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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Bekenntnis - statt eines Vorworts 

Einleitung

Warum Gespräche misslingen

 
Sprechend ist der ganze Mensch
gegenwärtig, und so kann es
nicht ausbleiben, dass sich in
der Sprache alles Menschliche
bezeugt, niederschlägt und
ablagert. Das Menschliche, das
Allzu-Menschliche und auch das
Unmenschliche.
Dolf Sternberger
Bekenntnis - statt eines Vorworts
  • Statt zuzuhören, habe ich gesprochen.
  • Weil ich die falschen Fragen gestellt habe, habe ich nicht die richtigen Antworten erhalten.
  • Ich habe meine Patienten missverstanden, weil ich die verschiedenen Botschaften des Sprechens nicht erkannt oder verwechselt habe.
  • Statt Empathie entgegenzubringen, habe ich mich "professionell" verhalten.
  • Statt den Patienten anzunehmen, habe ich ihn abgewiesen.
  • Die Gespräche mit meinem Patienten waren für beide Teile unbefriedigend, weil ihnen der richtige Anfang, eine klare Zielsetzung und ein konkreter Abschluss fehlten.
  • Ich habe Zeitdruck erzeugt und Zeitdruck spüren lassen.
  • Ich habe angeordnet, statt zu motivieren.
  • Ich habe Patienten als sogenannte schwierige Patienten behandelt.
  • Ich habe Ängste verkannt und Ängste im Gespräch ausgelöst.
  • Ich habe nicht verstanden, dass die Wirklichkeit meines Patienten und meine Wirklichkeit nicht identisch waren.
  • Ich habe mir nicht bewusst gemacht, dass die Sprache das wichtigste Instrument des Arztes ist.
Kurzum: Ich habe mich verhalten wie viele meiner Kollegen. Damit habe ich Chancen vertan, Hoffnungen enttäuscht und mich selbst um einen Teil der Früchte meiner Arbeit betrogen. Heute weiß ich, dass das richtige Gespräch zwischen Arzt und Patient nahezu alles bewegen kann und sich ohne das richtige Gespräch fast nichts bewegt. Dieses Buch ist der persönliche Versuch, die Wege zum richtigen Gespräch zwischen Arzt und Patient aufzuzeigen.


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Wir reden von Kommunikation, aber was wir wirklich brauchen, sind Menschen, die mit uns lachen und weinen, denen wir unsere Alpträume erzählen können ... 
Und mehr als alles brauchen wir jemanden, mit dem wir reden können. 
Katharina Zimmer, in DIE ZEIT
 
Mir ist schon immer aufgefallen, dass es keine wissenschaftliche Arbeit über die Sprache der Kranken gibt. 
Paul Lüth
Einleitung
Dass Arzt und Patient miteinander sprechen, ist scheinbar die selbstverständlichste Sache der Welt. Ist nicht ein ganzes Buch zum Thema "Arzt und Patient im Gespräch" ein überflüssiges Buch? Bevor ich die Frage beantworte, möchte ich den Leser an einer Vision teilnehmen lassen.

Ein Arzt betritt wortlos ein Krankenzimmer. Im Bett liegt ein endsechzigjähriger abgemagerter Mann, der den Arzt erwartungsvoll ansieht. Der Arzt macht den rechten Arm des Patienten frei, legt die Staubinde an, punktiert eine Vene, führt einen Venenkatheter ein, hängt eine Infusionsflasche an und stellt eine bestimmte Tropfenzahl ein. Er vergewissert sich, dass die Infusion richtig läuft, dann geht er - wortlos, wie er gekommen ist - zur Tür. Diese gespenstisch anmutende Szene wird noch beklemmender, wenn man die Vision weiterverfolgt: Bevor der Arzt die Tür erreicht, richtet sich der Kranke mühsam auf und fragt: "Entschuldigung, Herr Doktor, darf ich fragen, was Sie da gemacht haben?" Der Arzt dreht sich um und antwortet mit unbewegtem Gesicht: "Sie haben Lungenkrebs, und ich habe Ihnen eine Fusion zur Behandlung Ihrer Krebserkrankung angelegt."

