Sprechend ist der ganze
Mensch |
gegenwärtig, und
so kann es |
nicht ausbleiben, dass
sich in |
der Sprache alles Menschliche |
bezeugt, niederschlägt
und |
ablagert. Das Menschliche,
das |
Allzu-Menschliche und
auch das |
Unmenschliche. |
Dolf Sternberger
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Bekenntnis - statt eines Vorworts
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Statt zuzuhören, habe ich gesprochen.
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Weil ich die falschen Fragen
gestellt habe, habe ich nicht die richtigen Antworten erhalten.
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Ich habe meine Patienten missverstanden, weil
ich die verschiedenen Botschaften des Sprechens nicht
erkannt oder verwechselt habe.
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Statt Empathie entgegenzubringen, habe
ich mich "professionell" verhalten.
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Statt den Patienten anzunehmen, habe
ich ihn abgewiesen.
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Die Gespräche mit meinem Patienten waren
für beide Teile unbefriedigend, weil ihnen der richtige Anfang,
eine klare Zielsetzung und ein konkreter Abschluss fehlten.
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Ich habe Zeitdruck erzeugt und Zeitdruck
spüren lassen.
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Ich habe angeordnet, statt zu motivieren.
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Ich habe Patienten als sogenannte schwierige
Patienten behandelt.
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Ich habe Ängste verkannt und Ängste
im Gespräch ausgelöst.
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Ich habe nicht verstanden, dass die Wirklichkeit
meines Patienten und meine Wirklichkeit nicht identisch waren.
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Ich habe mir nicht bewusst gemacht, dass die
Sprache
das wichtigste Instrument des Arztes ist.
Kurzum: Ich habe mich verhalten wie viele
meiner Kollegen. Damit habe ich Chancen vertan, Hoffnungen enttäuscht
und mich selbst um einen Teil der Früchte meiner Arbeit betrogen.
Heute weiß ich, dass das richtige Gespräch zwischen Arzt und
Patient nahezu alles bewegen kann und sich ohne das richtige Gespräch
fast nichts bewegt. Dieses Buch ist der persönliche Versuch, die Wege
zum richtigen Gespräch zwischen Arzt und Patient aufzuzeigen.
Wir reden von Kommunikation,
aber was wir wirklich brauchen, sind Menschen, die mit uns lachen und weinen,
denen wir unsere Alpträume erzählen können ...
Und mehr als alles brauchen
wir jemanden, mit dem wir reden können.
Katharina Zimmer,
in DIE ZEIT
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Mir ist schon immer aufgefallen,
dass es keine wissenschaftliche Arbeit über die Sprache der Kranken
gibt.
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Einleitung
Dass Arzt und Patient miteinander sprechen,
ist scheinbar die selbstverständlichste Sache der Welt. Ist nicht
ein ganzes Buch zum Thema "Arzt und Patient im Gespräch" ein überflüssiges
Buch? Bevor ich die Frage beantworte, möchte ich den Leser an einer
Vision teilnehmen lassen.
Ein Arzt betritt wortlos ein Krankenzimmer.
Im Bett liegt ein endsechzigjähriger abgemagerter Mann, der den Arzt
erwartungsvoll ansieht. Der Arzt macht den rechten Arm des Patienten frei,
legt die Staubinde an, punktiert eine Vene, führt einen Venenkatheter
ein, hängt eine Infusionsflasche an und stellt eine bestimmte Tropfenzahl
ein. Er vergewissert sich, dass die Infusion richtig läuft, dann geht
er - wortlos, wie er gekommen ist - zur Tür. Diese gespenstisch anmutende
Szene wird noch beklemmender, wenn man die Vision weiterverfolgt: Bevor
der Arzt die Tür erreicht, richtet sich der Kranke mühsam auf
und fragt: "Entschuldigung, Herr Doktor, darf ich fragen, was Sie da gemacht
haben?" Der Arzt dreht sich um und antwortet mit unbewegtem Gesicht: "Sie
haben Lungenkrebs, und ich habe Ihnen eine Fusion zur Behandlung Ihrer
Krebserkrankung angelegt."
