Am besten
überzeugt man andere mit den
|
Ohren - indem man ihnen
zuhört. |
Dean Rusk
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Aktives Zuhören
Michael ENDE beschreibt in seinem Buch "Momo" ein kleines
Mädchen mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit:
"Was die kleine Momo konnte
wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes,
wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder.
Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören
können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören
verstand, war es ganz und gar einmalig.
Momo konnte so zuhören, dass dummen
Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie
etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein,
sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit
und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen,
dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal
Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.
Sie konnte so zuhören, dass rastlose
oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten.
Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten.
Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh
wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos
und er selbst nur irgend einer unter Millionen, einer, auf den es überhaupt
nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter
Topf - und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann
wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar,
dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter
allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere
Weise für die Welt wichtig war.
So konnte Momo zuhören!
Aktives, geschultes Zuhören ist die wichtigste
ärztliche Fähigkeit im Gespräch mit dem Patienten. Aktives
Zuhören fällt schwerer als Sprechen, daher ist Zuhören auch
der schwierigste Part im Gespräch. Ein wesentliches Merkmal des guten
Arztes ist ein guter Zuhörstil.
Aktives Zuhören bedeutet "aufnahmebereite Zuwendung"
(DAHMER und DAHMER). Es bedeutet nicht nur, das Gesprochene zu erfassen,
sondern auch ein Ohr zu entwickeln für die Hintergründe, das
Unausgesprochene und die Zwischentöne. Im Englischen wird aktives
Zuhören auch als "attending behaviour" bezeichnet.
Aktives Zuhören ist an 4 Voraussetzungen
gebunden:
-
Interesse
-
Bereitschaft, zuzuhören
-
Fähigkeit, zuzuhören
-
Völlig präsent sein
Wichtig ist ferner, dass mein Gegenüber auch merkt
oder zumindest das Gefühl hat, dass ich ihm tatsächlich zuhöre.
Daher sollte die aufnahmebereite Zuwendung signalisiert werden.
Dies kann geschehen durch averbale Zeichen (Blickkontakt, Körperhaltung,
Ausdrucksbewegung) oder durch verbale Elemente im Sinne der Verstärkung
oder durch ergänzende bzw. klärende Aussagen und Fragen. Aktives
Zuhören bedeutet daher: Zugewandtsein, Interesse signalisieren, die
Botschaft aufnehmen und die Botschaft annehmen.
Aktives Zuhören ist ein aktiver Bestandteil
des Gesprächs und unverzichtbar. Es ist das komplementäre Element
zum Sprechen. Beide Einzelelemente sind Fragmente, die für sich allein
kein Gespräch ausmachen. Erst die Verflechtung von Sprechen und aktivem
Zuhören bildet das eigentliche Gespräch.
Jede Dialogentwicklung ist an ein unbehindertes Wechselspiel
zwischen Sprechen und Zuhören gebunden. Unterbrechen ist die
extreme Umkehrung des Zuhörens, ein Gesprächzerstörer ersten
Ranges und die verletzendste Form des Nichtzuhörens. Zuhören
ist eine aktive Form des Schweigens: Sie ist wortloser Ausdruck von "Ich
habe verstanden, ich kann mir vorstellen, was du sagen willst." Manchmal
ist Schweigen in Form des aktiven Zuhörens die einzig angemessene
Gesprächsform.
Zuhören muss unmissverständlich sein und
darf beim Gesprächspartner nicht den Eindruck von Teilnahmslosigkeit
oder Desinteresse erwecken. Diese Verwechslung ist leicht möglich,
da dem Patienten nicht häufig das Erlebnis des aktiven Zuhörens
zuteil wird.
Ein Beispiel dafür, wie wenig der Glaube an
das aktive Zuhören bei Ärzten verbreitet ist, stammt von Günter
F. GROSS: "Ich sagte neulich im Kreise einiger Ärzte: "Mein Arzt ist
ein hervorragender Zuhörer, ich habe ihm kürzlich fünf Minuten
etwas berichtet. Er hat mich dabei nicht einmal unterbrochen.’ Die anwesenden
Ärzte sahen sich an und wurden immer fröhlicher. Einer von ihnen
sagte: ,Wir können uns das alles sehr gut vorstellen. Sie haben dem
Kollegen endlich einmal Gelegenheit gegeben, völlig abzuschalten,
sich zu entspannen und über seine eigenen Probleme in Ruhe nachzudenken!’
Ich frage mich immer noch, stimmt das wirklich?"
Vielleicht ist dieses Phänomen dafür verantwortlich,
dass es "Sprechstunde" und "Sprechzimmer" heißt und die Begriffe
"Zuhörstunde" und "Zuhörzimmer" ungebräuchlich sind.
Was bewirkt das aktive Zuhören, das auch "kontrolliertes
Zuhören" (WEISBACH und Mitarbeiter) genannt wird, bei meinem Gesprächspartner?
Es löst eine Reihe positiver Phänomene aus: Mein Gegenüber
fühlt sich als Persönlichkeit mit seinem Problem angenommen.
Der Gesprächspartner wird gelöster und reagiert weniger emotional.
Er kann sich auf das Wesentliche besser konzentrieren. Er braucht weniger
Zeit, um sich klar auszudrücken, und hat das sichere Gefühl,
dass sein Gegenüber "anwesend" ist und sich auf ihn einstellt.
Abb.: Verstehen ist das Resultat
aus dem Zusammenwirken von Sprechen, Zuhören, Ausdrücken und
Sehen.
Fehler beim Zuhören haben für den
Patienten weitreichende Folgen:
-
Der Patient darf nicht aussprechen und sich nicht aussprechen.
-
Der Patient kann seine Gefühle nicht äußern.
-
Der Patient fühlt sich nicht ernst genommen.