Die Mehrzahl der Leser wird diese Vision für absurd halten. Wer wird einem Krebskranken eine Infusion mit Chemotherapeutika anlegen, ohne ihm zu sagen, welche Erkrankung vorliegt, was das Behandlungsziel ist, mit welchen Nebenwirkungen gerechnet werden muss und wie die Erfolgsaussichten sind? Und welcher Arzt wird in einer derart komprimierten Form ohne Wenn und Aber einem Kranken eröffnen, dass er soeben begonnen hat, ihn wegen einer Erkrankung zu behandeln, die mit Wahrscheinlichkeit in Kürze tödlich verläuft?

Woraus resultiert das Gespenstische und scheinbar Absurde dieser Vision? Die Antwort ist einfach: Im 1. Teil der Vision wirkt das gesamte Szenario deshalb so beklemmend und unbegreiflich, weil zwischen Arzt und Patient kein einziges Wort gefallen ist. Es ist die Vision einer absolut sprachlosen Medizin. Sie steht für das Unbehagen, das uns angesichts der Verdrängung der Sprache durch Technik in der heutigen Medizin befällt und das Paul LÜTH folgendermaßen beschreibt: "Wo unsere moderne Medizin erfolgreich ist, in den schweren Fällen, ist sie stumm. Das Wort ist Schnörkel, Beilage, jedenfalls kein genuiner Bestandteil der Therapie. Die Therapie ist averbal. Das erzeugt das Unbehagen an der modernen, der erfolgreichen Medizin."

Aber auch der 2. Teil der Vision wirkt bedrückend, und dies letztlich aus dem gleichen Grund: Auch hier hat ein ärztliches Gespräch nicht wirklich stattgefunden. Was stattgefunden hat, ist ein Kommunikationsvorgang, der gegen alle elementaren Regeln des Gesprächs zwischen Arzt und Patient verstößt und - wenn es diesen Begriff gäbe - am zutreffendsten als "Ungespräch" zu bezeichnen wäre.

Natürlich stellt sich die Frage: Ist diese Vision nicht völlig absurd und eigentlich im ärztlichen Alltag undenkbar? Fakten und eine kurze Auswahl authentischer Beispiele sind möglicherweise die beste Antwort - auch auf die Frage, ob ein Buch über Arzt und Patient im Gespräch ein überflüssiges Buch ist.
1. Beispiel (oder: Kommt der Patient zu Wort?):

Die amerikanischen Soziologen Dr. Howard BECKAN und Richard FRANKEL von der Wayne State Medical School in Detroit analysierten 74 heimlich mit der Videokamera aufgenommene Praxisgespräche. Ergebnis: Im Durchschnitt wurde jeder Patient schon nach 18 Sekunden vom Arzt im Gespräch unterbrochen. Nur ein Viertel der Patienten schaffte es überhaupt, die Schilderung ihrer Beschwerden bis ans Ende zu führen.
2. Beispiel (oder: Warum sind Patienten mit ihrem Arzt unzufrieden?) :

Der Lehrbeauftragte für "Humanität in der Medizin" an der Universität Los Angeles, Dr. Norman COUSINS, ist der Frage nachgegangen, welche Gründe Patienten dazu bewegen, ihren Arzt zu wechseln. Befragt wurden 1000 Patienten, die innerhalb von 5 Jahren ihren Arzt gewechselt hatten oder es in nächster Zeit tun wollten. 563 der 1000 verschickten Fragebogen kamen zurück. Hier eine Auswahl typischer Begründungen für den Arztwechsel: "Ich hatte den Eindruck, mein Arzt wollte meine Beschwerdeschilderung gar nicht hören, er schien es sehr eilig zu haben, mich an die Apparatemedizin weiterzuleiten." "Ich verstand gar nicht, was mir der Doktor erklärte, und war zu verwirrt und ängstlich, Fragen zu stellen." Die Kunst des Anhörenskönnens ist für den Arzt wichtiger als das Sprechen."
3. Beispiel (oder: Die Fähigkeit, mit Angehörigen zu sprechen) :

Der Rat eines Krankenhausarztes (im Jahre1985) an die Ehefrau eines Patienten mit multipler Sklerose lautete im Hinblick auf die zu erwartenden Potenzschwierigkeiten:
"Ihr Mann hat MS, Sie sollten sich scheiden lassen!" (G.H. SEIDLER).
4. Beispiel (oder: Sind EDV-Anlagen bessere Gesprächspartner?) :