Die Mehrzahl der Leser wird diese Vision
für absurd halten. Wer wird einem Krebskranken eine Infusion mit Chemotherapeutika
anlegen, ohne ihm zu sagen, welche Erkrankung vorliegt, was das Behandlungsziel
ist, mit welchen Nebenwirkungen gerechnet werden muss und wie die Erfolgsaussichten
sind? Und welcher Arzt wird in einer derart komprimierten Form ohne Wenn
und Aber einem Kranken eröffnen, dass er soeben begonnen hat, ihn
wegen einer Erkrankung zu behandeln, die mit Wahrscheinlichkeit in Kürze
tödlich verläuft?
Woraus resultiert das Gespenstische und
scheinbar Absurde dieser Vision? Die Antwort ist einfach: Im 1. Teil der
Vision wirkt das gesamte Szenario deshalb so beklemmend und unbegreiflich,
weil zwischen Arzt und Patient kein einziges Wort gefallen ist. Es ist
die Vision einer absolut sprachlosen Medizin. Sie steht für
das Unbehagen, das uns angesichts der Verdrängung der Sprache durch
Technik in der heutigen Medizin befällt und das Paul LÜTH folgendermaßen
beschreibt: "Wo unsere moderne Medizin erfolgreich ist, in den schweren
Fällen, ist sie stumm. Das Wort ist Schnörkel, Beilage, jedenfalls
kein genuiner Bestandteil der Therapie. Die Therapie ist averbal. Das erzeugt
das Unbehagen an der modernen, der erfolgreichen Medizin."
Aber auch der 2. Teil der Vision wirkt
bedrückend, und dies letztlich aus dem gleichen Grund: Auch hier hat
ein ärztliches Gespräch nicht wirklich stattgefunden. Was stattgefunden
hat, ist ein Kommunikationsvorgang, der gegen alle elementaren Regeln des
Gesprächs zwischen Arzt und Patient verstößt und - wenn
es diesen Begriff gäbe - am zutreffendsten als "Ungespräch" zu
bezeichnen wäre.
Natürlich stellt sich die Frage: Ist
diese Vision nicht völlig absurd und eigentlich im ärztlichen
Alltag undenkbar? Fakten und eine kurze Auswahl authentischer Beispiele
sind möglicherweise die beste Antwort - auch auf die Frage, ob ein
Buch über Arzt und Patient im Gespräch ein überflüssiges
Buch ist.
1. Beispiel (oder: Kommt der Patient zu
Wort?):
Die amerikanischen Soziologen Dr. Howard
BECKAN und Richard FRANKEL von der Wayne State Medical School in Detroit
analysierten 74 heimlich mit der Videokamera aufgenommene Praxisgespräche.
Ergebnis: Im Durchschnitt wurde jeder Patient schon nach 18 Sekunden vom
Arzt im Gespräch unterbrochen. Nur ein Viertel der Patienten schaffte
es überhaupt, die Schilderung ihrer Beschwerden bis ans Ende zu führen.
2. Beispiel (oder: Warum sind Patienten
mit ihrem Arzt unzufrieden?) :
Der Lehrbeauftragte für "Humanität
in der Medizin" an der Universität Los Angeles, Dr. Norman COUSINS,
ist der Frage nachgegangen, welche Gründe Patienten dazu bewegen,
ihren Arzt zu wechseln. Befragt wurden 1000 Patienten, die innerhalb von
5 Jahren ihren Arzt gewechselt hatten oder es in nächster Zeit tun
wollten. 563 der 1000 verschickten Fragebogen kamen zurück. Hier eine
Auswahl typischer Begründungen für den Arztwechsel: "Ich hatte
den Eindruck, mein Arzt wollte meine Beschwerdeschilderung gar nicht hören,
er schien es sehr eilig zu haben, mich an die Apparatemedizin weiterzuleiten."