Weil es grundlegend wichtig ist, muss noch einmal betont
werden: Zuhören ist schwieriger als Sprechen. Es erfordert Geduld,
Konzentration, Disziplin, analytisches Denken und ein Gespür für
Zwischentöne. Einer intensiven inneren Anspannung steht keine wesentliche
äußere Aktivität gegenüber. Aktives, analytisches
und differenzierendes Zuhören ist die höchste Stufe aufnahmebereiter
Zuwendung.
Technik des "Spiegelns"
Die Technik des Spiegelns, im folgenden kurz "Spiegeln"
genannt, ist als komplementäres Verhalten zum aktiven Hören und
als dessen entscheidende Ergänzung eine der wichtigsten Gesprächstechniken.
Aktives Zuhören und Spiegeln sind die beiden auf das engste miteinander
verwobenen und ergiebigsten Elemente jeder Gesprächsführung.
Als Väter der spiegelnden Methode gelten CARL
ROGERS und REINHARD TAUSCH. Allerdings findet sich schon bei SIGMUND FREUD:
"Der Arzt ... soll wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was
ihm gezeigt wird."
Das Prinzip des Spiegelns beruht darauf, dass der
Arzt dem Patienten gegenüber wiedergibt, was er gehört und verstanden
hat bzw. glaubt verstanden zu haben. Dieses Zurückspiegeln folgt in
einer emphatischen Grundhaltung und mit emotionaler Wärme (siehe Kapitel
Empathie ).
Zunächst ein Beispiel:
Patientin: "Langsam habe ich keine Lust mehr. Jeden
Abend kommt er so spät nach Hause. Ich sehe meinen Mann überhaupt
nur noch müde. Reden tut er dann überhaupt nichts. Die Stimmung
ist dann entsprechend. Manchmal weine ich am nächsten Morgen, das
hilft dann ein bisschen. Dann bin ich wie leer. Was kann man nur machen,
dass sich da was ändert?"
Spiegelnde Erklärung des Arztes:
"Ihre Ehe kommt Ihnen zur Zeit hohl und ohne Sinn
vor. Sie fühlen sich verzweifelt und wissen nicht, wie Sie reagieren
sollen?"
Dieses Beispiel zeigt, dass der Arzt mit der spiegelnden
Methode versucht hat, die augenblickliche innere Erlebniswelt und die Gefühle
seiner Patientin in seinen eigenen Worten so widerzuspiegeln, dass sie
sich angenommen und verstanden fühlt.
Beim Spiegeln geht es einmal darum, in Worte zu fassen,
was der Gesprächspartner nicht richtig ausdrücken kann. Dies
fördert zunächst das Gefühl des Verstanden- und Angenommenwerdens.
Der wesentliche Effekt liegt aber darin, dass das Spiegeln dem Patienten
dazu verhilft, mehr Klarheit über seine eigene Erlebniswelt;
seine Gefühle, Affekte, Einstellungen, Haltungen, Wünsche
und Ziele zu gewinnen. Das Spiegeln fördert die Selbstexploration,
das heißt Selbsterforschung des Patienten. Es führt dazu, dass
er "über sich selbst - seine gefühlsmäßigen Stellungnahmen
und Bewertungen, seine Ziele und Wünsche exploriert und sich zum Teil
über sie klarer wird oder sich um Klärung bemüht" (R. TAUSCH,
1970). Damit wird wieder einmal deutlich, dass verstehende Gesprächsführung
ein Vorgehen darstellt, bei dem Diagnostik und Therapie eng miteinander
verwoben sind: Indem ich meinem Patienten helfe, über seine Gefühle
und Konflikte mehr Klarheit zu gewinnen, schaffe ich gleichzeitig für
ihn auch die Voraussetzungen, sich damit konstruktiv auseinander zusetzen.
Beim Spiegeln erfolgt also in erster Linie eine "Verbalisierung emotionaler
Erlebnisinhalte" (R. TAUSCH, 1970).
Der Mensch reagiert ganz überwiegend emotional
und viel weniger rational, als er immer denkt. Weil häufig der Kopf
(Verstand) die Argumente für Handlungs- und Verhaltensweisen findet,
die aus dem "Bauch" (der Gefühlswelt) stammen, werden wir in dem Glauben
bestärkt, dass wir uns weitgehend rational verhalten. Es ist eine
in der Psychologie fest etablierte Erkenntnis, dass die meisten, wahrscheinlich
alle "Lebensentscheidungen" eines Menschen vorwiegend emotional und nicht
rational bestimmt sind. Der Philosoph BLAISE PASCAL hat einmal formuliert:
"Das Herz hat seine Gründe, von denen der Verstand nichts weiß."
Zahlreiche Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Technik des Spiegelns
beim Klienten (Patienten) konstruktive Persönlichkeitsveränderungen
ermöglicht, insbesondere bei psychoneurotisch gefärbten Verhaltensweisen.
Für den gesprächsführenden Arzt eröffnet
das Spiegeln die Möglichkeit, sein Verstehen zu signalisieren und
in Worte zu fassen, ohne sich in die Gefahr zu begeben, gleich zu interpretieren,
zu deuten oder "Rat-Schläge" zu erteilen. Wichtig ist auch,
dass er durch das Spiegeln zwar zum Ausdruck bringen kann, dass er den
Patienten versteht - dass dies aber auch nicht einer inhaltlichen Zustimmung
gleichkommt. Die Formulierung: "Ich verstehe, dass Sie ..." ist deshalb
meistens ungünstig, weil sie beim Patienten leicht das Gefühl
der Zustimmung zu einer bestimmten Haltung oder Verhaltensweise auslöst.
Dies kann vermieden werden, wenn der Arzt sein Verhalten beispielsweise
folgendermaßen ausdrückt: "Offenbar hat der Mist, den Ihr Sohn
gebaut hat, Sie so aufgebracht, dass Sie das Gefühl hatten, ihm eine
herunterhauen zu müssen ..."
