasen? Haben sich dann - was zu verstehen wäre - auch Angstgefühle bei Ihnen eingestellt?"

Gerade beim psychosomatisch Kranken ist aktives Zuhören mit umfassender Wahrnehmung sprachlicher Details und ihrer möglichen Bedeutung das entscheidende diagnostische Vorgehen. Das Spiegeln soll, was die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte anbetrifft, zunächst äußerst vorsichtig (Technik der schwebenden Fragen) erfolgen. Im Gespräch ist es wichtig, mehr im Auge zu haben, was dem Patienten fehlt und ihn verwirrt, als was er "hat".

Wichtige Fragen sind u.a. "Wie ist es am Wochenende bzw. im Urlaub?", "Was geschah unmittelbar vorher?". Bei unklaren Schilderungen empfiehlt es sich, in der Manier guter Detektive mit Geduld die Geschichte wiederholen zu lassen (LUBAN-PLOZZA). Die Exploration des psychosomatisch Kranken erfordert Geduld. Sie sollte den Arzt an jenen Indianer erinnern, der zum ersten Mal in einem Auto mitfuhr und bereits nach einem Kilometer anhalten ließ. "Warum?", fragte der Fahrer. "Meine Seele ist noch nicht nachgekommen?", entgegnete der Indianer. Wegen des "emotionalen Analphabetentums" sind intensives Einfühlen, gutes Beobachten, Hören mit "vier Ohren" und Geduld unerlässlich.



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Das diagnostisch-therapeutische Gespräch
Wie kaum bei anderen Patienten zeigt sich beim psychosomatisch Kranken, dass das verstehende Gespräch eine intensive Verflechtung von Diagnostik und Therapie in einem ist. Die psychosomatische Diagnose sollte möglichst positiv, das heißt nicht nur per Ausschluss, gestellt werden. Sie muss sich letztlich auf psychologische Befunde stützen, die die Entstehung einer körperlichen Störung als Ausdruck eines ungelösten Konflikts verständlich machen (MICHAEL VON RAD,1988). Dies gelingt nur, wenn die Persönlichkeit des Patienten, seine Lebensgeschichte und seine aktuellen Lebensbezüge berücksichtigt werden. Bedeutung hat also nicht nur die Krankengeschichte, sondern vorrangig die Lebensgeschichte des Patienten. LUBAN-PLOZZA schildert den psychosomatisch Kranken als verletzten Menschen, dessen Notverband vorsichtig gelöst werden muss, weil in ihm große Angst vor den dabei entstehenden Schmerzen besteht.

Weil es um die Aufdeckung und das Verständlichmachen des Geschehens zwischen Emotion (Seele) und Körper geht, muss die Seele - mit großer Vorsicht - allmählich in das Gespräch eingebracht werden. Hier sind "Timing" als auch "Dosis" wichtig, da sonst rasch starke Abwehrhaltungen resultieren (K. BOSSE, 1988). Jede Äußerung des Patienten muss ernst und wichtig genommen werden. Bei Organbezügen ist es bedeutsam, sich klar zu machen, dass Organe neben ihren anatomisch-physiologischen auch einen symbolischen Wert besitzen (sogenannte "psychologische, phantastische Anatomie"). Da viele psychosomatisch Kranke eine extreme Abhängigkeit von wichtigen Schlüsselfiguren in ihrem Leben haben, ist die Beleuchtung dieser Personen wichtig, was HÖHLE so ausdrückt:

"Was früher die Mutter übelnahm, nimmt jetzt das Herz krumm." Derartige mögliche Zusammenhänge müssen mit Geduld erarbeitet, sie dürfen aber nicht herbeigeredet werden.

Die Aufmerksamkeit muss auch den meist untauglichen Versuchen des Patienten gelten, sich emotional abzuschirmen. So nehmen ein Drittel der psychosomatischen Patienten Tranquilizer, ein Viertel Laxantien, ein Fünftel Schlafmittel (LUBAN-PLOZZA). Die behutsame Frage nach anderen Auswegen, die der Patient bisher gesucht hat (Naturheilkundler, Parapsychologen, Heilpraktiker, Wunderärzte) kann weiterführen.

Da der psychosomatisch Kranke in der Regel das körperliche Symptom als "Eintrittskarte" für seinen Arzt benutzt, ist der somatische Zugang am Anfang am zweckmäßigsten. Die gründliche körperliche Untersuchung - meist ist sie ja schon mehrfach erfolgt - ist Voraussetzung für das schrittweise Sich-Herantasten an die zugrunde liegende emotionale Störung. Beim psychosomatisch Kranken soll der Arzt als Therapeut sich so verhalten, wie es der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Stammwortes entspricht: Diener, Gefährte, Begleiter.

Arzt sein heißt verstehen und ermöglichen. Dem Arzt fällt nicht, wie VICTOR VON WEIZSÄCKER es sagt, die Rolle des Führers, Deuters, Weisen oder Bewirkers zu, sondern die "des Ermöglichers, der nicht über der Entscheidung, sondern mit dem Kranken in der Entscheidung steht." Er soll, wie es im Französischen heißt, ein pére maternel (eine mütterliche Vaterfigur) sein. Es geht nicht darum, dem Patienten Ratschläge zu erteilen, die sich oft als Rat-Schläge erweisen. Was er braucht, ist ein verstehendes Annehmen und eine klärende Begleitung statt Interpretation und Deutung. Diese "supportive Psychotherapie" ist Domäne des Hausarztes. Sie setzt eine dauerhafte und verlässliche Verfügbarkeit voraus, die konkret im Grunde nur der Hausarzt gewährleisten kann. Der Arzt muss dabei als Übersetzer wirken: Er muss versuchen, die "stumme Körperklage" (MICHAEL VON RAD) in eine Sprache zu übersetzen, die von der Körperfixierung weghilft.

Ziel des Gesprächs mit dem psychosomatischen Kranken sind also nicht konkrete Ratschläge. Die Erkenntnisse muss der Patient selbst erarbeiten. Der Arzt ist auch nicht dazu da, um Konflikte zu lösen, sondern dem Patienten zu helfen, seine Konflikte zu erkennen und zu ertragen. Dabei ist weder eine "missionarische" noch eine "apostolische" (M. BALINT) Haltung tauglich. Erst wenn all dies in zahlreichen Gesprächen geschehen ist, kann der Arzt prüfen, ob sein Patient reif ist zur "Probedeutung" (LUBAN-PLOZZA).

In solchen diagnostisch-therapeutischen Gesprächen kann es dem Arzt schließlich gelingen, durch eine empathische Haltung, emotionale Wärme, aktives Zuhören und vorsichtiges Verbalisieren von Gefühlen im Sinne von C. ROGERS zu bewirken, dass aus dem emotional weitgehend stummen psychosomatisch Kranken ein Mensch wird, der durch die Sprache seines Körpers lernt, mit seiner gestörten Emotionalität zu leben, als sei er schließlich zum eigenen Arzt geworden.

Wann soll der praktische Arzt den psychosomatisch Kranken schließlich doch, z.B. zum niedergelassenen Psychotherapeuten, an die Ehe- und Familienberatungsstelle, den kinderpsychologischen Dienst oder die psychosomatische Abteilung überweisen? G. RUDOLF (1988) gibt den einfachen Rat: "Wenn er die Fragen seiner Patienten nicht mehr beantworten kann."
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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