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Linus Geisler: INNERE MEDIZIN © 1969/1999 W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart Berlin Köln 
2.3.11.2 Apoplexie
 
2.3.11.2 Apoplexie
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Definition: Apoplexie bedeutet ein neurologisches Defizit durch eine perakut bis subakut auftretende Hirndurchblutungsstörung. Klinische Leitsymptome des voll ausgebildeten Schlaganfalls sind plötzliche Bewusstseinsstörungen und (meist halbseitige) Lähmungen.
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In der Mehrzahl der Fälle entwickelt sich auf der Basis einer Arteriosklerose der Hirngefäße mit thrombischem Gefäßverschluss (ähnlich wie beim Herzinfarkt) ein Hirninfarkt. Da die infarzierte Hirnpartie eine weiche Beschaffenheit aufweist, spricht man auch von einer Hirnerweichung oder Enzephalomalazie. Bei schwerer Arteriosklerose der Hirngefäße kann schon allein durch einen Blutdruckabfall oder eine Minderdurchblutung bei Herzinsuffizienz eine Enzephalomalazie zustande kommen.
In den übrigen Fällen besteht entweder eine Massenblutung aus einem eingerissenen arteriosklerotischen Hirngefäß, die sich besonders leicht bei einer bestehenden Hypertonie entwickelt, oder eine Hirnembolie, deren häufigste Quelle Thromben aus einem vergrößerten linken Vorhof sind. Die Massenblutung, die auch Enzephalorrhagie genannt wird, hat die schlechteste Prognose.
Seltener sind Apoplexien durch einen thrombotischen Verschluss einer Halsschlagader (Arteria carotis) oder durch Einriss eines Hirngefäßaneurysmas, das zu einer Blutung in die Liquorräume des Gehirns führt. Schlaganfälle mit Blutung in den Liquorraum haben als klinische Leitsymptome Nackensteifigkeit und blutigen Liquor. Das Krankheitsbild wird als Subarachnoidalblutung bezeichnet.
Ursachen
Bei der zerebralen Massenblutung können die Patienten, scheinbar aus voller Gesundheit, plötzlich bewusstlos zusammenbrechen. Auslösend wirken krisenhafte Blutdruckanstiege, starkes Pressen beim Stuhlgang oder Wasserlassen, heftige Hustenattacken oder das Heben schwerer Gegenstände. Führendes Symptom sind Bewusstseinsstörungen bis zum tiefen Koma und die Hemiparese (Halbseitenlähmung). Sie betrifft die der erkrankten Hirnhälfte gegenüberliegende Körperseite, da die geschädigte Nervenbahn, die sog. Pyramidenbahn, von der Hirnrinde der einen Seite im verlängerten Rückenmark zur anderen Rückenmarkshälfte hinüberwechselt. Im Gesicht fällt als Zeichen der zentralen Faszialislähmung ein Hängen des Mundwinkels auf. Die Atmung ist schnarchend oder blasend (sog. Tabakblasen). Die Augen weichen meist in Richtung der der Körperlähmung entgegengesetzten Seite ab (sog. Déviation conjuguée). Man sagt: "Der Patient sieht den Herd im Gehirn an." Die Lähmungen sind zunächst schlaff. Beim Bewusstlosen kann man die gelähmte Seite am Fehlen von Spontanbewegungen und am herabgesetzten Muskeltonus erkennen. Beim Hochhaken fällt die gelähmte Extremität schlagartig und nicht langsam herab. Erbrechen und Bradykardie sind Zeichen eines gesteigerten Hirndrucks. Fieber kann zentral oder durch eine begleitende Pneumonie bedingt sein. Klinisches Bild
Während die Massenblutung meist Hypertoniker um das 50. Lebensjahr betrifft, kommt der wesentlich häufigere Hirninfarkt vorwiegend jenseits des 60. Lebensjahres vor. Die Bewusstseinseintrübung ist geringer, sie beginnt meistens allmählich und führt nicht immer zum Koma. Körpertemperatur und Blutdruck sind normal. Oft findet man nur flüchtige, rezidivierende kleinere Schlaganfälle, die dem eigentlichen Ereignis vorausgehen und als intermittierende zerebrovaskuläre Insuffizienz bezeichnet werden. Vorkommen
Je nach zeitlichem Verlauf und vollständiger bzw. unvollständiger Rückbildung der Symptome unterteilt man in:
•  transitorisch-ischämische Attacke (TIA); eine flüchtige Hirnischämie, deren Symptomatik (neurologisches Defizit) sich spätestens innerhalb von 24 Stunden zurückbildet und keine morphologischen Veränderungen hinterlässt;
•  prolongiertes reversibles ischämisches neurologisches Defizit (PRIND) bzw. reversibles ischämisches neurologisches Defizit (RIND); eine länger als 24 Std. anhaltende neurologische Symptomatik, die sich nur langsam, schließlich aber vollständig zurückbildet;
•  partiell reversible ischämische neurologische Symptomatik (PRINS); progredient oder progressiv fortschreitend sich entwickelnder Insult, charakterisiert durch neurologische Symptome mit inkompletter oder fehlender Rückbildungstendenz;
•  persistierender kompletter Hirninfarkt, gekennzeichnet durch eine neurologische Symptomatik, die sich sehr inkomplett oder gar nicht zurückbildet bzw. zum Tode führt.