Die entscheidenden Vorteile des Spiegelns sind
(modifiziert nach W. WEBER):
-
Der Patient fühlt sich angenommen und verstanden.
-
Spiegeln bedeutet für ihn, dass er Partnerschaft
und Toleranz erhält.
-
Spiegeln fördert die Selbstexploration des Patienten.
-
Sie ermöglicht es dem Patienten, sein inneres Erleben,
seine Gefühle, Einstellungen, Haltungen, Wünsche und Ziele deutlicher
zu erfassen und besser mit ihnen umzugehen.
-
Für den Arzt stellt Spiegeln eine methodisch klare
Form der patientenzentrierten Gesprächsführung dar.
-
Es ermöglicht dem Arzt, den richtigen Umgang mit
Distanz und Nähe zum Patienten zu wählen.
-
Spiegeln ist die eindrucksvollste Methode, um den Patienten
zu signalisieren, dass der Arzt ihm aktiv zuhört.
Gesprächstechnisches Vorgehen beim Spiegeln
Rein formal kann der Arzt das Gehörte und Verstandene
gesprächstechnisch durch drei Methoden spiegeln:
-
Durch wörtliche Wiederholung des Gehörten.
-
Indem er das Gehörte und Verstandene mit eigenen
Worten wieder formuliert: diese Technik wird Paraphrasieren
genannt.
-
Indem er vor allem bemüht ist, die emotionalen
Erlebnisinhalte des Patienten in Worte zu fassen: das sogenannte Verbalisieren.
Es ist offensichtlich, da diese drei Methoden gleichzeitig
zunehmend größere Ansprüche an den Arzt stellen. Es ist
wichtig, sich jeweils über die Möglichkeiten, die Wertigkeit
und die Gefahren dieser drei Techniken Klarheit zu verschaffen:
Am einfachsten ist die (eventuell verkürzte)
wörtliche
Wiederholung, sie erfordert vom Arzt weder besondere Formulierungsarbeit,
noch lässt sie ein Bemühen um tieferes Verständnis des Patienten
erkennen.
Beispiel:
Patient: "Die letzte Nacht mit diesen Erstickungsanfällen,
Herr Doktor, diesen Horror, den möchte ich nicht wieder erleben."
Arzt: "Die letzte Nacht, das war ein Horror für
Sie."
Dieser Satz kann beim Patienten nicht sehr viel
mehr bewirken, als dass der Arzt ihm zugehört hat; offen bleibt, ob
er die Angst, in einem solchen Asthmaanfall zu ersticken, wirklich nachfühlen
konnte.
Diese Technik sollt nur spärlich eingesetzt
werden. Ihre Gefahr besteht darin, dass der Patient sie als eine Art "Papageienreflex"
erlebt.
Paraphrasieren bedeutet, dass der Arzt mit
eigenen Worten das Gehörte zurückspiegelt und gleichzeitig zum
Ausdruck zu bringen versucht, was er glaubt verstanden zu haben. Beispiel:
Ein Patient nach mehrfacher Chemotherapie sagt:
"Wenn das so weitergeht, mache ich nicht mehr mit."
Arzt: "Sie wollen also die Behandlung beenden?"
Wichtig ist, dass der Arzt seine spiegelnde Aussage
als sogenannte "schwebende Frage" formuliert hat, weil er die ihm wahrscheinlichste
Interpretation der Patientenaussage wiedergegeben hat, aber durchaus offen
lassen und auch zur Diskussion stellen möchte, dass der Patient etwas
anderes "gemeint" hat. Denn das "Gemeinte" in der Patientenaussage könnte
durchaus ganz anderes beinhalten, z.B.: "Ich halte nicht viel von der bisherigen
Behandlung" oder "Ich schaffe es nicht mehr, außer wenn Sie mir helfen",
oder "Ich bin völlig verzweifelt" usw. Wir sehen also, dass beim Paraphrasieren
die grundsätzliche Schwierigkeit darin besteht, dass wir dem Patienten
zunächst nur eine von zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten,
und zwar die wir selbst für die am meisten zutreffende halten, widerspiegeln.
Das Verbalisieren ist die beste Methode, um
das Erleben und das Gefühl des Patienten anzusprechen. Beispiel: Der
gleiche onkologische Patient sagt: "Ich weiß nicht, ob ich das schaffen
kann."
Arzt: "Sie haben Angst, es könnte Ihnen über
den Kopf wachsen?"
Auch hier hat der Arzt mit der Methode der schwebenden
Frage zurückgespiegelt, aber auch in erster Linie das wahrscheinlich
vorherrschende Gefühl des Patienten, nämlich dessen Angst
ins Gespräch gebracht. Auch hier ist klar, dass die Patientenaussage
viele andere Deutungen auf der Gefühlsebene zulässt: Möglicherweise
steht gar nicht so sehr das Gefühl der Angst, sondern der Hilflosigkeit,
der Verzweiflung, der Wut, der Hoffnungslosigkeit, der Aggression gegen
den Therapeuten im Vordergrund. Die Methode des Verbalisierens beinhaltet
als Hauptgefahr die Fehlinterpretation des emotionalen Erlebens und ein
Tendenz zum Werten und Interpretieren.
In Anlehnung an TAUSCH gibt W. WEBER folgende konkrete
Hinweise zum gesprächstechnischen Vorgehen beim Spiegeln:
-
Ich spiegele in erster Linie folgende Inhalte:
-
gefühlsnahe und gefühlsbetonte Äußerungen,
-
Wünsche und Ziele,
-
Einstellungen und gefühlsmäßige Bewertungen.
