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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Gespräche in der Intensivmedizin 
Standortbestimmung
Die 4 Wirklichkeiten
Die Wirklichkeit des Patienten
 
 
So stirbt der Patient ganz im Stil unserer Zeit inmitten der hektischen Geschäftigkeit einer
supertechnisierten und übermedikamentösen Medizin, in sterilen Räumen,abgeschirmt von der 
nicht keimfreien Außenwelt nach tagelangem Kampf der Ärzte mit dem Tod. Von jeder
Kommunikation mit seinen Angehörigen, Freunden, Bekannten und dem Geistlichen etc.
abgeschnitten, wird nun erst das Sterben zur seelischen Qual. Die Intensivmedizin wird hier
zur Hölle er Einsamkeit, zum Absturz der Seele ins Nichts, zur wissenschaftlichen
Versuchsstation und Folterkammer, sie verhindert, dass der Patient den Sinn seines Sterbens,
Vollendung bzw. den Abschluss seines Lebens erkennen und vielleicht bewältigen kann.
Heiner Geissler,
früherer Bundesgesundheitsminister
 
Die Ärzte sollen die Leute nicht zwingen, mehr als einmal sterben zu müssen.
Prof. Burnet,
Nobelpreisträger für Medizin
 
Dem unbefangenen Beobachter wird schnell klar, dass in der Intensivmedizin alle Schwierigkeiten
der Medizin kulminieren.
R. Flöhl, Journalist
Gespräche in der Intensivmedizin
Standortbestimmung
Die Intensivstation ist der medizinische Bereich mit dem höchsten Bedarf an Kommunikation und zugleich der Ort, der jeder Art Kommunikation die größten Hindernisse entgegenstellt. Die psychischen Belastungen durch die Intensivmedizin lassen sich in 3 Gruppen einteilen:
  1. Kommunikationsprobleme
  2. Erschöpfung, Desorientierung und Verwirrung
  3. Angst, Panik und Besorgnis
Kommunikationsverlust und Informationsmangel bilden die stärkste Belastung für Intensivpatienten. Dies haben insbesondere die Erfahrungen beim sog. "Wiener Modell" gezeigt (H. THOMA und Mitarbeiter).

Die Qualität der Intensivmedizin wird daher in hohem Maße mitbestimmt von der Qualität der Kommunikation zwischen den Betroffenen und den Beteiligten: den Patienten, Ärzten, dem Pflegepersonal und den Angehörigen. Jede dieser Gruppen erlebt und bewertet die Intensivmedizin aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, genauer gesagt, aus verschiedenen Wirklichkeiten. Nirgendwo in der Medizin gewinnt das Phänomen unterschiedlicher Wirklichkeiten so enorme Bedeutung wie auf der Intensivstation, und nirgendwo sind auch die Folgen des Verkennens und Nichtbeachtens dieses Phänomens so schwerwiegend wie hier.

Nur eine vorurteilsfreie, offene, die Perspektive der anderen miteinbeziehende Kommunikation bietet die Chance, dass langfristig das Bild der Intensivmedizin in der Öffentlichkeit, das vorwiegend von den Medien geprägt ist, korrigiert werden kann. Dieses Bild wird heute noch ganz überwiegend von Begriffen bestimmt wie "Todesstationen", "Folterkammern", "veranstaltete Depression", "inhumane Medizin" oder "Materialschlachten gegen den Tod" (s. a. Zitat Heiner GEISSLER):

Intensivmedizin ist zunächst an sich weder human noch inhuman, ähnlich wie der elektrische Strom, der sowohl zum Heizen eines Hauses als auch für den elektrischen Stuhl verwendet werden kann. Entscheidend ist, "dass die Intensivmedizin ihre eigentlichen Anliegen und Ziele nicht verliert: die Konkretisierung von Humanität unter den Extrembedingungen vitaler Bedrohung unter Aufbietung sämtlicher ärztlicher, pflegerischer, technologischer, pharmazeutischer und anderer Ressourcen für den lebensbedrohten Erkrankten" (B. F. KLAPP). 