"Ich verstand gar nicht, was mir der Doktor erklärte, und war zu verwirrt
und ängstlich, Fragen zu stellen." Die Kunst des Anhörenskönnens
ist für den Arzt wichtiger als das Sprechen."
3. Beispiel (oder: Die Fähigkeit,
mit Angehörigen zu sprechen) :
Der Rat eines Krankenhausarztes (im Jahre1985)
an die Ehefrau eines Patienten mit multipler Sklerose lautete im Hinblick
auf die zu erwartenden Potenzschwierigkeiten:
"Ihr Mann hat MS, Sie sollten sich scheiden
lassen!" (G.H. SEIDLER).
4. Beispiel (oder: Sind EDV-Anlagen bessere
Gesprächspartner?) :
Das St. Silicons Hospital in Cleveland/Ohio
ist auf keinem Stadtplan verzeichnet. Es ist nämlich kein Krankenhausgebäude,
das man aufsuchen kann, sondern ein Computersystem, bei dem Patienten um
Rat fragen können. Es beantwortet Fragen wie: "Gibt es verschiedene
Arten von Brustkrebs?", "Was ist Herzflimmern?", "Hilft eine Schockbehandlung
bei Schizophrenie?" In den USA können Patienten Fragen in ihren Heimcomputern
eintippen und erhalten Antworten vom "Fachmann"; vom "Doc in the Box".
Dieses Programm, das Privatpersonen gegen eine geringe Gebühr zur
Verfügung steht, wurde von der Western Reserve Medical School in Cleveland
entwickelt. Der Patient richtet seine Fragen direkt an das Informationssystem,
wo sie zunächst elektronisch gespeichert werden. Ärzte gehen
mehrmals am Tage den aktuellen Katalog durch, formulieren Antworten und
schicken sie auf elektronischem Weg zurück an den Fragesteller. Mittlerweile
sind über 700 typische Fragen in dem System gespeichert.
Thomas GRUDNER, Entwickler des Programms,
betont, dass das Computersystem in keinem Fall den Arztbesuch ersetzen
soll. Es bietet lediglich persönliche Tipps und keine echte Diagnose.
Allerdings betont GRUDNER auch, dass Patienten über den Computer häufig
Fragen stellen, die sie in der Arztpraxis nicht stellen würden. GRUDNER:
"Wir lernen daraus, in Zukunft besser auf den Patienten einzugehen".
5. Beispiel (oder: Ist es schwierig, zwischen
Arzt und Patient eine gemeinsame Wirklichkeit aufzubauen?) :
In ihrem Buch "Gespräche gegen die
Angst" beschreibt die1983 an Krebs verstorbene Professorin für Psychologie
Anne-Marie TAUSCH folgende Begebenheit: Eine Patientin, die darüber
klagte, dass ihr durch die Chemotherapie die Haare ausfielen, bekam von
ihrer Ärztin folgende Antwort: "Ist denn Haarverlust ein Ich-Verlust?
Das verstehe ich gar nicht, dass das Ich so in den Haaren liegt."
6. Beispiel (oder: Ein Exempel des Umgangs
mit Krebspatienten?) :
Anne-Marie TAUSCH beschreibt in ihrem Buch,
wie sie selbst über ihre Krebserkrankung aufgeklärt wurde: "Auch
mir wurde die Diagnose Krebs im Krankenhaus mitgeteilt. Die Ärztin
kam zu der üblichen Visite und berichtete kurz von dem Ergebnis der
histologischen Untersuchung. Dann begann sie sofort über die Behandlung
zu reden. Sie stand am Fußende meines Bettes, nicht neben mir. Dann
streckte mir die Schwester, die die Ärztin bei der Visite begleitete,
wortlos das Fieberthermometer hin. Für sie war nur wichtig, meine
Temperatur vorschriftsmäßig zu messen. Ich spürte deutlich,
dass beide kaum an meinem Schmerz Anteil nahmen.