Das St. Silicons Hospital in Cleveland/Ohio ist auf keinem Stadtplan verzeichnet. Es ist nämlich kein Krankenhausgebäude, das man aufsuchen kann, sondern ein Computersystem, bei dem Patienten um Rat fragen können. Es beantwortet Fragen wie: "Gibt es verschiedene Arten von Brustkrebs?", "Was ist Herzflimmern?", "Hilft eine Schockbehandlung bei Schizophrenie?" In den USA können Patienten Fragen in ihren Heimcomputern eintippen und erhalten Antworten vom "Fachmann"; vom "Doc in the Box". Dieses Programm, das Privatpersonen gegen eine geringe Gebühr zur Verfügung steht, wurde von der Western Reserve Medical School in Cleveland entwickelt. Der Patient richtet seine Fragen direkt an das Informationssystem, wo sie zunächst elektronisch gespeichert werden. Ärzte gehen mehrmals am Tage den aktuellen Katalog durch, formulieren Antworten und schicken sie auf elektronischem Weg zurück an den Fragesteller. Mittlerweile sind über 700 typische Fragen in dem System gespeichert.

Thomas GRUDNER, Entwickler des Programms, betont, dass das Computersystem in keinem Fall den Arztbesuch ersetzen soll. Es bietet lediglich persönliche Tipps und keine echte Diagnose. Allerdings betont GRUDNER auch, dass Patienten über den Computer häufig Fragen stellen, die sie in der Arztpraxis nicht stellen würden. GRUDNER: "Wir lernen daraus, in Zukunft besser auf den Patienten einzugehen".
5. Beispiel (oder: Ist es schwierig, zwischen Arzt und Patient eine gemeinsame Wirklichkeit aufzubauen?) :

In ihrem Buch "Gespräche gegen die Angst" beschreibt die1983 an Krebs verstorbene Professorin für Psychologie Anne-Marie TAUSCH folgende Begebenheit: Eine Patientin, die darüber klagte, dass ihr durch die Chemotherapie die Haare ausfielen, bekam von ihrer Ärztin folgende Antwort: "Ist denn Haarverlust ein Ich-Verlust? Das verstehe ich gar nicht, dass das Ich so in den Haaren liegt."
6. Beispiel (oder: Ein Exempel des Umgangs mit Krebspatienten?) :

Anne-Marie TAUSCH beschreibt in ihrem Buch, wie sie selbst über ihre Krebserkrankung aufgeklärt wurde: "Auch mir wurde die Diagnose Krebs im Krankenhaus mitgeteilt. Die Ärztin kam zu der üblichen Visite und berichtete kurz von dem Ergebnis der histologischen Untersuchung. Dann begann sie sofort über die Behandlung zu reden. Sie stand am Fußende meines Bettes, nicht neben mir. Dann streckte mir die Schwester, die die Ärztin bei der Visite begleitete, wortlos das Fieberthermometer hin. Für sie war nur wichtig, meine Temperatur vorschriftsmäßig zu messen. Ich spürte deutlich, dass beide kaum an meinem Schmerz Anteil nahmen.
Gerade diese Szene aus dem klinischen Alltag steht exemplarisch für nahezu alle Fehler und Todsünden, die im Gespräch zwischen Arzt und Patient begangen werden können: Eine schicksalsentscheidende Diagnose wird der unvorbereiteten Patientin in knappen Worten ohne erkennbare Anteilnahme mitgeteilt. Das Gespräch ist völlig asymmetrisch, nur die Ärztin spricht, Die Patientin kommt gar nicht zu Wort, obwohl die Eröffnung der Krebsdiagnose eine Fülle drängender Fragen aufwirft. Daneben läuft - sozusagen auf einer anderen Wirklichkeitsebene - das Ritual pflegerischer Maßnahmen ab. Statt menschlicher Zuwendung zu erfahren, wird die Patientin aufgefordert, die Körpertemperatur zu messen. Die Ärztin geht räumlich auf Distanz und signalisiert so auch durch die Körpersprache ihre Abwehr oder Unfähigkeit, sich auf ihre Patientin einzulassen.

Natürlich sind einige dieser Beispiele Extreme und wurden nicht deshalb ausgewählt, weil sie häufige Situationen widerspiegeln, sondern weil sie die grundsätzliche Problematik von Kommunikationsstörungen zwischen Arzt und Patient in besonders scharfem Licht erkennen lassen. Die Mehrzahl problematischer Gespräche zwischen Ärzten und ihren Patienten verlaufen viel undramatischer - allerdings nur bei vordergründiger Betrachtung. Die Ausleuchtung der Hintergründe lässt erkennen, dass es sich aus der Perspektive des Patienten um alles andere als belanglose Dinge handelt. Diese Gespräche sind nun tatsächlich an der Tagesordnung.