Einteilung
Das Geschehen nimmt seinen Ursprung in den Bereichen der verschiedenen Hirngefäße, wodurch sich eine vielfältige klinische Symptomatik mit z.T. sehr unterschiedlichem neurologischen Defizit ergibt.
Die Hirnembolie betrifft, da häufig Herzklappenfehler die Ursache ist, jüngere Menschen. Sie neigt zur Rezidivierung, eine Bewusstseinsstörung fehlt meistens, die Ausfälle sind insgesamt geringer. Hirnembolie
Die Diagnose ist meist auf Grund des klinischen Bildes zu stellen. In Zweifelsfällen helfen EEG, Lumbalpunktion (blutiger Liquor bei Massenblutung) und röntgenologische Gefäßdarstellung mit Kontrastmittel (Angiographie der Halsschlagadern) weiter. Eine weitere wichtige Untersuchungsmethode ist die Computer-Tomografie (CT). Als sog. nichtinvasive Methode erlaubt sie die Erfassung auch geringfügiger Hirnläsionen wie Blutungen, Erweichungsherde, Tumoren oder Metastasen.
Diagnose des
apoplektischen
Insults
Fallbeispiel 6:
Die 74-jährige ehemalige Bibliothekarin raucht, wie sie selbst sagt, "seit einem halben Jahrhundert" 20-25 Zigaretten täglich. Sie ist mäßig übergewichtig und leidet an einer praktisch unbehandelten milden Hypertonie. Am Tag vor der stationären Aufnahme fühlt sie sich morgens plötzlich "taumelig", hat Probleme, beim Frühstück den Kaffeelöffel sicher zu halten und starrt nach Angabe des Ehemannes für ein bis zwei Minuten "wie ins Leere". Danach spricht sie für wenige Minuten stockend und verwaschen. Der Mann führt sie zum Sofa, auf dem sie sich eine halbe Stunde ausruht. Dann steht sie wieder auf, fühlt sich völlig "normal", kann sich aber an die abgelaufene Attacke nicht richtig erinnern. Am nächsten Morgen bricht sie auf der Toilette nach starkem Pressen beim Stuhlgang zusammen. Der Ehemann findet sie mit hochrotem Gesicht nicht ansprechbar auf dem Boden liegend, die Atmung ist "blasend", die Augen sind nach links oben gewendet. Es gelingt ihm nicht, sie aufzurichten. Der Notarzt stellt einen Blutdruck von 240/140 mm Hg und eine Lähmung der rechten Körperhälfte fest. Die CT-Untersuchung des Schädels in der Klinik ergibt eine linksseitige zerebrale Massenblutung. Diagnose: nach einer TIA am Vortag jetzt linksseitige Hirnmassenblutung bei hypertensiver Krise mit kompletter Hemiparese rechts und senso-motorischer Aphasie.
Fallbeispiel 6
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Übersicht 22: Therapie des apoplektischen Insults
  Atemwege freihalten, Absaugen, evtl. Intubation und Beatmung.
  Bei hypertensiver Krise als Ursache Blutdruckabsenkung in den oberen Normbereich.