Formaltechnisch spiegele ich:
-
alle wichtigen Äußerungen möglichst
gleich im Anschluss,
-
kurz und konkret,- anschaulich und bildhaft,
-
was der Patient im Augenblick ("hier und jetzt") erlebt
und fühlt,
-
im Bemühen die Bedeutung für den Patienten
herauszuarbeiten. Zum Beispiel folgendermaßen: "Ich frage mich, was
das für Sie bedeutet", "Es beschäftigt mich, was da in Ihnen
vorgeht",
-
ich spiegele, indem ich oft das Wort "Sie" benutze ("Sie
haben das Gefühl, dass ...," "Sie wünschen sich, dass ..."),
selten oder nie mit den Worten "ich", "wir" oder "man",
-
ich bemühe mich, nicht mechanisch, fassadenhaft
oder echoartig zu spiegeln.
Wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich den Patienten
verstanden habe, ist es wichtig, auch dies deutlich werden zu lassen, z.B.
mit Redewendungen wie "Ist es so?", "Ich bin mir nicht ganz sicher, ob
ich Sie ganz verstanden habe", "Es liegt mir daran, Sie in diesem Punkt
noch besser zu verstehen".
Da der Arzt möglichst mit seinen eigenen Worten
spielen soll, ist es vor allem zur Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte
zweckmäßig, den eigenen Wortschatz zu erweitern. Es besteht
dabei die Möglichkeit, mit Synonymen oder mit Wörtern,
die in etwa das Gegenteil ausdrücken, also mit Antonymen zu
arbeiten. Wenn der Arzt beispielsweise der Äußerung des Patienten
entnimmt, dass dieser sich "alleine fühlt" kann er dies beispielsweise
mit folgenden Synonymen wiedergeben: "Sie haben ein starkes Gefühl
der Einsamkeit", "es scheint Ihnen, dass Sie von allen verlassen sind".
Antonyme Formulierungen wären: "Sie haben das Gefühl, dass keiner
für Sie da ist", "Geborgen und behütet zu sein, das können
Sie im Augenblick nicht empfinden" usw.
Aktives Zuhören und verstehendes Spiegeln, vor
allem durch Verbalisierung gefühlsmäßiger Erlebnisinhalte,
greifen wie Zahnräder ineinander: dieses Wechselspiel von verstehendem
Zuhören und Ausdrücken des Verstehens ist der ideale Motor für
jedes verstehende Gespräch. Die Fähigkeit zu aktivem Zuhören
und das Gehörte und Verstandene so auszudrücken, dass der Gesprächspartner
sich angenommen und in der Tiefe wirklich verstanden fühlt und sich
dabei seine "Innenschau" erweitert, macht die hohe Schule der Gesprächsführung
aus. Typisch für derartige Gespräche ist, dass sie kunstvoll
von der Wirkung, aber ganz "normal" von der Form her erscheinen. Dass diese
Erkenntnisse nicht neu sind, wird deutlich, wenn wir beispielsweise die
folgende Aussage von J.K. LAVATER (1741-1801) lesen: "Findest Du einen
Menschen, der ruhig ist, ohne Affektion, der mit der Gegenwart des Geistes,
mit wahrer Teilnehmung, mit stillem Bedürfnis hören kann, der
Dich nicht leicht unterbricht, der nicht zwei Fragen auf einmal tut, die
Antwort auf eine gelassen abwartet und ganz auffasst, der nicht vorwärts-,
nicht zurückgreift, dessen Blick Dich nicht geflissentlich fixiert
und niederschlägt, dessen Blick den Deinigen nicht geflissentlich
ausweicht, der nicht in die Höhe und nicht in die Tiefe zielt, der
in demselben Grade unnachlässig und angespannt ist, so denke, einen
Schatz im Acker, eine Perle gefunden zu haben."
Akzeptieren bedeutet
wenig, solange es nicht |
Verstehen enthält. |
C.R. Rogers
|
Empathie
Empathie zählt zu den wesentlichen Grundlagen der
Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Empathie im weiteren Sinne bedeutet
"einfühlendes Verstehen" (BOMMERT, 1977). Der Begriff "Einfühlung"
kommt dem Begriff "Empathie" sehr nahe, ist mit ihm jedoch nicht völlig
identisch. Einfühlung heißt, "das Gefühl des anderen sich
selbst zu erleben und es ihm mitzuteilen, d.h. mit den Augen des anderen
sehen, mit den Ohren des anderen hören" (DAHMER und DAHMER). ROGERS
(1959) definiert Empathie folgendermaßen: "Der Zustand der Einfühlung
oder des Sich-Einfühlens besteht darin, den inneren Bezugsrahmen eines
anderen genau wahrzunehmen unter Einschluss der zugehörigen gefühlsmäßigen
Komponenten und Bedeutungen, so, als ob man selbst der andere wäre,
ohne aber jemals den Als-ob-Zustand zu verlassen. In diesem Sinne bedeutet
es, den Schmerz oder die Freude des anderen zu erfühlen, so wie er
sie fühlt, deren Ursachen wahrzunehmen, wie er sie wahrnimmt, aber
ohne jemals die Erkenntnis zu verlieren, dass es so ist, als ob ich verletzt
oder froh wäre ...".
Empathie darf jedoch nicht verwechselt werden
mit Mitgefühl, Sympathie oder sogenannter Gefühlsansteckung.
Auch entspricht sie nicht dem Begriff der Identifikation. Den wesentlichen
Unterschied zur Identifikation bildet die Als-ob-Eigenschaft. Geht sie
verloren, handelt es sich um den Zustand der Identifikation und nicht mehr
um Empathie.
Sympathie ist eine "wertende Zustimmung zu den Gefühlen,
Ideen und dem Geschmack des anderen" (DAHMER und DAHMER). Wie alle wertenden
Verhaltensweisen sollte sie für das Gespräch zwischen Arzt und
Patient nicht bestimmend sein. BIERMANN-RATJEN und Mitarbeiter betonen
ebenfalls die Bedeutung der Als-ob-Eigenschaft der Empathie: "Empathie
bedeutet, das Erleben eines anderen so vollständig und genau nachzuvollziehen,
als ob es das eigene wäre, ohne jemals diesen ‘Als-ob-Status’ zu verlassen."
