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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Gespräche mit dem alten Menschen
Die Situation
Die Welt des alten Menschen
Die Grenzen
Einsamkeit und sozialer Tod
Das Erleben von Krankheit im Alter
Leistungsfähigkeit im Alter
Gespräch und Umgang mit alten Patienten
 
 
Alle möchten lange leben, aber keiner 
möchte alt sein.
Benjamin Franklin
 
Ich bin alt ..., das ist ein unheilbares Leiden.
Corneille
Gespräche mit dem alten Menschen
Die Situation
In der Bundesrepublik Deutschland leben derzeit (1987)10 Millionen Menschen über 65 Jahre. 20% der Gesamtbevölkerung sind älter als 60 Jahre. Alte Menschen bilden einen hohen Anteil der Patienten in Praxen und Kliniken. Auf internen Krankenhausabteilungen sind rund 40% der Patienten älter als 70 Jahre. Nach Modellrechnungen (Statistisches Bundesamt) wird der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung schon in absehbarer Zeit beträchtlich anwachsen: Bis zum Jahr 2030 ist ein Anstieg der über 60 Jahre alten Personen in der Gesamtbevölkerung von 20 auf 36% zu erwarten. Während heute 35 Millionen Erwerbstätigen 12 Millionen Rentner gegenüberstehen, wird sich die Zahl der Erwerbstätigen und Rentner im Jahre 2030 fast die Waage halten.

Mit dem Wandel der Altersstruktur der Bevölkerung vollzieht sich - in enger Verknüpfung mit den Fortschritten der Medizin - auch ein gewaltiger Panoramawandel der Krankheitsbilder: "Der Triumph einer Medizingeneration besiegt nie den Tod, sondern schafft nur Arbeit für die nächste. Die Medizin hat nicht in der Hand, ob man stirbt, sondern nur, woran man stirbt. Die Tbc-Kranken von gestern sind die Dialysepatienten von heute und werden die multimorbiden geriatrischen Fälle von morgen sein" (Walter KRÄMER).

Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich in den letzten 110 Jahren in Deutschland verdoppelt. Die Frage ist berechtigt, inwieweit es sich hier wirklich um "gewonnene Jahre" handelt. "Länger leben und sich schlechter dabei fühlen?" überschreibt Elizabeth WHELAN, Direktorin des American Council of Science and Health,1984 einen Kommentar gegen den "Pessimismus in einer Ära astronomischer Erfolge" der Medizin. Viele kritisch Denkende sehen in dieser Überschrift eine der Gewissensfragen an die heutige Medizin, die es einer immer größeren Zahl von Menschen erlaubt, ein hohes Alter zu erreichen, allerdings um den Preis der Multimorbidität. Die moderne Medizin bedient sich zu einem nicht unerheblichen Maß sogenannter "Halfway-technologies": "Sie rettet uns zwar das Leben, aber macht uns nicht gesund." Gerade die hohe technische Potenz der modernen Medizin macht die Erfüllung des Postulats, nicht Jahre dem Leben hinzuzufügen, sondern den Jahren Leben zu geben, besonders schwierig.

Es lässt aufhorchen, dass moderne Gerontopsychologen heute die Forderung stellen, "Tiere für die einsamen Menschen in den Altenheimen" zuzulassen, damit "bald weniger Depressionen" auftreten (Erhard OLBRICH). Danach sollen alte Menschen ihre Haustiere mit ins Heim nehmen dürfen und in Außengehegen Schafe oder Esel gezüchtet werden. Was betroffen macht, ist die Begründung für diese Empfehlung. OLBRICH führt aus, dass jüngere Menschen in der Konfrontation mit Krankheit, Schmerz und Tod der älteren Menschen mit negativen Emotionen reagieren. Davon seien auch die Angehörigen psychosozialer Berufe betroffen, die in Altersheimen und auf Pflegestationen arbeiten. Immer häufiger zeige sich eine Hilflosigkeit der Helfer gegenüber den Problemen der Alten. Familienmitglieder senden "Signale" an die Kranken und Schwachen, die zu Konflikten im Umgang miteinander führen könnten. Dies sei bei Hunden und anderen Tieren, so die These von OLBRICH, nicht der Fall. Sie vermittelten sozusagen das Gefühl, den Altgewordenen ohne Wenn und Aber anzuerkennen. So wird der Kommunikation mit Tieren gegenüber der Kommunikation mit Menschen der Vorrang gegeben, weil dann "belastende Signale" entfallen.