Kommunikation ist der entscheidende Garant für eine wirklich "humane" Intensivmedizin, das heißt eine Medizin, in deren Mittelpunkt der Mensch und nicht die extreme Ausnutzung medizinisch-technischer Möglichkeiten steht. KLAPP präzisiert dieses Ziel mit folgenden Worten: "Nur die menschlichen Verhältnisse zwischen den am intensivmedizinischen Geschehen Beteiligten vermögen dies zu sichern und Verselbständigung bzw. Eigenleben der Technologie zu verhindern, die zum Terror der apparativen Möglichkeiten über Team und Patienten führen und damit die Intensivmedizin zur Apparatemedizin verkommen lassen könnten." Er geht in seiner Analyse der Ist- und Soll-Zustände der Intensivmedizin noch einen Schritt weiter und sieht in ihr "nur eine spezielle Konkretisierung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Dynamik." Er zeichnet am Horizont als Schreckensvision eine Gesellschaft, deren Hauptmaxime lautet "Möglichst allen alles Erdenkliche zukommen zu lassen", das Gespenst einer Intensivmedizin, die zur "letzten Konsumpflicht Schwerkranker" verkommen könnte.

Erfolgreiche Kommunikation im weitesten Sinne wird sich im intensivmedizinischen Bereich nur dann verwirklichen lassen, wenn das Behandlungsteam von einer realistischen und letztlich positiven Ausgangssituation an seine Aufgaben herangeht: Dass 20 - 30% aller Patienten, die auf eine Intensivstation aufgenommen werden, dort sterben, ist bedrückend, häufig deprimierend, manchmal entmutigend. Diese Prozentzahlen werden aber nicht nur akzeptabel, sondern ermutigend und motivierend, wenn sie aus der Gegenposition gesehen werden: 70 - 80% Schwerstkranker und vital bedrohter Patienten können dort bei maximalem menschlichem und technologischem Einsatz gerettet werden oder überleben.

Für das ärztliche Handeln - das im weitesten Sinne nicht nur das Tun, sondern auch das Lassen umfasst - kann gerade in der Intensivmedizin eine alte ärztliche Weisheit aus China als Leitlinie gelten: "Die Behandlung sollte nicht schlimmer sein als die Krankheit."



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Die 4 Wirklichkeiten
Eine Patientin, die nach einer schweren Operation einige Zeit auf der Intensivstation der Universität Münster behandelt worden war, schreibt in einem Erfahrungsbericht: "Das Bewusstsein, dass alles nur Menschenmögliche zu meiner Genesung getan wurde, beruhigte mich sehr, ich fühlte mich sicher und aufgehoben." Sie berichtet aber auch über ihre Alpträume: "So träumte ich zum Beispiel davon, in einem wissenschaftlichen Labor zu sein, in dem Tierversuche durchgeführt wurden. Die Infusionsständer nahmen dabei die Gestalt von Gorillas an, Röntgengeräte wurden zu Dinosauriern."

Eine seit 3 Jahren in der gleichen Intensivstation tätige Krankenschwester berichtet: "Ich lernte zwar, den vital bedrohten Patienten mit modernen Methoden zu helfen. Dennoch blieben meine Gefühle der Hilflosigkeit und Ohnmacht bestehen: Sie traten vor allem auf, wenn Kinder nach einem schweren Unfall am Hirntod verstarben bzw. wenn wir Patienten trotz langer Pflege und aufwendiger Behandlung nicht helfen konnten … Nachts erwachte ich sogar aus Alpträumen."

In einer von der Abteilung für Anästhesiologie der Medizinischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen TH Aachen durchgeführten Befragung vom "ersten Eindruck", den Angehörige von ihrem Familienmitglied auf der Intensivstation hatten, wählten 26 von 29 Befragten die Beschreibung: "schrecklich - Entsetzen - grauenvoll".