Empathie ist auch nicht zu verwechseln mit einem
"Verständnisvoll-Sein im Sinne einer humanen Haltung". Natürlich
ist "Verständnisvollsein" eine ethisch erwünschte Verhaltensweise,
gesprächstechnisch ist sie jedoch keine Condito sine qua non. Um mit
dem Patienten in seinem Problem kommunizieren zu können, muss ich
zwar die Fähigkeit besitzen, mich in ihn einzufühlen, es ist
aber nicht unbedingt erforderlich, dass ich menschlich berührt oder
betroffen bin. Man kann sogar mit Vorsicht sagen, dass Betroffenheit die
freie Kommunikation zwischen Arzt und Patient eher erschwert als fördert.
Vereinfacht gesagt: Eine Grundvoraussetzung des ärztlichen
Gesprächs ist einfühlendes Verstehen; Mitgefühl und Mitleid
liegen auf einer anderen Bezugsebene. Empathie ist keineswegs nur die Fähigkeit,
die Gefühle des anderen nachzuvollziehen. Die Betonung liegt
nicht so sehr auf dem Begriff Gefühl, sondern dem Einfühlungsvermögen
in die Erlebniswelt des Patienten. ROGERS spricht daher auch nicht von
Gefühlen, sondern von der persönlichen "Wahrnehmungswelt" des
Klienten.
Die Erfahrung zeigt, dass es Ärzten unterschiedlich
leicht fällt, sich empathisch zu verhalten, weil die Fähigkeit
zur Empathie von bestimmten Voraussetzungen abhängt:
-
der ethischen Grundeinstellung des Arztes zu seinem
Beruf und seinem sozialen Engagement,
-
seiner Fähigkeit, sich emotional berühren
zu lassen, und seiner Übung, mit seinen Empfindungen umzugehen, und
-
seiner Fähigkeit, die Qualität der Beziehung
zum Patienten wahrzunehmen und zu beeinflussen (M. GEYER,1985).
Zwei Bedürfnisse können die Entfaltung
der Empathie erheblich erschweren: das Bedürfnis nach emotionaler
Neutralität oder nach Dominanz. Der Wunsch, empathisch
zu sein, ist meist bestimmend für die Berufswahl des Arztes. Die ärztliche
Ausbildung zielt jedoch meist auf das Verstehen somatischer Störungen
ab. Empathie ist hierbei nicht gefragt. Hinzu kommen Selbstschutzprozesse
gegen eigene Ängste und Schuldgefühle sowie Erfahrungen mit unangemessen
fordernden und anklammernden Patienten, denen man mit "empathischem" Verhalten
nicht gewachsen war. Daraus kann sich ein Bedürfnis nach emotionaler
Neutralität entwickeln, die in "ein ethisch fragwürdiges Fernbleiben
von der menschlichen Realität des Patienten" einmündet (M. GEYER).
Der Arzt muss also auch sein eigenes Bedürfnis
nach emotionaler Neutralität kennen und bewusst in seine empathische
Haltung integrieren. Erst dann wird er in der Lage sein, sowohl Distanz
als auch Nähe zum Patienten entsprechend seiner Persönlichkeit
zu gestalten, und dem Patienten gegenüber auf lange Sicht offen bleiben.
Der Arzt, der in seiner Beziehung zum Patienten übermäßig
nach Dominanz strebt - meist als Folge eines schwachen Selbstwertgefühls
-, wird im Informationsbedürfnis des Patienten und dessen Versuchen,
dem Arzt auf partnerschaftlicher Ebene zu begegnen, Besserwisserei und
Infragestellen seiner ärztlichen Rolle sehen. Dieser Konflikt erschwert
es ihm, sich empathisch zu verhalten (M. GEYER). Unfangreiche Untersuchungen
haben gezeigt, dass die Fähigkeit, Empathie zu entwickeln, durch bestimmte
Persönlichkeitsmerkmale und Befindlichkeiten des Arztes erleichtert
wird. Dazu zählen: Gelassenheit, Geselligkeit, Reflexionsfähigkeit,
Fähigkeit zur Selbstkritik und allgemein psychische Stabilität
(M. GEYER).
Der Arzt sollte schließlich fähig sein,
seine Empathie dem Patienten - direkt oder indirekt - zu signalisieren
und das Verstehen angemessen mitzuteilen. Ein von einfühlendem Verstehen
bestimmter Gesprächsablauf ist für den Patienten oft schon ein
ausreichender Beweis für die Empathie des Arztes. Wenn er erlebt,
dass er mit seinen Problemen oder Anliegen "ankommt" und dass diese so
interpretiert werden, wie er sie sieht und empfindet, muss der Arzt nicht
unbedingt dieses Verstehen noch zusätzlich verdeutlichen.
Wenn der Arzt aber den Eindruck gewinnt, dass der
Patient unsicher ist, ob er wirklich vom Arzt verstanden wird, soll das
Verständnis deutlich gemacht werden. Dies kann auf 2 Wegen geschehen:
Einmal direkt, indem beispielsweise der Arzt versichert: "Ich kann mir
sehr gut vorstellen, wie Ihnen in diesem Augenblick zumute war ...", "Ich
weiß, dass dieser Zustand sehr unangenehm sein kann ...". Die 2.
Möglichkeit besteht darin, indirekt zum Ausdruck zu bringen, dass
ich in der Lage bin, mich in den Patienten einzufühlen und ihn zu
verstehen, indem ich versuche, seine Situation oder sein Befinden mit meinen
eigenen Worten zu schildern: "Ich glaube, Sie wollen mir sagen, dass es
Ihnen im Augenblick unverständlich ist, wie andere Menschen lachen
können."