Praktische Geriatrie macht für den Arzt in und außerhalb der Klinik einen beträchtlichen Teil seiner Arbeit aus. In der Regel ist er für diese Aufgabe nicht ausgebildet worden, also Autodidakt mit allen Konsequenzen. Genausowenig, wie sich die Pädiatrie praktizieren lässt, wenn man Kinder nur als kleine Erwachsene betrachtet, genauso wenig lassen sich geriatrische Probleme lösen, wenn man diese Patientengruppe unter der vereinfachten Formel, dass es sich nur um ältere Erwachsene handelt, betreut.

Der erfolgreiche Umgang mit alten Menschen ist an die Beantwortung folgender Fragen geknüpft:

  • Was sind die psychophysischen Besonderheiten des Alters?
  • Was bedeuten Krankheit und absehbarer Tod im Alter?
  • Was erwartet der alte Mensch von seinem Arzt?


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Die Welt des alten Menschen
So wie es das Kind, den Jugendlichen oder den Erwachsenen nicht gibt, so gibt es auch nicht den alten Menschen bzw. alten Patienten. Diese Erkenntnis ist wichtig, damit nicht eine pauschale Vorstellung von Verhaltens- und Reaktionsweisen alter Menschen als Klischeevorstellung einer individuellen Betreuung im Wege steht. Die Erkenntnis, dass die Reaktion auf das Altwerden und Altsein, die Anpassungsphänomene und die Verarbeitung gänzlich unterschiedlich verlaufen können, ist eine Grundvoraussetzung für den ärztlichen Umgang mit dem alten Menschen.

Weder das Klischee vom einsamen, immer gebrechlicher und hilfsbedürftiger werdenden Menschen stellt eine tragfähige Basis für die Arzt-Patienten-Beziehung im Alter dar noch das ebenso wenig überzeugende Bild des "modernen" alten Menschen, der zahlreiche Aktivitäten entwickelt, um die Welt reist, mit seinen gesundheitlichen Einschränkungen umzugehen weiß, von den vielfältigen Möglichkeiten der modernen Medizin profitiert und um ein Jahrzehnt jugendlicher wirkt als Menschen gleichen Alters noch vor 1 oder 2 Generationen.

Im Umgang mit alten Menschen müssen 3 Grundphänomene berücksichtigt werden:

  • Die Gewichtung der Dinge im Alter wandelt sich.
  • Soziale Kontakte bekommen einen veränderten Stellenwert.
  • Krankheit und vor allem Tod rücken wirklich und nicht nur gedanklich näher.
Was Gesundheit und Krankheit anbetrifft, so kann die andere Gewichtung der Dinge zu polaren Haltungen führen. Krankheit kann im Alter sehr viel mehr, aber auch sehr viel weniger bedeuten als in der Jugend oder in mittleren Lebensjahren. Dies erklärt einerseits Verhaltensweisen, die durch Hypochondrie und nahezu sklavische Befolgung ärztlicher Ratschläge gekennzeichnet sind, andererseits das Phänomen, dass alte Menschen auch von schwerwiegenden Befunden und Diagnosen weitgehend unbeeindruckt bleiben.

Wird Krankheit im Alter als unerträgliche Last oder als permanente Bedrohung erlebt, so wird der Arzt mit einem Angebot an Symptomen überflutet, für die sich in einem diagnostisch hochaktiven Zeitalter rasch ein scheinbar objektives Korrelat und damit eine harte Diagnose finden lässt, die zu zweifelhaften therapeutischen Konsequenzen führt. Dies sind jene alten Menschen, die nur noch in ihrer Krankheit oder für diese leben, alle Fachdisziplinen mit ihren Gebrechen und Beschwerden in Anspruch nehmen und sich dennoch zu keinem Zeitpunkt gesund fühlen. Für den Arzt ist es sehr wichtig, nicht in diese manchmal sehr gut verdeckte Fallgrube der Pseudomultimorbidität zu stolpern, da sie zwangsläufig zu einer unbefriedigenden Arzt-Patienten-Beziehung führen muss.