Gerade diese Szene aus dem klinischen Alltag
steht exemplarisch für nahezu alle Fehler und Todsünden, die
im Gespräch zwischen Arzt und Patient begangen werden können:
Eine schicksalsentscheidende Diagnose wird der unvorbereiteten Patientin
in knappen Worten ohne erkennbare Anteilnahme mitgeteilt. Das Gespräch
ist völlig asymmetrisch, nur die Ärztin spricht, Die Patientin
kommt gar nicht zu Wort, obwohl die Eröffnung der Krebsdiagnose eine
Fülle drängender Fragen aufwirft. Daneben läuft - sozusagen
auf einer anderen Wirklichkeitsebene - das Ritual pflegerischer Maßnahmen
ab. Statt menschlicher Zuwendung zu erfahren, wird die Patientin aufgefordert,
die Körpertemperatur zu messen. Die Ärztin geht räumlich
auf Distanz und signalisiert so auch durch die Körpersprache ihre
Abwehr oder Unfähigkeit, sich auf ihre Patientin einzulassen.
Natürlich sind einige dieser Beispiele
Extreme und wurden nicht deshalb ausgewählt, weil sie häufige
Situationen widerspiegeln, sondern weil sie die grundsätzliche Problematik
von Kommunikationsstörungen zwischen Arzt und Patient in besonders
scharfem Licht erkennen lassen. Die Mehrzahl problematischer Gespräche
zwischen Ärzten und ihren Patienten verlaufen viel undramatischer
- allerdings nur bei vordergründiger Betrachtung. Die Ausleuchtung
der Hintergründe lässt erkennen, dass es sich aus der Perspektive
des Patienten um alles andere als belanglose Dinge handelt. Diese Gespräche
sind nun tatsächlich an der Tagesordnung.
Ein besonders anschauliches Beispiel dafür
gibt A. BENJAMIN in seinem Buch "The Helping Interview" (2. Aufl.1974):
" ,Warum haben Sie die Tabletten denn nicht genommen? Habe ich Ihnen nicht
gesagt, wie wichtig es ist, dass Sie sie nehmen?‘ Dabei kämpfte Frau
Bell mit den Tränen. Sie wusste, dass es der Arzt gut meinte, sie
wusste auch, dass er viel zu tun hatte und wie lange es dauern würde,
wenn sie versuchen wollte, ihm zu erklären, warum. Sie wusste zwar
genau, warum sie die Tabletten nicht genommen hatte. Sie wusste zwar nicht,
ob das richtig oder falsch war; aber das kümmerte sie letztlich nicht.
Sie wusste, dass es ihr ziemlich gleichgültig war, ob sie wieder gesund
würde. In Wirklichkeit kümmerte man sich mehr um sie, wenn sie
krank war. Sie wusste manches - über ihre Kinder und deren Kinder
und wie man sie in dieses Heim gesteckt hatte. Und über dieses Heim
... Darüber wusste sie auch eine Menge. Aber der Doktor wollte wissen,
warum sie die Tabletten nicht genommen hatte, und darum sagte sie schnell:
‚Ich nehme sie von jetzt an, Herr Doktor. Sie werden sehen.‘ Der Doktor
war zufrieden. Er lächelte, gab ihr zum Abschied die Hand und machte
ihr die Tür auf. In Wirklichkeit wollte er gar nicht wissen, warum.
Er wollte nur, dass sie ihre Medizin einnahm.
Er mochte die alte Dame, aber er war viel
zu beschäftigt, um noch mehr Zeit für sie aufzuwenden ..."