Empathie ist die Brücke, die aus der eigenen
Wirklichkeit in die Wirklichkeit des Patienten hineinführt und es
ermöglicht, eine gemeinsame Wirklichkeit zu finden. Empathie ermöglicht
es, sich nicht nur abstrakt, sondern konkret mit der individuellen Problematik
des Patienten auseinander zusetzen. Dadurch gelingt es, sonst scheinbar
inadäquate Verhaltensweisen und Reaktionen eines Patienten als in
seiner Sicht durchaus adäquat und folgerichtig zu verstehen.
Empathie ist der Schlüssel zum Verständnis
des Erlebens und Verarbeitens der Krankheit des Patienten. Sie ist Voraussetzung
dafür, dass Arzt und Patient, wenn sie über das Kranksein sprechen,
auch wirklich die gleiche Sache meinen. Empathie ist die Voraussetzung
dafür, dass die Beziehung zwischen Arzt und Patient durch Wärme
und gegenseitiges Akzeptieren gekennzeichnet ist und der Arzt vom Patienten
als offen und "echt", d.h. mit sich selbst übereinstimmend, erlebt
wird. Empathie bedeutet aber nicht nur, in der Lage zu sein, sich selbst
vorübergehend in die Lage des Patienten zu versetzen, sondern auch
erleben zu können, wozu der Patient den Arzt macht (DÖRNER und
PLOG, 1980).
Die Theorie bestimmt,
was wir beobachten können |
Albert Einstein
|
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Verstehende Kommunikation ist daran gebunden,
dass die Partner sich in einer identischen Wirklichkeit befinden.
Dies setzt die Erkenntnis voraus, dass es eine absolute Wirklichkeit nicht
gibt, sondern zahllose Wirklichkeitsauffassungen, die sehr widersprüchlich
sein können. Gelingt es Sender und Empfänger nicht, in einer
identischen Wirklichkeit miteinander zu kommunizieren, so ist ein gegenseitiges
Verstehen nicht möglich.
Die Identität der Wirklichkeiten ist daher
die absolute und unabdingbare Voraussetzung des verstehenden ärztlichen
Gesprächs. |
|
Gelingt es den Gesprächspartnern nicht, eine
identische Wirklichkeit zu finden, so ist ihr Gespräch nicht nur ohne
Sinn, sondern ausgesprochen gefährlich, weil unüberschaubare
Missverständnisse vorprogrammiert sind. Die Nichtidentität der
Wirklichkeiten ist wahrscheinlich eine der Hauptursachen von Kommunikationsstörungen
zwischen Menschen, vom Streit zwischen Vermieter und Mieter über das
Generationsproblem bis zum West-Ost-Konflikt.
Das Phänomen der unterschiedlichen Wirklichkeiten
und ihrer Beziehungen zu Kommunikationsvorgängen ist besonders eingehend
von Paul WATZLAWICK beschrieben worden. Sein Buch "Wie wirklich ist die
Wirklichkeit?" muss als Pflichtlektüre für jeden angesehen werden,
der sich mit Kommunikation beschäftigt. Die 3 folgenden Beispiele,
die das Phänomen der unterschiedlichen Wirklichkeiten verdeutlichen
sollen, sind dem Buch von WATZLAWICK entnommen.
1. Beispiel:
Eine Laborratte erklärt einer anderen Ratte
das Verhalten des Versuchsleiters mit den Worten: "Ich habe diesen Mann
so trainiert, dass er mir jedes Mal Futter gibt, wenn ich diesen Hebel
drücke." Es ist klar, dass die Ratte in derselben Reizreaktionsfolge
eine andere Gesetzmäßigkeit sieht als der Laborleiter: Für
diesen ist der Hebeldruck der Ratte eine von ihr erlernte Reaktion auf
einen von ihm unmittelbar vorher gegebenen Reiz. In der Wirklichkeit der
Ratte ist der Hebeldruck der Reiz, den sie dem Versuchsleiter
erteilt, worauf er mit dem Geben von Futter als erlernte Reaktion antwortet.
WATZLAWICK: "Obwohl beide also dieselben Tatsachen sehen, schreiben
sie ihnen zwei sehr verschiedene Bedeutungen zu und erleben sie daher buchstäblich
als zwei verschiedene Wirklichkeiten."
2. Beispiel:
Ein Randomisator ist bekanntlich eine Vorrichtung
zur Herstellung von Zufallsreihen, die beliebig lange Folgen der 10 Ziffern
unseres Zahlensystems liefert. In einer der langen, vom Randomisator hergestellten,
scheinbar ungeordneten Zahlenreihen taucht plötzlich die Folge 0 -
1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 - auf. Mit Sicherheit wird unser Eindruck
sein, dass der Randomisator hier "versagt" hat, da diese Zahlenfolge hundertprozentig
geordnet ist und daher nicht zufällig sein kann. Die Mathematiker
belehren uns eines anderen: Die Reihe 0 - 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8
- 9 - ist genau so geordnet oder zufällig wie jede andere Kombination
der Ziffern unseres Dezimalsystems. Es ist lediglich unsere willkürliche
Entscheidung darüber, was als Ordnung bzw. Unordnung zu gelten
hat, dass wir diese Zahlenreihe als voll geordnet betrachten. Die Annahme,
dass die genannte Reihenfolge geordnet ist, ist eine typische Verwechslung
der Wirklichkeiten 1. und 2. Ordnung (objektive und subjektive Wirklichkeit).
In der objektiven Wirklichkeit ist die Zahlenreihe ebenso ungeordnet wie
die Folge 4- 1 - 5 - 9 - 2 - 6 - 3- 7 -, in der subjektiven Wirklichkeit
erscheint sie uns ungeordnet, weil sie einem von uns festgelegten Ordnungsprinzip
entspricht.