Ein intensivmedizinisch tätiger Arzt, der lange auf einer Spezialeinheit für Verbrennungen gearbeitet hatte, schilderte mir mit großer Sachlichkeit, bei welchem deutschen Automodell Verkehrsunfälle besonders häufig zu schwersten Verbrennungen führen. Die Frage, ob ihn seine Tätigkeit wegen der besonders ungünstigen Prognose ausgedehnter Verbrennungen sehr belaste, verneinte er mit dem Hinweis, dass es sich dabei ja um "pathophysiologisch hochinteressante Bilder" handle.

Diese 4 Schilderungen von Patienten, Pflegekräften, Angehörigen und Ärzten zeigen, wie unterschiedlich die Wirklichkeiten, in denen Intensivmedizin erlebt wird, sein können. Der Erfolg jeder Kommunikation im intensivmedizinischen Bereich steht und fällt mit dieser Erkenntnis. Wo sie fehlt, können Worte tödlich wirken. In einer Fallbeschreibung schildern MÜLLER, THYWISSEN und BEHRENDT (zit. n. HANNICH u. Mitarb.), wie die Angehörigen eines 27jährigen Motorradfahrers mit schwerem Schädelhirntrauma vor dem neurochirurgischen Eingriff vom Oberarzt mit der Bemerkung nach Hause geschickt werden: "Machen Sie sich nicht allzu viel Hoffnung, jetzt schlafen Sie sich erst einmal richtig aus, wir müssen ja alle sterben, der eine früher, der andere später."



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Die Wirklichkeit des Patienten
Was Patienten auf Intensivstationen erleben, fühlen, hoffen und leiden, welche Fragen und Ängste sie bewegen, ist erst in den letzten Jahren durch systematische Befragungen und Studien zumindest im Ansatz deutlich geworden. Dabei hat sich gezeigt, dass Patienten die Intensivstation keineswegs regelhaft als apokalyptisches Grauen erfahren.

Die meisten Untersuchungen aus den verschiedenen intensivmedizinischen Bereichen haben nämlich ergeben, dass die Mehrzahl der Patienten die Intensivbehandlung positiv erlebt. So betont LAWIN: "Insofern ist auch die Einschätzung der Intensivtherapie durch die Patienten weitaus positiver als von seiten der nicht Betroffenen." Auf der Intensivstation der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin der Universität Münster behandelte Langzeitpatienten bewerteten den Aufenthalt rückblickend zu 96,4% als positiv.

Eine kürzlich publizierte Studie von S. UNGER und O. BERTEL zeigt beispielsweise, wie anders als das Pflegepersonal ehemalige Intensivpflegepatienten ihre Behandlung auf der Intensivstation beurteilen: Es wurden 63 Patienten unter 75 Jahren, die wegen eines akuten Herzinfarkts auf der Intensivstation behandelt worden waren, mittels eines Fragebogens über ihre Eindrücke befragt. Gleichzeitig wurde auch das Personal befragt, wie es die Pflege aus der Sicht des Patienten beurteilen würde. Während die Infarktpatienten die Ankunft in der Intensivstation, die Durchführung der ersten Behandlungsmaßnahmen und die apparative Überwachung eher beruhigend als beängstigend empfanden, beurteilte das Pflegepersonal diese Maßnahmen genau entgegengesetzt. Es glaubte, die Patienten würden durch diese technischen Maßnahmen besonders beunruhigt. Was die Intensivpatienten hingegen als negativ und besonders belastend empfanden, nämlich die Unfähigkeit, das wirkliche Ausmaß ihrer Gefährdung zu erkennen, stellte für das Pflegepersonal kein wesentliches Problem dar.