Ein besonders anschauliches Beispiel dafür gibt A. BENJAMIN in seinem Buch "The Helping Interview" (2. Aufl.1974): " ,Warum haben Sie die Tabletten denn nicht genommen? Habe ich Ihnen nicht gesagt, wie wichtig es ist, dass Sie sie nehmen?‘ Dabei kämpfte Frau Bell mit den Tränen. Sie wusste, dass es der Arzt gut meinte, sie wusste auch, dass er viel zu tun hatte und wie lange es dauern würde, wenn sie versuchen wollte, ihm zu erklären, warum. Sie wusste zwar genau, warum sie die Tabletten nicht genommen hatte. Sie wusste zwar nicht, ob das richtig oder falsch war; aber das kümmerte sie letztlich nicht. Sie wusste, dass es ihr ziemlich gleichgültig war, ob sie wieder gesund würde. In Wirklichkeit kümmerte man sich mehr um sie, wenn sie krank war. Sie wusste manches - über ihre Kinder und deren Kinder und wie man sie in dieses Heim gesteckt hatte. Und über dieses Heim ... Darüber wusste sie auch eine Menge. Aber der Doktor wollte wissen, warum sie die Tabletten nicht genommen hatte, und darum sagte sie schnell: ‚Ich nehme sie von jetzt an, Herr Doktor. Sie werden sehen.‘ Der Doktor war zufrieden. Er lächelte, gab ihr zum Abschied die Hand und machte ihr die Tür auf. In Wirklichkeit wollte er gar nicht wissen, warum. Er wollte nur, dass sie ihre Medizin einnahm.

Er mochte die alte Dame, aber er war viel zu beschäftigt, um noch mehr Zeit für sie aufzuwenden ..."

Kommunikationsstörungen zwischen Arzt und Patient sind so alt wie die Medizin selbst, denn das Miteinander-Sprechen beinhaltet grundsätzlich auch das Einander-Missverstehen. Im Gespräch zwischen Arzt und Patient gewinnt das Missverständnis allerdings eine besondere Bedeutung und Tragweite. Mit dem ständig wachsenden technischen, pharmakologischen und wissenschaftlichen Potential der Medizin wächst auch die Gefahr tiefgreifender Kommunikationsstörungen. Professionalität und Spezialisierung nehmen in allen Sparten der Medizin immer stärker zu. In der Fähigkeit mit dem Patienten zu sprechen, kommen viele Ärzte aber kaum über den Status des Amateurs oder Autodidakten hinaus. Selbstverständlich gibt es auch unter den Ärzten auf dem Gebiet der Gesprächsführung Naturtalente. Aber Profis haben Seltenheitswert.

In seinem Buch "Die ärztliche Visite - Chance zum Gespräch" (1986) nennt Thomas BLIESENER eine wesentliche Ursache der Verständigungsprobleme von Ärzten im Umgang mit ihren Patienten: "Wer Computer, Wertpapiere oder Betablocker verkaufen will, erhält gewöhnlich ein besseres Training in Gesprächsführung als ein Arzt, der einem Patienten bei der Genesung helfen möchte. Es gibt hochspezialisierte professionelle Redetrainings für Vertreter und Referenten aller Produktbereiche. Für den Arzt gibt es eine solche Redeschulung nicht. Der Arzt bleibt mit seinen Problemen in der Gesprächsführung weitgehend allein."

Das Ritual des kurzen, sachlich-freundlichen, anscheinend völlig unproblematischen Gesprächs, das täglich unzählige Male in der Sprechstunde oder während der Visite abläuft, überdeckt besonders leicht die in Wirklichkeit bestehende grundlegende Kommunikationsstörung zwischen Arzt und Patienten. Dazu M. HERTL: "Wie oft induziert ein Arzt beim Patienten das Gefühl, er müsse auf die Frage "Wie geht es?" nur schnell und kurz "gut" antworten, um den geplagten Arzt nicht in Unannehmlichkeiten zu bringen. Denn würde er wahrheitsgemäß sagen, es gehe ihm schlecht, müsste der Arzt insistieren, weiterfragen, erwägen, eine Hilfe suchen, und ob dieser Arzt in seiner Eile dabei noch guter Laune bleibt, wenn ihn der Patient so in Anspruch nimmt, das möchte so mancher Kranke bezweifeln. Es spielt sich also leicht in den Gesprächen zwischen Arzt und Kranken eine Begegnungsform ein, die nur oberflächlich die Merkmale einer freundlichen Kommunikation hat, in der Tiefe aber ohne Wahrheit und ohne Erfolgsaussichten ist."