Kommunikationsstörungen zwischen Arzt
und Patient sind so alt wie die Medizin selbst, denn das Miteinander-Sprechen
beinhaltet grundsätzlich auch das Einander-Missverstehen. Im Gespräch
zwischen Arzt und Patient gewinnt das Missverständnis allerdings eine
besondere Bedeutung und Tragweite. Mit dem ständig wachsenden technischen,
pharmakologischen und wissenschaftlichen Potential der Medizin wächst
auch die Gefahr tiefgreifender Kommunikationsstörungen. Professionalität
und Spezialisierung nehmen in allen Sparten der Medizin immer stärker
zu. In der Fähigkeit mit dem Patienten zu sprechen, kommen viele Ärzte
aber kaum über den Status des Amateurs oder Autodidakten hinaus. Selbstverständlich
gibt es auch unter den Ärzten auf dem Gebiet der Gesprächsführung
Naturtalente. Aber Profis haben Seltenheitswert.
In seinem Buch "Die ärztliche Visite
- Chance zum Gespräch" (1986) nennt Thomas BLIESENER eine wesentliche
Ursache der Verständigungsprobleme von Ärzten im Umgang mit ihren
Patienten: "Wer Computer, Wertpapiere oder Betablocker verkaufen will,
erhält gewöhnlich ein besseres Training in Gesprächsführung
als ein Arzt, der einem Patienten bei der Genesung helfen möchte.
Es gibt hochspezialisierte professionelle Redetrainings für Vertreter
und Referenten aller Produktbereiche. Für den Arzt gibt es eine solche
Redeschulung nicht. Der Arzt bleibt mit seinen Problemen in der Gesprächsführung
weitgehend allein."
Das Ritual des kurzen, sachlich-freundlichen,
anscheinend völlig unproblematischen Gesprächs, das täglich
unzählige Male in der Sprechstunde oder während der Visite abläuft,
überdeckt besonders leicht die in Wirklichkeit bestehende grundlegende
Kommunikationsstörung zwischen Arzt und Patienten. Dazu M. HERTL:
"Wie oft induziert ein Arzt beim Patienten das Gefühl, er müsse
auf die Frage "Wie geht es?" nur schnell und kurz "gut" antworten, um den
geplagten Arzt nicht in Unannehmlichkeiten zu bringen. Denn würde
er wahrheitsgemäß sagen, es gehe ihm schlecht, müsste der
Arzt insistieren, weiterfragen, erwägen, eine Hilfe suchen, und ob
dieser Arzt in seiner Eile dabei noch guter Laune bleibt, wenn ihn der
Patient so in Anspruch nimmt, das möchte so mancher Kranke bezweifeln.
Es spielt sich also leicht in den Gesprächen zwischen Arzt und Kranken
eine Begegnungsform ein, die nur oberflächlich die Merkmale einer
freundlichen Kommunikation hat, in der Tiefe aber ohne Wahrheit und ohne
Erfolgsaussichten ist."
"Für das Gespräch gibt es keinen
Ersatz" - in einem Essay mit diesem Titel setzt sich Wolfgang CYRAN kritisch
mit der Verführung der Medizin durch die Technik und den daraus resultierenden
Folgen auseinander: "In dem Bemühen um ausschließliche Objektivierung
wird über den von Apparaten und Labortests gelieferten Befunden vergessen,
dass das Leben objektiv und subjektiv zugleich ist. Nicht nur in der Medizin
führt diese Illusion einer objektiven Wissenschaftlichkeit zu destruktiven
und dehumanisierenden Ergebnissen, weil alles Subjektive und Emotionale
als unwichtig betrachtet wird ... Bei der Diagnose von Störungen der
Körperfunktion darf das mechanistische Maschinenmodell auch deshalb
nicht zugrunde gelegt werden, weil es dazu verführt, Daten allzu unbekümmert
zu gewinnen. Dieses in der Physik des 19. Jahrhunderts entstandene Maschinenmodell
wird kurioserweise in der Medizin beibehalten, obwohl die moderne Physik
längst bei ganz anderen Positionen angelangt ist. Das liegt sicherlich
zu einem großen Teil eben auch an der Technisierung der Medizin;
aus alldem folgt einerseits die emotionale Sprachlosigkeit des Arztes und
andererseits die Not des Kranken."