Eine Gruppe österreichischer Anästhesiologen und Intensivmediziner (G. PAUSER und Mitarbeiter), die das "Wiener Modell" zur psychischen Betreuung schwerkranker Patienten entwickelt haben, führte folgende Untersuchungen durch: In 3 Intensivstationen wurden 50 zufällig ausgewählte Patienten gebeten, am Tag ihrer Entlassung 52 Items nach 4 Kategorien zu reihen, um herauszufinden, aus welchen Elementen die höchste Stressbelastung auf der Intensivstation resultiert. Fazit der Untersuchung war, dass die als am höchsten stressbelastend empfundenen Items sich unter dem Oberbegriff des Informationsmangels und Kommunikationsmangels subsummieren lassen, und zwar folgende:

"Dass ich nicht weiß, wie lange ich im Krankenhaus liegen muss."
"Dass mir nur oberflächliche Informationen gegeben werden, was meinen Gesundheitszustand, meine Krankheit betrifft."
"Dass ich nur so wenig und so kurzen Kontakt mit den Ärzten habe."
"Dass mir keiner sagt, was die Ärzte als nächsten Schritt mit mir vorhaben."

Wesentlich an diesen Befunden erscheint die Tatsache, dass sie nicht nur den Informations- und Kommunikationsmangel als hohen Belastungsfaktor herausstellen, sondern gleichzeitig erkennen lassen, mit wie einfachen Mitteln dieser Belastungsdruck gemindert werden könnte.

Kasuistische Erfahrungsberichte von Ärzten, die selbst Patienten auf einer Intensivstation waren, sind in einem doppelten Sinne aufschlussreich, weil sie in "zwei Wirklichkeiten" (der des Patienten, der zugleich Arzt ist) wurzeln und weil die Artikulationsprobleme des medizinischen Laien entfallen. Ein Professor für innere Medizin, der nach einer schweren Operation mehrere Tage auf der Intensivstation einer chirurgischen Klinik lag, schreibt in seinen "Erfahrungen als Patient einer Intensivstation": "Das für mich ganz vorrangige Gefühl war, dass die eingeübte Pflegemannschaft unter Zuhilfenahme der Überwachungsgeräte alles tun würde, mich die Folgen der vorausgegangenen schweren Erkrankung und der notwendig gewordenen Operation überwinden zu lassen. Daneben merkte ich, dass Schmerzen und innere Unruhe, wann immer sie auftraten, gemindert wurden, soweit dies ohne Gefährdung möglich war. Ich fühle mich auch heute noch den Pflegekräften und den Ärzten in der Intensivstation zu tiefem Dank verpflichtet." Auch hier dominiert also das Gefühl der Sicherheit und Dankbarkeit. Der Bericht weist aber auch kritisch auf typische Belastungspunkte hin: "Den zu lauten Betrieb auf der Intensivstation durch unnötig lautes Sprechen, Türenwerfen, Klappern der Holzschuhe, das viel zu häufig unnötig grelle Licht, die quälende Monotonie, die ein mit geometrischen Figuren versehenes Gitter an der Decke für Zu- und Abfluss der Luft für den in Rückenlage Fixierten darstellt, das Gefühl der Vereinsamung, die manchmal kalte Distanz des Betreuungsteams."

Ein praktischer Arzt (F. RADERMACHER), der mit einem schwersten stenokardischen Anfall auf der Intensivstation aufgenommen wurde, schildert, dass er zunächst ebenfalls das Gefühl hatte, sich "in sicheren Händen" zu befinden. Als er den jungen diensthabenden Kollegen nach dem EKG-Befund fragte, erhielt er die Antwort: "Sie haben einen ausgedehnten frischen Vorderwandinfarkt." Wenige Sekunden nach diesem Satz geriet er ins Kammerflimmern und musste reanimiert werden. Der gleiche Kollege entwickelte nach seiner Bypassoperation ein schweres Lungenödem, weshalb er intubiert, tracheobronchial abgesaugt und beatmet werden musste. Intubation und tracheobronchiale Absaugung bei vollem Bewusstsein zählen nach allgemeiner Ansicht zu den quälendsten intensivmedizinischen Behandlungsmaßnahmen. Der Kollege erlebte diese Maßnahmen jedoch völlig anders: "Nach Intubation, Absaugen und Beatmung fühlte ich mich im Himmel - denn dadurch verlor ich die unerträgliche Atemnot, die ich zuvor im Lungenödem hatte."