"Für das Gespräch gibt es keinen Ersatz" - in einem Essay mit diesem Titel setzt sich Wolfgang CYRAN kritisch mit der Verführung der Medizin durch die Technik und den daraus resultierenden Folgen auseinander: "In dem Bemühen um ausschließliche Objektivierung wird über den von Apparaten und Labortests gelieferten Befunden vergessen, dass das Leben objektiv und subjektiv zugleich ist. Nicht nur in der Medizin führt diese Illusion einer objektiven Wissenschaftlichkeit zu destruktiven und dehumanisierenden Ergebnissen, weil alles Subjektive und Emotionale als unwichtig betrachtet wird ... Bei der Diagnose von Störungen der Körperfunktion darf das mechanistische Maschinenmodell auch deshalb nicht zugrunde gelegt werden, weil es dazu verführt, Daten allzu unbekümmert zu gewinnen. Dieses in der Physik des 19. Jahrhunderts entstandene Maschinenmodell wird kurioserweise in der Medizin beibehalten, obwohl die moderne Physik längst bei ganz anderen Positionen angelangt ist. Das liegt sicherlich zu einem großen Teil eben auch an der Technisierung der Medizin; aus alldem folgt einerseits die emotionale Sprachlosigkeit des Arztes und andererseits die Not des Kranken."



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Warum Gespräche misslingen
Das unbefriedigende Gespräch zwischen Arzt und Patient ist keine Ausnahme, sondern bei selbstkritischer Betrachtung an der Tagesordnung. Kenner der Materie, wie Thomas BLIESENER, nennen beispielsweise die Visite schlichtweg einen "verhinderten Dialog". Praktisch alle Kommunikationsstörungen in der Medizin lassen sich auf 3 Grundursachen zurückführen:
  1. Nichterkennen, dass das Gespräch das wichtigste Instrument des Arztes ist.
  2. Mangelhafte Gesprächstechnik.
  3. Störungen des Arzt-Patienten-Verhältnisses.
Aus diesen 3 Ursachen lässt sich die lange und mit Sicherheit nicht vollständige Liste der Gründe ableiten, die zum Misslingen von Gesprächen zwischen Arzt und Patient führen:
  • verfehlter Gesprächsbeginn,
  • unzureichende Strukturierung des Gesprächs,
  • fehlender Gesprächsabschluss,
  • Unfähigkeit, aktiv zuzuhören,
  • unverständliche oder missverständliche Sprache,
  • unangemessener Gesprächsrahmen (Ort, Zeitpunkt, Umstände des Gesprächs),
  • verschwommene Diktion (als Ausdruck verschwommener Begriffe),
  • Zulassen von "Gesprächsstörern", Nichtbenutzen von "Gesprächs-Förderern",
  • Verwendung von Verallgemeinerungen, kommunikativen Unverbindlichkeiten und sogenannten "Killerphrasen",
  • Nichterfassen der verschiedenen Botschaften einer Nachricht,
  • Abweisungsstrategien (Hinhalten, Leerlaufenlassen, Überfahren, Bagatellisieren, Verlagern, Nichtbeachten),
  • Reglementieren statt Motivieren,
  • Induzieren von Ängsten,
  • Einstufung des Gesprächspartners als "schwierig",
  • fehlende Metakommunikation,
  • Unfähigkeit, eine gemeinsame Wirklichkeit aufzubauen.
Viele Ärzte sind sich nur unterschwellig bewusst, dass ihre Gespräche unbefriedigend verlaufen, unbefriedigend für den Patienten und unbefriedigend für sie selbst. Unbefriedigend für den Patienten, weil er sich mit seinem Problem, seiner Situation oder seinem Konflikt nicht verstanden oder angenommen fühlt. Weil er spürt, dass der Arzt seine Krankheit anders versteht, als er sie selbst erlebt, dass seine Welt und die des Arztes nicht die gleichen sind. Der Arzt bleibt ebenso unbefriedigt zurück, weil er sich mit seiner Sicht der Krankheit seines Patienten offenbar nicht wirklich verständlich machen konnte, denn: Der Patient folgt ihm nicht oder nur unzureichend, er sträubt sich gegen offensichtlich sinnvolle Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen, seine Therapietreue lässt zu wünschen übrig. Diese Gespräche ermüden und erschöpfen den Arzt, machen ihn lustlos und aggressiv, denn auch er erkennt oder spürt zumindest untergründig, dass die Wirklichkeit seines Patienten und seine Wirklichkeit nicht identisch sind. Dann empfindet er das Sprechen als Last, eine Bürde, die ihm tagtäglich aufgeladen wird und mit der er sich über die Runden schleppen muss. Und es bleibt ihm die Einsicht verschlossen, dass die Sprache sein wichtigstes Instrument ist, dass Sprechen und Gesprochenes zu hören und zu verstehen ein einzigartiges Privileg des Menschen ist, dass eine Medizin, die sich nicht aller Möglichkeiten der sprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikation bedient, immer unzulänglich bleiben muss, dass eine sprachlose Medizin letztlich eine inhumane Medizin ist.