Warum Gespräche misslingen
Das unbefriedigende Gespräch zwischen
Arzt und Patient ist keine Ausnahme, sondern bei selbstkritischer Betrachtung
an der Tagesordnung. Kenner der Materie, wie Thomas BLIESENER, nennen beispielsweise
die Visite schlichtweg einen "verhinderten Dialog". Praktisch alle Kommunikationsstörungen
in der Medizin lassen sich auf 3 Grundursachen zurückführen:
-
Nichterkennen, dass das Gespräch
das wichtigste Instrument des Arztes ist.
-
Mangelhafte Gesprächstechnik.
-
Störungen des Arzt-Patienten-Verhältnisses.
Aus diesen 3 Ursachen lässt sich die
lange und mit Sicherheit nicht vollständige Liste der Gründe
ableiten, die zum Misslingen von Gesprächen zwischen Arzt und Patient
führen:
-
verfehlter Gesprächsbeginn,
-
unzureichende Strukturierung des Gesprächs,
-
fehlender Gesprächsabschluss,
-
Unfähigkeit, aktiv zuzuhören,
-
unverständliche oder missverständliche
Sprache,
-
unangemessener Gesprächsrahmen (Ort,
Zeitpunkt, Umstände des Gesprächs),
-
verschwommene Diktion (als Ausdruck verschwommener
Begriffe),
-
Zulassen von "Gesprächsstörern",
Nichtbenutzen von "Gesprächs-Förderern",
-
Verwendung von Verallgemeinerungen, kommunikativen
Unverbindlichkeiten und sogenannten "Killerphrasen",
-
Nichterfassen der verschiedenen Botschaften
einer Nachricht,
-
Abweisungsstrategien (Hinhalten, Leerlaufenlassen,
Überfahren, Bagatellisieren, Verlagern, Nichtbeachten),
-
Reglementieren statt Motivieren,
-
Induzieren von Ängsten,
-
Einstufung des Gesprächspartners als
"schwierig",
-
fehlende Metakommunikation,
-
Unfähigkeit, eine gemeinsame Wirklichkeit
aufzubauen.
Viele Ärzte sind sich nur unterschwellig
bewusst, dass ihre Gespräche unbefriedigend verlaufen, unbefriedigend
für den Patienten und unbefriedigend für sie selbst. Unbefriedigend
für den Patienten, weil er sich mit seinem Problem, seiner
Situation oder seinem Konflikt nicht verstanden oder angenommen fühlt.
Weil er spürt, dass der Arzt seine Krankheit anders versteht, als
er sie selbst erlebt, dass seine Welt und die des Arztes nicht die gleichen
sind. Der
Arzt bleibt ebenso unbefriedigt zurück, weil er sich
mit
seiner Sicht der Krankheit seines Patienten offenbar nicht wirklich
verständlich machen konnte, denn: Der Patient folgt ihm nicht oder
nur unzureichend, er sträubt sich gegen offensichtlich sinnvolle Untersuchungs-
und Behandlungsmaßnahmen, seine Therapietreue lässt zu wünschen
übrig. Diese Gespräche ermüden und erschöpfen den Arzt,
machen ihn lustlos und aggressiv, denn auch er erkennt oder spürt
zumindest untergründig, dass die Wirklichkeit seines Patienten
und seine Wirklichkeit nicht identisch sind. Dann empfindet er das
Sprechen als Last, eine Bürde, die ihm tagtäglich aufgeladen
wird und mit der er sich über die Runden schleppen muss. Und es bleibt
ihm die Einsicht verschlossen, dass die Sprache sein wichtigstes Instrument
ist, dass Sprechen und Gesprochenes zu hören und zu verstehen ein
einzigartiges Privileg des Menschen ist, dass eine Medizin, die sich nicht
aller Möglichkeiten der sprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikation
bedient, immer unzulänglich bleiben muss, dass eine sprachlose
Medizin letztlich eine inhumane Medizin ist.