3. Beispiel
Ein Mann kommt in den Himmel und trifft dort einen
alten Freund, auf dessen Knien ein wunderhübsches junges Mädchen
sitzt. "Phantastisch", sagt der Neuankömmling, "ist sie deine Belohnung?"
"Oh nein", sagt der alte Mann traurig, "ich bin ihre Strafe."
WATZLAWICK nennt den Glauben, es gäbe nur eine
Wirklichkeit, "die gefährlichste all dieser Selbsttäuschungen."
Und er betont, "dass es viel mehr zahllose Wirklichkeitsauffassungen gibt,
die sehr widersprüchlich sein können, die alle das Ergebnis von
Kommunikation, und nicht der Widerschein ewiger, objektiver Wahrheiten
sind."
Es gibt keine absolute Wirklichkeit, sondern nur
subjektive, zum Teil völlig widersprüchliche Wirklichkeitsauffassungen.
Die Annahme, dass die eigene subjektive Wirklichkeit der "wirklichen" Wirklichkeit
entspricht, ist ebenso naiv wie gefährlich. Wirklichkeitsaspekte,
die auf dem Konsens der Wahrnehmung der Beteiligten und auf experimentellen,
wiederholbaren und daher verifizierbaren Nachweisen beruhen, entsprechen
der Wirklichkeit 1. Ordnung. Die Wirklichkeit 1. Ordnung ist
mit naturwissenschaftlichen Methoden in physikalisch-chemischen Kategorien
unzweideutig beschreibbar.
Auch hierfür gibt WATZLAWICK ein Beispiel: "Die
Wirklichkeit erster Ordnung des Goldes, d.h. seine physischen Eigenschaften,
ist vollkommen bekannt und jederzeit verifizierbar. Die Bedeutung, die
das Gold aber seit Urzeiten im menschlichen Leben spielt, vor allem die
Tatsache, dass ihm zweimal täglich in einem Büro der Londoner
City ein bestimmter Wert (also ein ganz spezifischer Wirklichkeitsaspekt)
zugeschrieben wird und dass diese Wertzuschreibung viele andere Aspekte
unserer Wirklichkeit weitgehend bestimmt, hat mit seinen physischen Eigenschaften
sehr wenig, wenn überhaupt etwas zu tun. Diese andere, zweite Wirklichkeit
des Goldes aber ist es, die einen zum Krösus oder Bankrotteur machen
kann.
Welche Bedeutung und welchen Wert im weitesten
Sinne Tatsachen, Fakten oder Gegenstände, die in der Wirklichkeit
1. Ordnung eindeutig zu definieren sind, besitzen, ist etwas von der Wirklichkeit
1. Ordnung völlig Verschiedenes und keineswegs eindeutig festgelegt.
Die Bedeutung ist in hohem Maße subjektiv und arbiträr. Insofern
gibt es von ein und derselben Sache sehr viele Wirklichkeiten 2. Ordnung,
von denen jede subjektiv und für sich gesehen "wirklich" ist. WATZLAWICK:
"Im Bereich dieser Wirklichkeitsordnung ist es also absurd, darüber
zu streiten, was wirklich ‘wirklich‘ ist. Da die subjektive Wirklichkeit
zweiter Ordnung so überzeugend ‘wirklich‘ ist wie die Wirklichkeit
erster Ordnung, ist die Gefahr sehr groß, dass wir den Unterschied
sehr leicht aus den Augen verlieren oder uns des Bestehens der zwei verschiedenen
Wirklichkeiten überhaupt nicht bewusst sind."
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An einem sogenannten "Springbild" lässt sich
optisch verdeutlichen, dass es von ein und derselben Sache 2 grundverschiedene
Wahrnehmungen, d.h. Wirklichkeiten geben kann.
Beim ersten Hinsehen erkennen die meisten Menschen
auf dem Bild eine junge Frau im Profil, andere wiederum das Gesicht einer
alten Frau. Dem Betrachter, der das Bild einer jungen Frau sieht und dem
es nicht gelingt, "umzuschalten" und plötzlich das Bild der alten
Frau zu sehen, kann folgender Hinweis gegeben werden. Die gesamte Wangen-
und Kieferlinie der jungen Frau stellt die lange Nase der alten Frau dar.
Das linke Auge der Alten ist das linke Ohr der Jungen. Das Samthalsband
der jungen Frau ist der Mund der alten, das rechte Auge der alten Frau
ein Stück der Nase der jungen Frau. Gleichgültig, welche Figur
wir zuerst gesehen haben, sie war auf alle Fälle "richtig". Sie war
aber gleichzeitig auch nicht die einzige "richtige" Figur, die es auf diesem
Bild zu erkennen gibt. |
Mit anderen Worten: Unsere Wahrnehmungen sind zwar immer
"richtig", sie stellen aber nicht immer die einzige richtige und mögliche
Wahrnehmung dar. Die unterschiedlichen individuellen Wahrnehmungen ein
und derselben Sache machen die unterschiedlichen subjektiven Wirklichkeiten
aus, von denen die eine so wirklich wie die andere ist.
Es kann gar nicht genug betont werden, wie entscheidend
die Kenntnis des Phänomens der Wirklichkeiten 1. und 2. Ordnung ist,
und zu wie fatalen Missverständnissen das Nichterkennen oder Nichtbeachten
unterschiedlicher Wirklichkeiten führen kann.