Unabhängig von dem zunächst dominierenden Gefühl vieler Patienten, Hilfe zu bekommen, gibt es auf jeder Intensiveinheit ein Grundmuster situativer Belastungen, das im Laufe der Zeit zermürbende Effekte entfalten kann (WENDT, zit. n. HANNICH u. Mitarb.) (s. Tabelle).
 

Hauptbelastungsfaktoren auf der Intensivstation aus der Sicht des Patienten (M. WENDT)
fehlende Orientierungshilfen
fehlender Tag-Nacht-Rhythmus
sensorische Monotonie (konstante rhythmische Geräusche)
sensorische Überstimulierung
chronischer Schlafentzug
Lichtbelästigung
Kommunikationsdefizite
Fehlen von Bezugspersonen

Die Schwierigkeiten, einen konstanten Bezug zum Behandlungsteam aufzubauen, sind durch Filmanalysen quantitativ erfasst worden. WENDT und Mitarbeiter stellten bei 6 Patienten, die über 290 Stunden alle 15 Sekunden gefilmt wurden, fest, dass sich durchschnittlich alle 104 Sekunden im Umfeld des Patienten eine Änderung vollzieht. Die Kontaktdauer mit dem Pflegepersonal bewegt sich in einer Zeitspanne von 1 - 3 Minuten. Mit anderen Worten: Der Patient findet einerseits keine Ruhe, andererseits aber auch keinen richtigen Kontakt. In sog. "Wünsche- und Beschwerdebüchern" (SYCH und Mitarbeiter, zit. n. HANNICH u. Mitarb.) monieren Patienten vor allem den zu geringen persönlichen Kontakt zum Arzt, die unzureichende Beantwortung ihrer Fragen bei den Visitengesprächen und die Verunsicherung, die durch aufgefangene Wortfragmente ausgelöst wird.

Die Bedrohung des Menschen durch die vielzitierte "Apparatemedizin", der er - dem Anschein nach - gerade im Intensivbereich in monströser Form ausgesetzt ist, scheint sehr viel mehr in der Wirklichkeit der Angehörigen, der Öffentlichkeit, aber auch des Behandlungsteams zu existieren als in der des Patienten. Nach Aussagen vieler Patienten ist die Angst vor den Apparaten (Monitoren, Beatmungsgeräten, Infusionspumpen usw.) im allgemeinen nicht groß, oft gar nicht vorhanden. Häufig wird gerade der technische Aufwand nicht als Bedrohung, sondern als sicherndes Element erlebt. Ein ehemaliger Intensivpatient (G. HENSEL): " … Der Patient fühlt sich in seinem Selbstgefühl gehoben, wenn er erkennt, welch ungeheurer technischer Aufwand mit ihm getrieben wird. Dass dies alles sehr teuer sein muss, das durchschaut er sofort. Und dass da eine Menge Geld für ihn ausgegeben wird, das ängstigt ihn nicht; es beruhigt ihn. Nicht die Apparate erschrecken den Patienten, sondern - manchmal - die Menschen, die die Apparate bedienen." Angst wird allerdings dann leicht ausgelöst, wenn der Patient spürt, dass der Umgang mit den Apparaten nicht perfekt beherrscht wird. Dann kann das Gefühl der Sicherheit rasch in Verunsicherung und das Gefühl des Ausgeliefertseins umschlagen.

Die Auswirkungen einer intensivmedizinischen Behandlung auf den Patienten hängen wesentlich von der Ausgangssituation ab. Patienten mit chronischen Vorerkrankungen (z. B. chronische respiratorische Insuffizienz) erleben die Dekompensation ihrer Erkrankung als Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Gelingt durch intensivmedizinische Behandlungen immer wieder eine Rekompensation, kann dies allerdings auch zu positiv gefärbten Reaktionen führen nach dem Motto: "Ich werde es auch diesmal wieder schaffen."

