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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Die Anamnese
Grundlagen
Die zweipersonale Situation
 
Ein "gutes" Interview beinhaltet immer
auch ein Stück Therapie.  
Rolf Adler
Die Anamnese
Da die Anamnese meistens am Gesprächsanfang steht, wird sie hier abgehandelt. In ihrer Monographie "Praxis und Theorie der Anamnese" bezeichnen Rolf ADLER und Willi HEMMELER die Anamneseerhebung als die "unmögliche" Aufgabe. Dies geschieht in Anlehnung an den Aufsatz von R.R. GREENSON "The Impossible Profession" für Psychoanalytiker, in dem er ausführt, dass die Eigenschaften, sich einerseits in den Patienten zu versetzen und seine Gefühle mitzuempfinden und sich andererseits zu präzisem, logischem Denken zurückzuziehen, diametral entgegengesetzt und schwer zu vereinigen sind.

Im Folgenden geht es nicht um das äußere Schema der anamnestischen Erhebung mit Gliederung in jetzige Anamnese, frühere Anamnese, Familienanamnese usw., die jedem Arzt geläufig ist. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, ein inneres Schema der Anamneseerhebung zu entwerfen, das eine möglichst ganzheitliche Erfassung des Patienten erlaubt und in etwa dem "bio-psycho-sozialen Konzept" entspricht, wie es von ADLER und HEMMELER konzipiert wurde.

ADLER und HEMMELER haben die grundsätzlichen Schwierigkeiten einer umfassenden Anamneseerhebung, die Daten der individuellen Wirklichkeit des Patienten wiedergeben soll, folgendermaßen beschrieben: "Während der Erhebung der Anamnese muss er (Arzt) sich Daten zuwenden, die er in Zusammenhang mit anatomischen, pathophysiologischen und biochemischen Vorstellungen bringen soll. Diesen Rahmen hat er sich durch logisches Denken im Studium erarbeitet. Andererseits muss er sich Daten widmen, die menschliches Verhalten betreffen, ... und verbalen Äußerungen, die er nicht nur nach dem Wortlaut aufnehmen darf, sondern nach verdeckten und verborgenen Bedeutungen erfassen sollte. Die Eigenschaften liegen diametral auseinander, einerseits logisch, abstrakt und distanziert zu denken und andererseits mitzufühlen, sich mit dem Patienten zu identifizieren und das Gesagte in Szenen und ganze Bilder zu übersetzen. Ihre Integration in einem einzelnen Menschen und während eines Arbeitsganges ist eine schwere Aufgabe, die nie endgültig gelöst ist und die sich bei jeder einzelnen Anamneseerhebung von neuem stellt."

Das Konzept der Autoren umfasst 10 Interviewschritte:
1. Vorstellen, Begrüßen >
2. Schaffen einer günstigen Situation  >
3. Landkarte der Beschwerden  >
4. jetziges Leiden  >
a) zeitliches Auftreten  >
b) Qualität >
c) Intensität >
d) Lokalisation und Ausstrahlung >
e) Begleitzeichen >
f) intensivierende/lindernde Faktoren >
g) Umstände >
vorläufige Diagnose
5. persönliche Anamnese >
6. Familienanamnese >
7. psychische Entwicklung >
8. Soziales des Patienten >
9. Systemanamnese >
10. Fragen und Pläne >
Gesamtbild des Patienten
In vielen Fällen erlauben die Interviewschritte 1-4 bereits eine vorläufige Diagnose. Die Schritte 5-8 sollen ein Gesamtbild des Patienten wiedergeben. Das Ziel der umfassenden Anamneseerhebung ist es nicht nur, Daten zu sammeln, die eine Diagnose ermöglichen, sondern die individuelle Wirklichkeit des Patienten zu erfassen. Jedes "Schema" ist nur eine Leitlinie. Je unerfahrener der Interviewer ist, um so günstiger ist es, sich möglichst konsequent an vorgegebene Schritte zu halten. Der erfahrene Arzt kann es sich eher leisten, vom Schema abzuweichen.



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Grundlagen
Unter Anamneseerhebung wird hier mehr verstanden als eine Gesprächstechnik, die es dem Arzt erlaubt, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Informationen über den Kranken zu gewinnen, um so möglichst rasch zur Diagnose einer (körperlichen) Erkrankung zu kommen.

Zweifelsohne gibt es im klinischen Alltag viele Situationen, für die diese Form der Anamneseerhebung ausreicht. Der ärztliche Blick reduziert sich im wesentlichen auf das Körperliche des Patienten. Sein Körper wird zum "Untersuchungsobjekt". Es besteht, wie J. RICKMAN es nennt, eine einpersonale Situation. Dieser Explorationsstil wird häufig durch das verständliche Bedürfnis fast jedes Arztes nach größtmöglicher Arbeitsökonomie bestimmt.