Wenn es dem Arzt nicht gelingt, im Gespräch
mit seinem Patienten dessen individuelle Wirklichkeit zu erfassen und eine
gemeinsame identische Wirklichkeit zu finden, werden seine Bemühungen
erfolglos und u.U. gefährlich sein. Die Kontrollfrage: "Spreche
ich mit meinem Patienten in einer identischen Wirklichkeit?" ist von grundlegender
Bedeutung. Es ist erstaunlich, dass selbst Naturwissenschaftler von
höchstem Range Schwierigkeiten hatten, zu akzeptieren, dass es nicht
nur eine Wirklichkeit gibt. So vertrat HEISENBERG in einem Gespräch
mit EINSTEIN noch1926 die Meinung, dass nur beobachtbare Dinge zur Bildung
einer Theorie herangezogen werden dürften. EINSTEIN hingegen hatte
inzwischen seine Ansicht geändert und soll geantwortet haben: "Es
ist durchaus falsch, zu versuchen, eine Theorie nur auf beobachtbaren Größen
aufzubauen. In Wirklichkeit tritt gerade das Gegenteil ein. Die Theorie
bestimmt, was wir beobachten können." Mit anderen Worten: "Nicht was
wir sehen, bestimmt unsere Vorstellung, sondern unsere Vorstellungen
bestimmen, was wir sehen."
Auf die grundlegende Bedeutung des Phänomens
der unterschiedlichen Wirklichkeiten hat auch VON UEXKÜLL nachdrücklich
hingewiesen. Er betont, dass menschliches Leben durch eine fundamentale
Paradoxie
gekennzeichnet ist: "Wir leben in zwei einander scheinbar ausschließenden
Existenzformen. Auf der einen Seite sind wir unentrinnbar in eine nur jedem
von uns selbst gehörende individuelle Wirklichkeit eingeschlossen.
Jeder kann nur seine Empfindungen empfinden, seine Gefühle fühlen,
seine Gedanken denken. Wie sehr wir uns auch bemühen, wir können
niemals, auch nicht bei Menschen, die uns am nächsten stehen, ihre
Empfindungen empfinden, ihre Gefühle fühlen oder ihre Gedanken
denken ... Wir können die Grenze, die unsere Welt von der eines anderen
trennt, nicht überschreiten. Jeder bleibt Outsider der Wirklichkeit
des anderen." Er fährt fort: "Auf der anderen Seite sind wir ebenso
unwiderlegbar mit anderen Menschen in gemeinsamen Wirklichkeiten zusammengeschlossen.
Auch diese gemeinsamen Wirklichkeiten haben Grenzen, die Insider und Outsider
trennen. Wir kennen gemeinsame Wirklichkeiten der theoretischen Physiker,
der Juristen oder der Ärzte, um nur einige Beispiele zu nennen ...
Unsere soziale Welt ist ein hochkompliziertes Gewebe, in dem Grenzen der
verschiedenartigsten Wirklichkeiten sich überschneiden. Diese Erkenntnis
rührt an die Grundfrage, wie Kommunikation, d.h. eine Verbindung zwischen
zwei individuellen Wirklichkeiten, möglich ist." VON UEXKÜLL
gibt die Antwort: "Nur dadurch, dass es ihnen gelingt, eine gemeinsame
Wirklichkeit aufzubauen."
Abb.: Das Bezugssystem des Gesprächs
zwischen Arzt und Patient.
Damit stellt sich die Frage, wie das Problem des
Findens
einer gemeinsamen Wirklichkeit gelöst werden kann. Hier ist es
wichtig, sich klar zu machen, dass es sich bei den Grenzen, die Wirklichkeiten
voneinander trennen, um sogenannte semantische Grenzen handelt. Semantische
Grenzen trennen Insider, die den Code eines Zeichensystems verstehen, von
Outsidern, die diesen Code nicht beherrschen. Für den Outsider müssen
die Zeichen, mit denen Insider ihre Wirklichkeit deuten und sich untereinander
verständigen, unverständlich bleiben. Diese Tatsache wird noch
besser verständlich, wenn der Terminus "Code" durch den Begriff "Spielregel"
ersetzt wird. Wer den Code (die Spielregeln) des Schachspiels kennt, kann
als Spieler oder Zuschauer an der gemeinsamen Wirklichkeit "Schachspiel"
teilnehmen, weil er Insider ist; Menschen, denen der Code unbekannt ist,
bleiben Outsider, für die ein Schachspiel eine vollkommen unverständliche
Wirklichkeit darstellt. VON UEXKÜLL:
"Das Problem der Kommunikation lässt sich also
als Suche nach gemeinsamen Spielregeln oder gemeinsamen Codes formulieren."
Das Finden einer gemeinsamen Wirklichkeit ist daher
die Grundlage der Kommunikation zwischen Arzt und Patient und natürlich
die Grundlage der Kommunikation zwischen Menschen überhaupt. |
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Das Finden einer gemeinsamen Wirklichkeit ermöglicht
es Menschen überhaupt erst, einander zu verstehen und miteinander
richtig umzugehen. Das Gespräch ist die exemplarische Methode, wie
Menschen einen gemeinsamen Code suchen, finden und sich gleichzeitig vergewissern
können, dass sie diesen Code gefunden haben.
VON UEXKÜLL: "Ärzte und Kranke leben in
verschiedenen Wirklichkeiten. Die Wirklichkeit, in der Ärzte, Krankenschwestern
und Pflegepersonen leben, deutet die Schmerzen, über die Kranke klagen,
als Symptome von Krankheiten, die einen objektiven Verlauf haben. Dieser
Wirklichkeit steht ein Kranker als Outsider gegenüber. Er ist in seine
individuelle Wirklichkeit eingeschlossen, in der Schmerzen und Krankheiten
eine schicksalhafte Bedeutung haben." Die Aufgabe des Arztes besteht darin,
für diese verschiedenen Wirklichkeiten einen gemeinsamen Code, gemeinsame
Spielregeln, kurzum: eine identische Wirklichkeit zu finden. Ohne sie ist
verstehende und erfolgreiche Kommunikation zwischen Arzt und Patient unmöglich.
Linus
Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage,
Frankfurt a. Main, 1992
©
Pharma Verlag Frankfurt
Autorisierte
Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de
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