Den besten Schutz bietet das aktive Zuhören, das Sich- Bewusstmachen dieser potentiellen Quelle von Fehlinterpretationen. Der 2. Schritt muss in der Aufdeckung der Ursachen, die diesem Verhalten zugrundeliegen, bestehen. Den 3. Schritt bildet der - behutsame - Versuch, im Gespräch diese Ursachen dem Patienten bewusst zumachen oder zumindest anzusprechen. Dies kann bei der Bewältigung altersspezifischer Ängste vor chronischer Krankheit, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein und Sterben helfen.

Für den alten Menschen, der seine Befunde, Gebrechen und Krankheiten anscheinend nicht mehr ernst nimmt, ist es wichtig, dass sein Arzt diese Haltung zunächst respektiert. RENOIR, der mit 60 Jahren halbseitig gelähmt war, sagte einfach: "Man braucht keine Hand zum Malen". Hinter einer solchen Haltung muss nicht immer Resignation verborgen sein, sondern es kann sich auch um einen Verdrängungsprozess handeln, der im Idealfall zu neuen Aktivitäten führt. Bekanntlich malte RENOIR bis zu seinem Tode im Alter von 78 Jahren weiter. Farben wurden ihm aus den Tuben auf die Palette gedrückt, Pinsel an das Handgelenk gebunden, und er arbeitete schließlich mit einer Besessenheit, wie er sie vor seiner schweren Krankheit nicht gekannt hatte.



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Die Grenzen
Ein wichtiges Grundprinzip des Umgangs mit alten Menschen lautet: Grenzen erkennen und Grenzen respektieren. Dass nicht jedes Symptom therapiebedürftig ist, sollte zur Grunderkenntnis jedes Arztes gehören. Das gilt in einem noch viel höheren Maße für die Behandlung alter Menschen. Bei ihnen sollten eingefahrene Lebensgewohnheiten, selbst wenn sie medizinisch nicht unbedenklich erscheinen, möglichst wenig berührt werden. Dies ist keineswegs Ausdruck einer resignativen Denkart, sondern eher ein Diktat der Vernunft und das Resultat des Abwägens von Nutzen und Schaden einer Therapieempfehlung.

Viele Lebensgenüsse besitzen im Alter eine andere Bedeutung als in der Jugend. Dies gilt beispielsweise für das Essen, das für viele Menschen zum wesentlichen Lebensinhalt werden kann. Die Formel "Essen ist die Sexualität des Alters" trifft auf ironisierende Weise den Kern dieses Phänomens. Allzu rigorose diätetische Beschränkungen können daher beim alten Menschen starke Widerstände auslösen und übertriebene Anforderungen an die Compliance zur Belastung der Arzt-Patienten-Beziehung führen.

Die Multimorbidität des alten Menschen stellt in besonders hohem Maße eine Verführung zu Überdiagnostik und Übertherapie dar. Sie wird noch gefördert durch eine quasi monokuläre Betrachtung der geklagten Beschwerden und erhobenen Befunde ohne Berücksichtigung des aktuellen sozialen Umfelds und der Lebensgeschichte des alten Menschen.

Der Jugendliche oder der Mensch im mittleren Alter hat häufig noch keine abgeschlossene "Lebensgeschichte". Der alte Mensch blickt jedoch meist auf eine in sich weitgehend abgeschlossene Lebensgeschichte zurück. Oft bildet sie den Hauptinhalt bei Gesprächen mit alten Menschen. Die Kenntnis dieser Lebensgeschichte ist für den Arzt von großer Bedeutung, weil sie einen wirkungsvollen Schlüssel zum Verständnis der Denk- und Verhaltensweisen seines Patienten darstellt.