Sie muss ihre Grenzen jedoch dort finden, wo die psychosoziale Situation des Kranken dies fordert. Ob und inwieweit diese Notwendigkeit besteht, ist häufig erst durch das ärztliche Gespräch selbst erfahrbar. Ärztliches Gespräch in diesem Sinne ist in erster Linie "verstehendes Gespräch" (F. MEERWEIN). Diese Gesprächsform zielt darauf ab, einen zusätzlichen, über das Körperliche hinausgehenden Blick auf den Kranken und seine mögliche "Konfliktlage" zu erhalten.

Immer dann, wenn die Notwendigkeit besteht, im ärztlichen Gespräch mehr zu erreichen als eine Symptomanalyse, die eine somatische Diagnose erlaubt, ist die Beschränkung auf eine reine Anamneseerhebung nicht mehr ausreichend. Bei der hier gemeinten Befragungsform, die auch die Lebensgeschichte des Patienten und seine Innenbefindlichkeiten mit einschließt, handelt es sich um ein strukturiertes Interview. Seine Zielsetzungen sind:

  • der Gewinn von Informationen, um positive Reaktionen auszulösen, wobei dies gebunden ist an
  • die Erfassung der individuellen Wirklichkeit des Patienten und ihrer Entstehungsgeschichte.
Der Kranke tritt seinem Arzt mit einem Krankheitsangebot entgegen. Dieser von BALINT geprägte Begriff besagt, dass in den körperlichen Krankheitssymptomen und der Art und Weise, wie sie vorgebracht werden, ein Anliegen des Kranken zur Mitteilung kommen kann. Dieser Vorgang ist jedoch ambivalent, weil sich im Symptom ein Anliegen mitteilt, aber gleichzeitig auch verhüllt wird, das heißt nicht zur Sprache kommt. Es ist Aufgabe des Arztes, dieses Angebot so, wie es vorgebracht wird, anzunehmen, sich aber gleichzeitig zu bemühen, durch die Umhüllung hindurchzusehen und so die sprachliche Formulierung des Anliegens zu ermöglichen. VON WEIZSÄCKER hat diese vom Arzt zu fordernde Haltung die Haltung des "ja, aber nicht so" genannt.

Die erweiterte Anamnese in Form des strukturierten Interviews soll keine Anregung darstellen, sich als Nichtfacharzt psychotherapeutisch zu betätigen. Zu Recht weisen BELLAK und SMALL darauf hin, dass die sogenannte "kleine Psychotherapie" oft schwieriger als die "große" ist und keineswegs unverbindlicher. Das strukturierte Interview ist auch nicht als Gesprächsform zu verstehen, die mit den zeitlichen Ressourcen des Arztes im klinischen Alltag kollidiert. Sie fordert, wie BALLY es ausdrückt, den Arzt nicht in erster Linie dazu auf, "dem Kranken mehr Zeit zu widmen, aber dem Kranken so zuzuhören, dass schließlich Zeit gespart wird". Dies gelingt am besten durch aktives, verstehendes Zuhören in Verbindung mit sparsamer, gezielter Intervention.



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Die zweipersonale Situation
Auch in der einpersonalen Situation redet der Arzt mit dem Patienten. Dieses "Reden" dient aber dort vor allem der gegenseitigen Information über Sachverhalte, die zur Orientierung in der ärztlichen Sachwelt führen sollen (F. MEERWEIN). In der zweipersonalen Situation besteht das Gesprächsziel darin, die Beziehung zwischen Arzt und Patient zum therapeutischen Instrument zu entwickeln. Arzt und Patient bewegen sich dann im Gespräch nicht mehr emotional in einer Art Niemandsland, sondern befinden sich in einem psychischen Feld. Dieses psychische Feld hängt von bestimmten Voraussetzungen ab, die bei der Einrichtung des Sprechzimmers beginnen und bis zur Fähigkeit des Arztes reichen, dem Patienten emotionale Wärme entgegenzubringen. Auch die Einstellung des Kranken zu der des Arztes geht mit ein. Das heißt, das psychische Feld wird durch die Persönlichkeiten des Arztes und des Kranken sowie durch deren Zielsetzung bestimmt. Jede zweipersonale Gesprächssituation ist nur in einem derartigen psychischen Feld möglich.

Ein erfolgreiches ärztliches Gespräch kann sich nur entwickeln, wenn dieses psychische Feld zwischen Arzt und Patient für beide Seiten günstig erscheint. Entwickeln sich tiefgreifende Störungen - weil der Arzt zum Beispiel nicht in der Lage ist, emotionale Wärme entgegenzubringen oder sich empathisch zu verhalten -, ist der Erfolg des Gesprächs in hohem Maße in Frage gestellt. Im übrigen hat es sich gezeigt, dass es für diese Wärme und das wirkliche Verstehen des Arztes keinen wirklichen Ersatz gibt. Die meisten Patienten erfassen intuitiv, dass eine in dieser Situation entgegengebrachte "aufgesetzte Freundlichkeit" eine Maske darstellt. Derartige Störungen in der Arzt-Patienten-Beziehung lassen sich auch nicht verbal korrigieren, allenfalls übertünchen.
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
© Pharma Verlag Frankfurt 

Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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