George ORWELLS Roman "1984" enthält
eine glänzende Darstellung der Macht der Sprache am Beispiel der Manipulation
durch Sprache:
"Der Wortschatz der Neusprache war so konstruiert,
dass jeder Mitteilung, die ein Parteimitglied berechtigterweise machen
wollte, eine genaue und oft sehr differenzierte Form verliehen werden konnte,
während alle anderen Inhalte ausgeschlossen wurden, ebenso die Möglichkeit,
etwa auf indirekte Weise das Gewünschte auszudrücken. Das wurde
teils durch die Erfindung neuer, hauptsächlich aber durch die Ausmerzung
unerwünschter Worte erreicht und indem man die übriggebliebenen
Worte so weitgehend wie möglich jeder unorthodoxen Nebenbedeutung
entkleidete. Ein Beispiel hierfür: Das Wort frei gab es zwar
in der Neusprache noch, aber es konnte nur in Sätzen wie ,dieser Hund
ist frei von Flöhen’ oder ,Dieses Feld ist frei von Unkraut’ angewandt
werden. In seinem alten Sinn ,politisch frei’ oder 'geistig frei' konnte
es nicht gebraucht werden, da es diese politische und geistige Freiheit
nicht einmal mehr als Begriff gab und infolgedessen auch keine Bezeichnung
dafür vorhanden war."
Syme sagt zur Hauptfigur des Romans, Winston
Smith: "Siehst du denn nicht, dass die Neusprache kein anderes Ziel hat,
als die Reichweite des Gedankens zu verkürzen? Zum Schluss werden
wir Gedankenverbrechen buchstäblich unmöglich gemacht haben,
da es keine Worte mehr gibt, in denen man sie ausdrücken könnte.
Jeder Begriff, der jemals benötigt werden könnte, wird in einem
einzigen Wort ausdrückbar sein, wobei seine Bedeutung streng festgelegt
ist und alle seine Nebenbedeutungen ausgetilgt und vergessen sind ... Mit
jedem Jahr wird es weniger und immer weniger Worte geben, wird die Reichweite
des Bewusstseins immer kleiner und kleiner werden."
"Das Sprechen" so sagt der große
amerikanische Linguist Benjamin Lee WHORF, "ist die beste Leistung des
Menschen. Es ist ganz eigentlich sein ,Akt’ auf der Bühne der Evolution,
in welchem er vor der Kulisse des Kosmos tritt und wirklich seine Rolle
spielt."
Die Sprache ist das Bezugssystem,
in dem der Mensch denkt, in dem er seine eigene Wirklichkeit erlebt, mit
anderen in Verbindung tritt und so Zugang zu deren Wirklichkeit erlangt.
WITTGENSTEIN sagt es bestechend kurz: "Die Grenzen meiner Sprache sind
die Grenzen meiner Welt."
Was dieses Buch will
Dieses Buch will einfache Wege aufzeigen,
die es Arzt und Patienten ermöglichen, besser miteinander zu sprechen,
als dies meist der Fall ist. Bessere Gespräche bedeuten vom Ergebnis
her weniger unbefriedigende und letztlich erfolgreichere Gespräche.
Das Gelingen des befriedigenden Gesprächs
zwischen Arzt und Patient ist an 3 Fähigkeiten geknüpft:
-
mit der richtigen Einstellung an den
Patienten heranzutreten,
-
sich einer adäquaten Gesprächstechnik
zu bedienen und
-
eine für Arzt und Patient identische
Wirklichkeit
zu finden.
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, dann
ist jene Gesprächsform möglich, an die jede erfolgreiche Medizin
gebunden ist: nämlich das verstehende Gespräch.
Linus
Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage,
Frankfurt a. Main, 1992
©
Pharma Verlag Frankfurt
Autorisierte
Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de
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