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Einsamkeit und sozialer Tod
Einsamkeit und das Gefühl des Verlassenseins bestimmt das Leben vieler alter Menschen. In einer italienischen Untersuchung aus Mailand bezeichneten sich 10% der befragten Männer und 13% der Frauen als "sehr einsam", 20% der Männer und 22% der Frauen als "manchmal einsam". In einer kalifornischen Studie an alten Menschen antworteten 57% der Befragten, die ohne Partner lebten, und 16% der Paare auf die Frage, wie sie sich fühlten, mit "sehr allein".

Krankheit kann dann eine ganz andere Funktion bekommen. Sie schafft "... willkommenen Kontakt mit Ärzten, Krankenschwestern oder Mitpatienten. Diese Kontakte sollen Ersatz für manchen versäumten oder verlorenen Lebensinhalt oder Lebenspartner bieten und stellen damit die betreffenden Pflegepersonen vor oft unlösbar erscheinende Aufgaben" (MEERWEIN).

"Alt" wird heute weniger im biologischen als im soziologischen Sinne begriffen. Alt ist der Mensch, der als aktiver Teilnehmer aus dem Kreislauf von Produktion und Konsum in der modernen Industriegesellschaft ausgeschieden ist. Der Ruhestand wird dann als "sozialer Tod" erlebt und kann wie jede Lebenskrise seelische oder körperliche Krankheitszustände im Gefolge haben. Gerade für den beruflich aktiven Mann ist der Übergang in den Ruhestand häufig eine schwer zu bewältigende Lebensphase. HEMINGWAY schreibt: "Der schlimmste Tod für einen Menschen ist der Verlust dessen, was den Mittelpunkt seines Lebens bildet und ihn zu dem macht, was er wirklich ist. Ruhestand ist das abstoßendste Wort der Sprache. Ob man sich freiwillig dazu entschließt oder ob er einem aufgezwungen wird: In den Ruhestand zu treten und seine Beschäftigungen aufzugeben - diese Beschäftigungen, die uns zu dem machen, was wir sind - ist gleichbedeutend mit dem Abstieg in das Grab."

Simone DE BEAUVOIR zitiert in ihrem Buch über das Alter einen jungen Assistenzarzt, der ein Altenheim betreut, in dem Insassen aus unteren sozialen Schichten untergebracht sind: "Am Anfang fragte ich sie, was sie früher getan hätten; sie seien Fahrkartenknipser bei der Metro gewesen oder Hilfsarbeiter, antworteten sie mir und brachen dabei in Tränen aus: damals arbeiteten sie, waren Männer ... ich habe begriffen. Ich stelle keine Fragen mehr."

Die sich auftuende Leere fördert das In-sich-hinein-Horchen, das Sich- Beobachten, das ständige Bewerten und damit auch Überbewerten und Missdeuten körperlicher und anderer Symptome. Dazu Simone DE BEAUVOIR: "Oft wendet der im Ruhestand lebende Mensch seinem Körper all die Aufmerksamkeit zu, die er vorher auf seine Arbeit konzentriert hat. Er klagt über Schmerzen, um zu verbergen, dass er unter einem Prestigeverlust leidet. Vielen dient die Krankheit als Entschuldigung für die gesellschaftlich niedrigere Stufe, die von nun an ihr Los ist. Krankheit kann auch eine Rechtfertigung ihrer Egozentrik sein - der Körper verlangt jetzt ihre ganze Fürsorge. Aber die Angst, die diesem Verhalten zugrunde liegt, ist absolut real."



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Das Erleben von Krankheit im Alter
Es gibt wenige zuverlässige Untersuchungen darüber, wie Krankheit und Gesundheit im Alter wirklich erlebt werden. Dass die Ergebnisse widersprüchlich sind, ist jedoch nicht erstaunlich. Individuelle Lebensgeschichte, Grundeinstellung zu Altern und Alter sowie soziale Prägung sind in hohem Maße variabel.

In einer Zeit und einer Gesellschaft wie der unsrigen, in der auch im Bereich der Medizin alles für machbar deklariert wird, wenn zwar nicht im Augenblick, so doch in naher Zukunft, wo es gegen jede Krankheit ein Medikament, gegen jede Befindensstörung ein Mittel gibt, wo nahezu jedes Organ transplantiert oder durch ein künstliches Organ ersetzt werden kann, wird eine Anspruchshaltung gefördert, die es dem alten Menschen nicht gerade leicht macht, sich damit abzufinden, dass trotz aller Erfolge der Medizin der alte Mensch eben häufig nicht so gut sehen, hören und atmen und nicht so schnell gehen kann wie ein junger.