George ORWELLS Roman "1984" enthält eine glänzende Darstellung der Macht der Sprache am Beispiel der Manipulation durch Sprache:

"Der Wortschatz der Neusprache war so konstruiert, dass jeder Mitteilung, die ein Parteimitglied berechtigterweise machen wollte, eine genaue und oft sehr differenzierte Form verliehen werden konnte, während alle anderen Inhalte ausgeschlossen wurden, ebenso die Möglichkeit, etwa auf indirekte Weise das Gewünschte auszudrücken. Das wurde teils durch die Erfindung neuer, hauptsächlich aber durch die Ausmerzung unerwünschter Worte erreicht und indem man die übriggebliebenen Worte so weitgehend wie möglich jeder unorthodoxen Nebenbedeutung entkleidete. Ein Beispiel hierfür: Das Wort frei gab es zwar in der Neusprache noch, aber es konnte nur in Sätzen wie ,dieser Hund ist frei von Flöhen’ oder ,Dieses Feld ist frei von Unkraut’ angewandt werden. In seinem alten Sinn ,politisch frei’ oder 'geistig frei' konnte es nicht gebraucht werden, da es diese politische und geistige Freiheit nicht einmal mehr als Begriff gab und infolgedessen auch keine Bezeichnung dafür vorhanden war."

Syme sagt zur Hauptfigur des Romans, Winston Smith: "Siehst du denn nicht, dass die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite des Gedankens zu verkürzen? Zum Schluss werden wir Gedankenverbrechen buchstäblich unmöglich gemacht haben, da es keine Worte mehr gibt, in denen man sie ausdrücken könnte. Jeder Begriff, der jemals benötigt werden könnte, wird in einem einzigen Wort ausdrückbar sein, wobei seine Bedeutung streng festgelegt ist und alle seine Nebenbedeutungen ausgetilgt und vergessen sind ... Mit jedem Jahr wird es weniger und immer weniger Worte geben, wird die Reichweite des Bewusstseins immer kleiner und kleiner werden."

"Das Sprechen" so sagt der große amerikanische Linguist Benjamin Lee WHORF, "ist die beste Leistung des Menschen. Es ist ganz eigentlich sein ,Akt’ auf der Bühne der Evolution, in welchem er vor der Kulisse des Kosmos tritt und wirklich seine Rolle spielt."

Die Sprache ist das Bezugssystem, in dem der Mensch denkt, in dem er seine eigene Wirklichkeit erlebt, mit anderen in Verbindung tritt und so Zugang zu deren Wirklichkeit erlangt. WITTGENSTEIN sagt es bestechend kurz: "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt."


Was dieses Buch will
Dieses Buch will einfache Wege aufzeigen, die es Arzt und Patienten ermöglichen, besser miteinander zu sprechen, als dies meist der Fall ist. Bessere Gespräche bedeuten vom Ergebnis her weniger unbefriedigende und letztlich erfolgreichere Gespräche.

Das Gelingen des befriedigenden Gesprächs zwischen Arzt und Patient ist an 3 Fähigkeiten geknüpft:

  1. mit der richtigen Einstellung an den Patienten heranzutreten, 
  2. sich einer adäquaten Gesprächstechnik zu bedienen und
  3. eine für Arzt und Patient identische Wirklichkeit zu finden.
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, dann ist jene Gesprächsform möglich, an die jede erfolgreiche Medizin gebunden ist: nämlich das verstehende Gespräch.
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992 
© Pharma Verlag Frankfurt 

Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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