  Therapie von ggf. bestehenden Herzrhythmusstörungen und Herzinsuffizienz.
  Infusionen mit HAES (Hydroxyethylstärke) 10 oder 6%.
  Bei hohem Hämatokrit Infusionstherapie, kombiniert mit Aderlass (isovolämische Hämodilution).
  Thromboseprophylaxe (low dose-Heparinisierung).
  Krankengymnastik mit dem Ziel der Verhinderung einer Spastik.
  Evtl. Operation bei Aneurysma oder Thrombose der A.carotis.
Übersicht 22
Abb. 29: Typischer Gang des Apoplektikers
Abb. 29 (klein)
Vergrößerung
Abb. 29
Übersicht 23: Pflege bei Apoplexie
•  Häufige Sekretabsaugung (evtl. nach Intubation) zur Pneumonieprophylaxe.
•  In den ersten Tagen ist ein Dauerkatheter erforderlich, da Harnverhaltung oder Harninkontinenz bestehen können.
•  Bilanzierung von Ein- und Ausfuhr.
•  Anfänglich ist meist eine parenterale Ernährung erforderlich.
•  Häufiger Lagewechsel und Hautpflege zur Vermeidung von Dekubitalulcera.
•  Richtige Lagerung der gelähmten Gliedmaßen:
Das Bein wird in Streckstellung mit leicht gebeugtem Knie und abgestütztem Fuß unter Vermeidung einer Außenrotation gelagert. Beim Arm muß durch ein Kissen zwischen Arm und Körper das Anpressen an den Körper vermieden werden, eine Handrolle hält Finger und Daumen in Oppositionsstellung und vermeidet eine zu starke Beugung.
•  Passive Krankengymnastik ist vom ersten Tag an erforderlich, später folgen aktive Übungen.
•  Bei aphasischen Störungen wird eine logopädische Therapie! erforderlich (s.u.).
Übersicht 23
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Ist die linke Hirnhälfte betroffen, d.h. liegt eine rechtsseitige Halbseitenlähmung vor, kann eine schwere Sprachstörung, eine sog. sensorische oder motorische Aphasie auftreten. Die Wünsche der geistig keineswegs immer beeinträchtigten Patienten trotzdem zu erkennen, erfordert viel Geduld und Einfühlungsvermögen. Durch gezielte, sachkundige logopädische Therapie (Sprachtherapie) kann die Aphasie in vielen Fällen erfolgreich angegangen werden.
Sensorische und
motorische Aphasie
Für den Umgang mit Aphasikern gilt:
  dem Patienten die Aphasie erklären und Verstehen signalisieren,
  langsam in einfachen und kurzen Sätzen sprechen,
  Sprachübungen nicht erzwingen und häufig kurze Übungen bevorzugen,
  zunächst Substantive, Verben und Adjektive und erst später Adverbien, Artikel, Präpositionen und Konjunktionen üben,
  Schreibübungen in Schreibschrift (linke Hand?), Leseübungen in großer Druckschrift,
  sehr wichtig: loben, motivieren und immer wieder zum Sprechen anregen.
Umgang mit 
Aphasikern
Die anfänglich schlaffe Lähmung geht innerhalb kurzer Zeit in eine spastische Lähmung, d.h. eine Lähmung mit erhöhtem Muskeltonus über. Kann der Patient wieder mobilisiert werden, entwickelt sich der charakteristische Gang mit kreisförmiger Außenrotation des gelähmten Beins (s. Abb. 29 Link). Die Lähmung des Beins entwickelt sich meistens besser zurück als die Armlähmung. Die Prognose ist je nach betroffenem Hirnareal, Komplikationen und Ausmaß der Rückbildung der neurologischen Defizite außerordentlich unterschiedlich. Bei einer TIA kommt es definitionsgemäß zu einem vollständigen Rückgang der Symptome. Todesursache ist die ausgedehnte Hirnblutung selbst, die primär oder sekundär durch Einblutung in den erweichten Hirnherd entstanden sein kann. In anderen Fällen versterben die Patienten an einer schweren Pneumonie.
Apoplex: 
Verlauf und
Prognose
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Linus Geisler: INNERE MEDIZIN. 17. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart Berlin Köln
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