Das Alter liegt, wie GALEN sagt, "auf dem halben Wege zwischen Krankheit und Gesundheit". Es ist ein "normaler anormaler Zustand". Das Erleben der eigenen Krankheit variiert daher im Alter in weitesten Grenzen. So schreibt LÉAUTAUD: "Und das ist vielleicht das Härteste am Altwerden: das Gefühl, dass man nicht mehr umkehren kann, dass etwas Endgültiges geschieht. Eine Krankheit lässt noch die Möglichkeit offen, dass sie heilbar oder zumindest aufzuhalten ist. Die altersbedingten physischen Evolutionen sind irreparabel, und wir wissen, dass sie von Jahr zu Jahr zunehmen."

Jede Beurteilung des Gesundheitszustandes kann im Alter den Charakter eines "Urteils" haben, weil der alte Mensch ahnt, dass jedes noch so unscheinbare Symptom erstes Zeichen seiner "letzten Krankheit" sein kann. Edmond DE GONCOURT notiert dazu in seinem Journal 1892: "Jahre voller Angst, Tage voller Beklemmungen, da ein kleines Wehweh oder Unwohlsein uns sogleich an den Tod denken lässt."

Und HEMINGWAY, der in seinem Roman "Der alte Mann und das Meer" schreibt: "Ein Mann kann vernichtet, aber nicht geschlagen werden", wird durch seine eigene Lebensgeschichte widerlegt: Als er das Bild, das er ein Leben lang von sich selbst gegeben hatte, und das gekennzeichnet war durch vitalen Überschwang und strotzende Männlichkeit, nicht mehr aufrecht erhalten konnte, tötete er sich mit seinem Jagdgewehr.

Exemplarisch lässt sich dieser pessimistischen Sicht die optimistische Kraft eines Paul CLAUDEL entgegensetzen, der in seinem Tagebuch schreibt: "80 Jahre! Keine Augen mehr, keine Ohren mehr, keine Zähne mehr, keine Beine mehr, kein Atem mehr! Und das Erstaunlichste ist, dass man letztlich auch ohne das alles auskommt!" Und an einer anderen Stelle fährt er fort: "Es stimmt, ich bin etwas taub, etwas blind, etwas impotent, und das alles wird von drei oder vier abscheulichen Gebrechen gekrönt: aber nichts hindert mich zu hoffen."



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Leistungsfähigkeit im Alter
Die Klischeevorstellung, alte Menschen seien unproduktiv, findet in einer Industriegesellschaft, die das Bruttosozialprodukt zum goldenen Kalb erklärt, einen besonders fruchtbaren Nährboden. Eine differenzierende Betrachtungsweise wird den Tatsachen am ehesten gerecht. So hat beispielsweise die Nuffield Foundation im Rahmen einer Erhebung an 15 000 älteren Arbeitern, die ihre Tätigkeit über das 65. Lebensjahr hinaus fortgesetzt hatten, untersucht, welche Fähigkeiten und Eigenschaften sich bei älteren Menschen positiv und welche sich negativ verändern. Die Studie ergab, dass folgende Fähigkeiten und Eigenschaften sich im Alter verbessern: Regelmäßigkeit des Rhythmus. Methodik, Pünktlichkeit, Konzentration und Wachsamkeit, guter Wille, Disziplin, Vorsicht, Geduld und Präzision. Als nachlassende Fähigkeiten und Eigenschaften wurden eingestuft: Sehvermögen und Gehör, Kraft und manuelle Geschicklichkeit, Widerstandsfähigkeit und Wendigkeit, Arbeitstempo, Gedächtnis, Phantasie, Kreativität, Anpassung, Dynamik und Umgänglichkeit.