Patienten, die unvorhergesehen und unvorbereitet auf die Intensivstation kommen (Infarktpatienten, Unfallopfer, Patienten mit postoperativen Komplikationen), weisen anfänglich keine großen Adaptionsprobleme auf. Dieses Reaktionsmuster ist besonders gut bei Koronarpatienten zu verfolgen, die nicht selten (unausgesprochen) als "Lieblingspatienten" beim Pflegepersonal gelten, da die Mehrzahl von ihnen stabilisiert am 2. oder 3. Tag auf die Normalstation verlegt werden kann. Die zunächst "neutrale" Reaktion auf die Intensivbehandlung und die positive Haltung sind jedoch zeitlich begrenzt: Wird eine längerdauernde Intensivtherapie notwendig (etwa ab dem 3., 4. Tag), entwickelt sich häufig eine zunehmend kritische Haltung zur Intensivstation.

Bei Patienten mit geplanter Intensivbehandlung, z. B. nach großen Operationen, dominiert meistens eine positive Grundeinstellung, und die Intensivbehandlung wird als zusätzlich sicherndes Moment gut toleriert. Hier handelt es sich allerdings insofern um eine spezielle Situation, weil der Aspekt der Intensivüberwachung den der Intensivtherapie überwiegt.

In aller Regel erlebt der Intensivpatient seine Situation als Ausnahmezustand. Dazu ein ehemaliger Intensivpatient (G. HENSEL): "Wie sieht sein Ausnahmezustand aus? Wer auf die Intensivstation kommt, bei dem geht es um Leben oder Tod. Dies jedenfalls empfindet er, wie groß in Wahrheit seine Chancen auch sein mögen. ... Auf der Intensivstation kann der Mensch der Einsicht nicht länger ausweichen, dass das Leben kein Geschenk ist, sondern eine Leihgabe: Dass man - auf dieser Erde - überhaupt nichts besitzen, dass man alles nur zeitweilig nutzen kann. Der Patient muss sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass seine Leihfrist abgelaufen sein könnte. Zum erstenmal ist der Tod für ihn nicht mehr einfach eine entfernte, sondern eine ganz nahe Möglichkeit, vielleicht sogar eine Wahrscheinlichkeit. Er kann nichts mehr denken, ohne zugleich an sein Ende zu denken. . . In diesem Ausnahmezustand hält er nichts für so wichtig wie sich selbst... Doch sollte man die monströse Ich-Sucht des Patienten nicht verurteilen, sondern verstehen: Sie gehört zu den Selbstheilungskräften des Patienten; sie ist ein durch den Lebenswillen geheiligter Egoismus ... Zum Ausnahmezustand des Patienten gehört, dass er sich seelisch schwer verletzt fühlt."

KLAPP beschreibt diese Störung des Selbstwertgefühls folgendermaßen: "Das Wesentliche ist daran die Einschränkung der Ich-Funktionen (im psychoanalytischen Sinne), die der Patient schmerzlich erfährt, die zudem stark ängstigend wirkt. Diese Angst ist am ehesten zu verstehen als solche vor Vernichtung (was nicht mit Todesangst gleichzusetzen ist…)."

Die reale Abhängigkeit, in der sich der Patient befindet, wird jedoch je nach Krankheitsschwere und Krankheitsphase unterschiedlich erlebt und muss in die Therapiekonzepte einbezogen werden. In seiner Reaktion auf diese Störung des Selbstwertgefühls spielt es eine wesentliche Rolle, inwieweit der Patient "sich selbst anheimgeben, fallen lassen und regressive Züge zulassen kann, bis hin auf das Niveau, das der frühkindlichen Versorgungssituation sehr stark ähnelt, um dann wieder mit zunehmender klinischer Besserung zu progredieren, die Abhängigkeit wieder schrittweise zu durchlaufen und zu rehabilitieren."
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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