Auch über das Ausmaß des intellektuellen Abbaus im Alter herrschen teilweise unrichtige Vorstellungen. Nach HOYER weisen nur 7% der 10 Millionen über 65jährigen der Bundesrepublik eine schwere und 10% eine mittlere Demenz auf. Insgesamt gesehen leiden nur 20% der alten Menschen an einer Zerebralinsuffizienz von nennenswerter praktischer Bedeutung. Zu berücksichtigen ist ferner, dass eine Einschränkung intellektueller Fähigkeiten manchmal nur durch andere Erkrankungen (z. B. depressive Verstimmung) vorgetäuscht wird. Oft ist sie das Resultat einer Unterforderung: Untersuchungen an alten Krankenhauspatienten haben gezeigt, dass es bereits nach wenigen Wochen stationärer Behandlung, die nur aus der notwendigen medizinischen Versorgung besteht und bei der soziale Kontakte, Anregungen und Angebote zur Beschäftigung vernachlässigt werden, zu einem messbaren Absinken des Intelligenzquotienten kommt. Eine häufig unterschätzte Ursache der Zerebralinsuffizienz im Alter ist der Missbrauch von Alkohol und Tabletten, insbesondere von Tranquilizern und Schlafmitteln. Obwohl die über 70jährigen in der Bundesrepublik Deutschland nur 10% der Gesamtbevölkerung ausmachen, erhalten sie 75% aller Psychopharmaka. 25% der alten Menschen, die in einer Familie leben, 50% der Insassen von sogenannten Seniorenheimen und 75% der alten Menschen in Pflegeheimen bekommen regelmäßig Psychopharmaka.



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Gespräch und Umgang mit alten Patienten
Das erfolgreiche ärztliche Gespräch mit alten Menschen ist an eine Reihe von Voraussetzungen und Erkenntnissen gebunden:
  • Die Erkenntnis, dass es den alten Menschen nicht gibt, sondern dass es sich dabei um eine Klischeevorstellung handelt. Es gibt jedoch, was Gesundheit und Krankheit angeht, typische Verhaltens- und Reaktionsmuster im Alter. Das Spektrum reicht von der reisignativ-passiven Haltung des alten Menschen, der nichts mehr erwartet, bis zu dem Phänomen, dass Krankheit zum einzigen und letzten bestimmenden Lebensinhalt wird.
  • Die Lebensgeschichte des alten Menschen ist ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis seines Krankheitserlebnisses.
  • Im Alter gelten besondere diagnostische und therapeutische Grenzen.
  • Der Arzt ist oft der einzige und letzte soziale Kontakt des alten Menschen.
Dem verstärkten Bedürfnis des alten Menschen nach Kontakt stehen nicht selten alterstypische Barrieren im Wege: Schwerhörigkeit, Sehbeeinträchtigung, Immobilität, mangelnde Hautsensibilität und Gedächtnisstörungen, die es ihm erschweren, die Namen der Ärzte und Schwestern zu behalten und sich zu orientieren. Die geduldige Berücksichtigung dieser Hemmnisse ist eine wesentliche Voraussetzung für die Herstellung eines funktionsfähigen Kontakts. Feste Bezugspersonen, insbesondere im Krankenhausalltag, sind für den alten Menschen von besonderer Bedeutung. Daher ist es besonders wichtig, dass er Gelegenheit bekommt, sich die Namen seiner Betreuer zu merken.

Ein besonderes Problem bei der Betreuung alter Menschen können die Angehörigen bilden. Das eine Extrem ist die "überprotektive Tochter" oder der "überbesorgte Sohn", die Ärzten, Schwestern und dem Krankenhaus überkritisch, misstrauisch und fordernd gegenüberstehen, das andere Extrem stellen die Angehörigen dar, die vor Feiertagen oder zu Beginn der Urlaubszeit regelmäßig die "Noteinweisung" des alten Menschen ins Krankenhaus forcieren. Viele aus diesen Situationen entstehende Probleme lassen sich besser verstehen und angehen, wenn die Lebensgeschichte des Patienten und die Situation seiner Familie bekannt sind. Manche Verhaltensweise stellt sich dann unter Umständen aus dem Leidensweg einer Familie in einem anderen Licht dar. Auch sollte es der Arzt möglichst vermeiden, sich in eine Richterrolle den Angehörigen gegenüber drängen zu lassen. Die scheinbar berechtigte Kritik am Verhalten der Angehörigen führt nicht selten dazu, dass Arzt oder Ärztin für den alten Menschen in einer Art Übertragung zum "guten Sohn" oder zur "guten Tochter" gemacht werden. Dieses psychologische Phänomen führt aber nur zu einer vorübergehenden Entlastung, denn indirekt verstärkt es die Spannung zwischen dem Patienten und seinen Angehörigen und verschlechtert damit die Voraussetzung für die weitere Betreuung nach der Entlassung aus dem Krankenhaus.

Es gibt typische Fallgruben im Gespräch mit älteren Patienten:

  • das Nichterkennen einer Pseudomultimorbidität als Ausdruck einer untergründigen Lebensangst.
  • Diagnostizieren und Behandeln, obwohl der Patient eigentlich weder Diagnose noch Therapie, sondern sozialen Kontakt sucht.
  • Verkennen, dass Krankheit im Alter besonders häufig Maske, Mittel oder Signal ist: Verdecken von Einsamkeit, Überspielen von Prestigeverlusten, Erzwingen von Zuwendung, Suche nach Kontakt.
  • Verkennen, was in Wirklichkeit hinter "organisch" steckt: depressive Verstimmungszustände, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit
Im Gespräch und Umgang mit alten Menschen gibt es eine (lange) Reihe typischer Fehlverhaltenweisen:

Entmündigungsstrategien, die sich in Herablassung, infantilvisierenden Redewendungen und Verwendung des "Pluralis majestatis" ausdrücken ("Waren wir heute schon auf dem Töpfchen?"). Dieses Verhalten verstärkt das Gefühl der Hilflosigkeit und Unselbständigkeit und fördert regressive Tendenzen, die an sich schon relativ oft bei älteren Kranken vorkommen. Die Anrede mit "Opa" und "Oma" ist typisch für diesen Gesprächsstil.

  • Verharmlosung und Bagatellisierung. Beliebte Satzhülsen, wie "... das ist halb so schlimm", "... es wird schon wieder werden", "... das hat nichts zu sagen", "... das kriegt fast jeder ältere Mensch" usw., sind das Gegenteil einer empathischen Haltung und verhindern in aller Regel eine tragfähige Arzt-Patienten-Beziehung.
  • Formulierungen, die dem alten Menschen seine Gedächtnis- und Merkfähigkeitsprobleme vor Augen führen ("... das haben Sie mir schon ein paar Mal erzählt", "... es ist immer wieder das Gleiche, worüber Sie klagen", "... Sie müssen sich doch erinnern, ob Sie diese Tabletten gestern eingenommen haben oder nicht").
  • Pädagogische Zurechtweisungen ("Alte Leute weinen nicht").
Im Gespräch muss ausgelotet werden, welches Gewicht medizinische Befunde für den alten Menschen besitzen. Der alte Mensch, der Kranksein als ständige Bedrohung und Mahnung an den Tod erlebt, neigt häufig dazu, mit größter Akribie unbedeutende und minimale Befunde zu registrieren, zu gewichten und zu notieren. Kleinste Schwankungen von Blutdruck, Blutzucker, Augeninnendruck oder Pulsfrequenz erhalten ein überdimensionales Gewicht. Hier muss der Arzt Spürsinn und eine besondere Klugheit in der Formulierung von Befunden an den Tag legen und sich für seine Worte im Gespräch der Goldwaage bedienen.

Unterforderung ist wahrscheinlich eine weit unterschätzte häufige Ursache von Befindensstörungen und Krankheiten im Alter. Gerade der heutige alte Mensch leidet nicht selten unter einem Gefühl der Nutzlosigkeit. Sie resultiert aus dem Paradoxon, dass alte Leute sich heute einer besseren Gesundheit erfreuen als früher, also länger "jung" bleiben, aber früher in den Ruhestand treten. Mit anderen Worten: Sie erleben ihre Untätigkeit stärker als die alten Menschen in früheren Zeiten. Alle Gerontologen sind sich darüber einig, dass es psychologisch und soziologisch unmöglich ist, die letzten 20 Jahre in guter körperlicher Verfassung, aber ohne nützliche Tätigkeit hinter sich zu bringen. Denn das "bloße Überleben" ist schlimmer als der Tod.

Die moderne Gerontopsychologie lehrt, das beim alten Menschen das Grundgefühl der "erlebten Unveränderlichkeit" maßgeblich ist für depressive Verstimmungen und den Abbau von Kompetenzen, wobei Kompetenz als Fähigkeit definiert wird, Anforderungen zu bewältigen, die im angemessenen Verhältnis zu den eigenen Ressourcen stehen. Die meistgeübte Praxis der fürsorglich-freundlichen Sorge und der Entlastung durch Verwahrung stärkt aber gerade dieses Gefühl der erlebten Unveränderlichkeit und reduziert in einer Art Teufelskreis Fähigkeiten und Kompetenzen. Wahrscheinlich wirkt eine Mischung aus Forderungen und Hilfestellungen durch Ärzte und medizinisches Personal bei der Behandlung alter Menschen dieser ungünstigen Entwicklung am besten entgegen. Ein "milder Stress" ist offenbar das adäquate Mittel, um kognitive und physische Kompetenz im Alter zu erhalten.
 

Grundlagen der Gesprächsführung und Betreuung alter Menschen
1. Leitsatz: Grenzen erkennen und respektieren!
2. Alterstypische Kommunikationsbarrieren berücksichtigen (Schwerhörigkeit, Sehbeeinträchtigung, Immobilität, Gedächtnisstörungen).
3. Auf spezifische Fallgruben achten: 
- Pseudomultimorbidität,
- lavierte Syndrome (Depression, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit),
- Krankheit als Maske, Mittel oder Signal.
4. Lebensgeschichte berücksichtigen.
5. Kommunikative " Todsünden" meiden:
- Verharmlosung und Bagatellisierung, 
- Entmündigungsstrategien,
- Belehrungen.
6. Feste Bezugsperson in den Therapieplan einbeziehen.
7. "Milder Stress" anstatt totaler Versorgung (Anstoß zu aktiver Lebensgestaltung).
8. Arzt oft wichtigster sozialer Kontakt.
9. Mehr Gespräche und weniger Medikamente!

Ein gewisses Maß an Selbstverantwortung bei der Bewältigung des Alltags erhält nicht nur die Lebensfreude, sondern auch das Leben des alten Menschen selbst. Dies wurde eindrucksvoll durch eine amerikanische Studie belegt: In einem Altersheim wurde eine Gruppe der Bewohner ermutigt, ihr Leben selbst zu organisieren, ihre Mahlzeiten und Unternehmungen selbst zu planen und ihre Wohnverhältnisse nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Die Vergleichsgruppe dagegen wurde freundlich umsorgt, indem ihr das Pflegepersonal alle Aufgaben abnahm. Das Ergebnis der Studie war beeindruckend: Bereits nach 11/2 Jahren war in der total versorgten Gruppe eine doppelt so hohe Anzahl an Altenheimbewohnern gestorben wie in der Gruppe derer, die ihre Lebensgestaltung selbst in die Hand genommen hatten. Die ärztliche Betreuung alter Menschen sollte demnach darauf abzielen, durch eine stärkere Selbstbestimmung des alten Menschen der "erlebten Unveränderlichkeit" mit ihren fatalen Konsequenzen entgegenzuwirken.

Der alte Mensch bedarf nicht (nur) aller Segnungen einer hochtechnisierten Medizin. Hier sind auch andere Qualitäten gefragt. Dazu Horst BEREWSKI, Psychiater in Berlin: "Gerade der alte Mensch benötigt Ermunterung, Stärkung, konstante Zuwendung und die Programmierung von Erfolgserlebnissen. Hier reichen oft bescheidene Mittel aus, wie die regelmäßige, kurze, aber intensive Zuwendung durch Gespräche, Beseitigung bestimmter Schwierigkeiten im psychosozialen Bereich, Hilfen durch die Umgebung, Training des allgemeinen Lebensablaufs, um eine adäquate Stabilisierung und damit oft auch ein Verschwinden der Symptome zu gewährleisten."
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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